Caritas-Präsident Neher: Migration geht uns alle an
Dies werde auch Thema bei der Delegiertenversammlung des Caritasverbands sein, die von Dienstag bis Donnerstag in Freiburg tagt, so Neher im Interview mit Radio Vatikan. „Flüchtlingspolitik kann nicht sein, Menschen zu verschrecken." Es müsse Wege für legale Migration und gezielte Fluchtursachenbekämpfung geben, so Neher.
Die Themen der Delegiertenversammlung
Im großen Bilanz-Interview mit Radio Vatikan spricht der scheidende Caritas-Präsident auch über die Situation bei der Pflege in Deutschland sowie über Klimagerechtigkeit, Kinderarmut in der Bundesrepublik und die Lage in Afghanistan. Die Delegiertenversammlung des deutschen Caritasverbands tagt von 12. bis 14. Oktober in Freiburg in Breisgau und wählt auch den oder die NachfolgerIn von Neher, der nach drei Amtszeiten und 18 Jahren sein Amt als Caritas-Präsident beendet.
Radio Vatikan: Peter Neher, vom 12. bis zum 14. Oktober tagt in Freiburg im Breisgau - und digital - die Delegiertenversammlung des deutschen Caritasverbandes. Welche Themen stehen denn diesmal auf der Tagesordnung?
Peter Neher, Präsident des deutschen Caritasverbandes: Im Wesentlichen sind das natürlich zunächst mal die ganz statuarischen Themen, wie eben die Genehmigung des Geschäftsberichtes, des Vorstands, et cetera. Inhaltlich geht es uns ganz wesentlich darum, bei den Themen Klima und soziale Gerechtigkeit zu gucken: wo stehen wir da als Verband?
Ein wichtiges Thema ist darüber hinaus das Thema Flucht, Vertreibung, europäisches Grenzregime mit spannenden Gesprächspartnern, wie Beate Gminder von der europäischen Kommission oder auch dem Monsignore Michael Landau, dem Präsidenten der Caritas Europa. Darüber hinaus steht dann eben auch die Wahl meiner Nachfolge an. Das ist jetzt dann die dritte Amtszeit, die endet, sodass dann auch eine neue Nachfolge gewählt werden wird.
Klimagerechtigkeit und Pflege
Radio Vatikan: Sie sagten, Klimagerechtigkeit ist ein wichtiges Thema, und da hat sich auch einiges beim Caritasverband getan. Wo, würden Sie sagen, steht die Caritas im Moment?
Peter Neher: Ich denke, wir sind im Moment an unterschiedlichen Stellen. Was die Bundeszentrale angeht, da sind wir, glaube ich, ganz gut aufgestellt, sodass wir da auf dem Weg zur Klimaneutralität ganz gut sind. Was den Verband angeht, ist es natürlich wesentlich komplexer, weil es ja immerhin ca. 7000 eigene Rechtsträger sind, und da haben wir jetzt im letzten Jahr einfach eine Menge von Handlungsschritten erarbeitet: Wie können Sie zum Beispiel ihre Immobilien energetisch sanieren? Welche Möglichkeiten haben Sie für Elektroautos? Es gibt also eine Menge von solchen Maßnahmen.
Der zweite Teil ist die politische Arbeit. Wir haben uns gerade im Hinblick auf die Bundestagswahl sehr stark engagiert, das Thema Klima und soziale Gerechtigkeit zum Thema zu machen. Das geht an bei der Forderung nach einer adäquaten CO2-Bepreisung mit einem Rückerstattungsmechanismus für Menschen, die vor allem eben in wirtschaftlich schwierigeren Situationen leben, bis hin zur Forderung nach dem Abbau von klimaschädlichen Subventionen, wie das Dienstwagenprivileg, oder auch dem Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs. Also das sind so ganz konkrete Maßnahmen, wo wir jetzt auch politisch sehr intensiv in den letzten Monaten gearbeitet haben.
Der Skandal Kinderarmut
Radio Vatikan: Mit Blick auf die neue Regierung, was wünscht sich die Caritas da?
Peter Neher: Also, ich denke, dass die Themen Klima und soziale Gerechtigkeit ganz zentrale Themen sind, um auch die ökologische Wende so voranzubringen, dass breite Schichten der Bevölkerung hier mitgenommen werden. Ein zweiter Punkt ist sicher nach wie vor das Thema Pflege. Wir haben zwar in der letzten Legislaturperiode hier wichtige Weichenstellungen erlebt, insbesondere für die stationäre Pflege, aber dreiviertel der Pflegebedürftigen werden ja zu Hause gepflegt und deswegen ist es ganz dringend notwendig, hier tatsächlich für weitere Entlastungsmöglichkeiten für pflegende Angehörige zu sorgen, Anerkennung von Pflegezeiten in der Rentenversicherung zum Beispiel. Und der dritte Punkt, den ich ansprechen will, ist das Thema Kinderarmut.
Es kann nicht sein, dass Deutschland als doch insgesamt wohlhabendes Land mit diesem Thema weiter so belastet ist, und wir brauchen hier konkrete Maßnahmen, die tatsächlich den einzelnen Familien, für die Kinder, zugutekommen. Und deswegen fordern wir hier sowas wie die Kindergrundsicherung, dass Kinder nicht automatisch in die Armutsfalle laufen, weil sie eben in armen Familien aufwachsen. Wie können wir die Kinder an der Stelle stärken und stützen, das ist eine ganz wichtige Aufgabe, die eine neue Bundesregierung hier tatsächlich zielorientiert und zielgerichtet angehen muss.
Flucht und Migration
Radio Vatikan: Kommen wir zurück zu den Themen der Delegiertenversammlung, die jetzt anstehen. Sie haben als weiteres wichtiges Thema auch den Themenkomplex Flucht und Vertreibung genannt. Was haben sie sich da vorgenommen?
Peter Neher: Wir wollen das Thema zum einen diskutieren und haben dann auch ganz klare Forderungen, die wir an die Politik herantragen wollen. Ich denke, es ist inakzeptabel, dass eine europäische Politik es hinnimmt, dass an ihren Außengrenzen zum einen Menschen in unerträglichen Situationen leben müssen, wenn ich an die Lager auf den griechischen Inseln denke oder wenn ich an das Mittelmeer denke, wo nach wie vor jeden Tag Menschen ertrinken, weil die Europäische Union nicht in der Lage ist, eine gemeinsame Migrationspolitik zu betreiben. Das ist für uns inakzeptabel, das wollen wir zum Thema machen. Darüber hinaus wollen wir natürlich gerade auch die deutsche Bundesregierung hier weiter ermutigen, humanitäre Korridore zu schaffen oder auch den Familiennachzug zu ermöglichen. Wir haben ja in Deutschland die Regelung, dass pro Monat 1000 Familienangehörige nachziehen könnten, was aber an bürokratischen Hürden oft scheitert, ganz zu schweigen davon, dass die Zahl eigentlich grundsätzlich zu niedrig ist, weil es einen höheren Bedarf gibt. Das sind Punkte, die wir, denke ich, einfach noch mal thematisieren wollen.
Außerdem wollen wir auch noch mal die Caritas-Einrichtungen ermutigen, die ja in dem Bereich Migrationsunterstützung und Beratungsdienste sehr, sehr engagiert sind, und hier das zum Thema machen. Dass zum Beispiel Ankerzentren, wie wir es an manchen Orten jetzt haben, die ja gedacht waren, um die Verfahren zu beschleunigen, völlig inadäquat sind sowohl von ihrer Ausstattung als auch von ihrem gesamten Konzept her, das eigentlich stärker danach orientiert ist, praktisch abzuschrecken, das kann keine deutsche und europäische Flüchtlingspolitik sein. Flüchtlingspolitik kann nicht sein, Menschen zu verschrecken, sondern wir müssen ihnen Wege öffnen für legale Migration und gleichzeitig natürlich auch die Fluchtursachenbekämpfung sehr gezielt weiter voranbringen.
Radio Vatikan: Das sind ja alles keine Forderungen und keine Themen, die neu sind. Papst Franziskus hat mehrfach darauf hingewiesen. Er ist nach Lampedusa gereist. Es gibt immer wieder von ihm Appelle, sich besser um Flüchtlinge zu kümmern und sie nicht auszugrenzen. Auch die Caritas ist schon lange aktiv in dieser Richtung, es hat sich bisher aber wenig geändert. Was glauben Sie, wie kann das diesmal klappen, dass sich doch ein bisschen was tut?
Wir brauchen einen langen Atem
Peter Neher: Wir sind sehr dankbar Papst Franziskus gegenüber, dass er dieses Thema immer wieder auf die Tagesordnung setzt und auch den politisch Verantwortlichen zumutet, sich des Themas anzunehmen. Ich glaube, es wird hier nicht einfach einen steilen Durchmarsch an Veränderung geben, und deswegen ist es so, dass wir diese Themen immer wieder neu zu bearbeiten haben und gleichzeitig auch schauen müssen, dass wir Länder - gerade auch in Osteuropa - nicht einfach in die Ecke stellen, sondern uns fragen: Wie können wir auch mit den Caritas-Organisationen in diesen Ländern gemeinsam Brücken bauen? Das ist, glaube ich, der entscheidende Punkt. Es gilt eben, hier einen langen Atem zu haben und sich nicht entmutigen zu lassen, so nach dem Motto, wir haben das jetzt doch schon so lange gefordert und sind schon so lange auf dem Weg. Es ist einfach so und ich glaube, wir haben die Aufgabe, nach wie vor in unseren Ländern hier für eine positive Grundhaltung zum Thema Migration zu sorgen. Und da ist man nie fertig! Deswegen muss es auch immer wieder neu zum Thema werden, weil es tatsächlich mit unserem Evangelium, mit dem Wort von Papst Franziskus zu tun hat. Es ist eine Aufgabe, der wir uns zu stellen haben. Angesichts weltweiter Flüchtlingsströme können wir uns nicht zurücklehnen und sagen, das geht uns nichts an.
Afghanistan: Zwei von 12 Projekten aktuell noch aktiv
Radio Vatikan: Und jetzt haben wir ja zusätzlich auch noch die Lage, die sich zum Beispiel in Afghanistan so stark verschlechtert hat. Ist die Caritas dort eigentlich noch vor Ort aktiv?
Peter Neher: Im Moment sind von zwölf Projekten, die die deutsche Caritas in Afghanistan betreibt, nur zwei tatsächlich in der Lage, ihre Arbeit fortzusetzen. Das ist einmal eine Werkstätte für orthopädische Hilfsmaterialien, also Prothesen und solche Dinge, und das andere ist eine Gesundheitsstation für Tuberkulose und Lepra. Alle anderen können im Moment nicht arbeiten, weil es nach wie vor nicht möglich ist, finanzielle Mittel dorthin zu schaffen, damit dort gearbeitet werden kann. Unser Büroleiter allerdings kann derzeit nicht in Afghanistan arbeiten, wo wir übrigens seit 1984 tätig sind - auch unter der Zeit der Taliban. Es ist klar, dass wir es für dringend notwendig erachten, humanitäre Hilfe zu leisten, aber wir brauchen die Garantie der Sicherheit für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und auch die Garantie, dass Frauen adäquat arbeiten können. Diese Dinge stehen im Moment aus. Ich glaube, die deutsche Bundesregierung ist im Gespräch mit den Verantwortlichen. Wir, wie gesagt, sind jederzeit bereit, dort wieder zu arbeiten, aber es braucht Rahmenbedingungen, die unsere Arbeit absichern.
Was bleibt nach 18 Jahren als Caritas-Präsident
Radio Vatikan: Was bei der Delegiertenversammlung auch noch ansteht und Sie ganz persönlich betrifft, ist die Wahl des neuen Präsidenten oder möglicherweise auch einer neuen Präsidentin, denn Sie geben nach 18 Jahren an der Spitze des größten deutschen Wohltätigkeitsverbands ihr Amt als Caritas-Präsident ab. Peter Neher, wie sieht denn Ihre persönliche Bilanz aus?
Peter Neher: Gut, die ist natürlich immer gemischt, wenn man auf so lange Zeit zurückschaut. Mir war es jedenfalls immer ein großes Anliegen, die deutsche Sozialpolitik und die Situation der Menschen, die in Not sind, aus der Kraft des Evangeliums und im Bewusstsein der katholischen Soziallehre mit zu beeinflussen, mitzugestalten. Ich denke, dass uns das möglicherweise an einigen Punkten gelungen ist, ob das den Arbeitsmarkt angeht oder vielleicht auch das Thema Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit. Anderes ist sicher offengeblieben. Das, was wir auch als deutsche Caritas im Ausland auf den Weg gebracht haben, hat mich immer bei meinen Auslandsbesuchen - ob das in Vietnam war oder in Nordkorea oder in Afghanistan - sehr beeindruckt, und das ist etwas, wovon ich denke, da hat es sich gelohnt, sich zu engagieren. Und dort, wo die Fragestellungen weiter da sind, wie zum Beispiel Kinderarmut oder die Fragen soziale Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Zusammenhalt, das wird nie ein für alle Mal zu bearbeiten sein. Insofern wird das immer eine große Aufgabe bleiben für jeden, der hier Verantwortung trägt mit großem Engagement, langem Atem. Ich glaube, das ist notwendig und steht uns als Christen gut an, darauf zu vertrauen, dass letztlich Gott es ist, der die Dinge voranbringt und bewegt, und ich habe mich gerne in diesen Dienst gestellt.
Die Fragen stellte Stefanie Stahlhofen
(vatican news)
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