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16 Jahre Kanzlerin: „Merkel weiß, dass der Mensch nicht letzte Instanz ist"

Abschied von Angela Merkel als deutscher Kanzlerin: Am Donnerstag ist Großer Zapfenstreich, zum Schluss wird auf Wunsch der gläubigen Protestantin „Großer Gott wir loben dich“ gespielt. Was war das ausdrücklich Christliche an der Politik der aus Ostdeutschland stammenden CDU-Kanzlerin? Und wie kam ihr guter Draht zu Papst Franziskus zustande? Wir sprechen mit dem Merkel-Biografen Volker Resing, Chefredakteur der katholischen Zeitschrift „Herder Korrespondenz“.

Gudrun Sailer - Vatikanstadt

Angela Merkel hat sich für den Zapfenstreich bei ihrer Verabschiedung als letztes von drei Liedern „Großer Gott wir loben dich“ gewünscht. Was sagt das über die scheidende Kanzlerin aus?

Volker Resing: Zunächst mal, dass sie Musik liebt und gerne singt! Angela Merkel ist auch eine gläubige Christin, eine im Protestantismus verwurzelte Christin. Sie hat immer wieder gesagt, dass sie die Politik nur machen kann, weil sie sich getragen fühlt im Glauben und weil sie weiß, dass der Mensch nicht die letzte Instanz ist, sondern dass es eine andere Dimension gibt, einen Gott, den wir als ansprechbar empfinden. Und diesem Gott zu danken für das Geleistete, für das Getragensein, ist sicherlich auch Ausdruck dieses Liedwunsches.  

„Es ist ein Gottesbezug, der wenig mit persönlicher Emotion oder mit öffentlichem Bekenntnis zu tun hat“

16 Jahre Regierungsverantwortung in Deutschland aus dem Rückspiegel: Wie sehr hat die Herkunft aus einem evangelischen Pastorenhaushalt Frau Merkels Politik geprägt?

Volker Resing: Ich würde sagen, dass Angela Merkel eine preußische Protestantin ist. Dieser Protestantismus ist geprägt von einem Pflichtgefühl und einem Zurücknehmen des Persönlichen. Es ist ein Gottesbezug, der wenig mit persönlicher Emotion oder mit öffentlichem Bekenntnis zu tun hat. Das war sicher auch die Irritation am Anfang ihrer Kanzlerschaft, wo es im katholischen Milieu ein Fremdeln gab aus verschiedenen Gründen. Deshalb muss man bei der Frage, wie ihr Glaube ihre Politik geprägt hat, auf eine andere Ebene gehen, und die lässt sich sicher mit Werthaltung beschreiben und mit Begriffen wie Rückgebundenheit auf Grundauffassungen, die sie tragen, und vielleicht ist ein wichtiges Charakteristikum ihrer Kanzlerschaft diese Zurückgenommenheit, das wenig auf die eigene Person Schauende. Das würde sie sicherlich auch mit ihrem Glauben begründen.

„Sie ist eigentlich immer noch die ungewöhnlichste Politikerin in Deutschland und Europa“, sagten Sie mal in einem Interview über Frau Merkel. Wie meinen Sie das?

Volker Resing: Ich bin mir nicht sicher, ob ich ungewöhnlich oder unwahrscheinlich gesagt habe, beides trifft zu. Die unwahrscheinlichste Spitzenpolitikerin und Kanzlerin Deutschland ist sie, weil sie erst mit 35 Jahren in die Politik eingestiegen ist. Aufgewachsen ist sie in einem anderen politischen System, in einem anderen Land, wenn man so will. Sie ist als Fremde im bundesrepublikanischen System aufgestiegen und hat diese unwahrscheinliche und ungewöhnliche Karriere gemacht. Und das Ungewöhnliche liegt auch darin, dass sie so häufig quer stand zu dem, was man erwartet hätte in dieser CDU und dieser bundesrepublikanischen Politikwelt. Eine Frau, die nicht auf Selbstdarstellung Wert legt, eine Politikerin, die von persönlichen Skandalen völlig frei ist und nicht dafür bekannt ist, besonders markante Positionen einzunehmen.

"Sie kennen mich": Die typische Handhaltung der Kanzlerin, die sogenannte "Merkel-Raute"
"Sie kennen mich": Die typische Handhaltung der Kanzlerin, die sogenannte "Merkel-Raute"

„Angela Merkel kennt den Lebenszusammenhang von gläubigen Menschen, weil sie ihn teilt.“

Aus Ihrer Sicht als katholischer Biograf der evangelischen Kanzlerin: Was wird den Kirchen in Deutschland fehlen, wenn Angela Merkel ihren Dienst beendet hat?

Volker Resing: Den beiden Kirchen wird eine Ansprechpartnerin fehlen, die in der Kirche, ihrer evangelischen Kirche, stark verwurzelt ist. Ihr Nachfolger [Olaf Scholz] wird das nicht bieten können. Angela Merkel kennt den Lebenszusammenhang von gläubigen Menschen, weil sie ihn teilt.

Hier zum Hören:

Angela Merkel wurde im November 2005 Bundeskanzlerin. In Rom war damals noch ziemlich frisch ihr Landsmann Papst Benedikt XVI. im Amt, 2013 kam der Argentinier Papst Franziskus. Wie würden Sie die Beziehungen der deutschen Regierungschefin mit beiden Päpsten charakterisieren?

Volker Resing: Das ist wirklich eine ungewöhnliche Konstellation gewesen 2005: die ostdeutsche Protestantin wird Bundeskanzlerin, und der bayerische Katholik wird Papst. Angela Merkel und Papst Benedikt haben sich kennengelernt und sicherlich nicht sofort den nahen Draht zueinander gehabt, es gab da auch die schwere Krise um die Piusbrüder und die Debatte um die Aufhebung der Exkommunikation, wo sie damals scharf reagiert hat. Aber es gab auch Phasen der Annäherung. Sicherlich hat Angela Merkel den Besuch von Papst Benedikt in Deutschland 2011 sehr geschätzt, auch dass er in die neuen Bundesländer gefahren ist. Das Gespräch in Wittenberg im Augustinerkloster war ein wichtiges Signal dieses Papstes in Deutschland und für die Protestantin Angela Merkel ein beeindruckendes Zeichen. Diese beiden Persönlichkeiten hatten dann sicher eine Wertschätzung füreinander – aber nicht eine persönliche Nähe.

„Fünf Mal in Privataudienz“

Die ergab sich eher mit Papst Franziskus. Woran lag das?

Volker Resing: Es ist überraschend, dass bei den beiden ein persönlicher Draht entstanden ist, der sicher vor allem durch die Diskussion am Anfang in der Flüchtlingskrise entstanden ist. Papst Franziskus hat ja diesen ersten Besuch auf Lampedusa gemacht und Europa gerufen, helft hier den leidenden Menschen. Angela Merkel hat auch früh erkannt, dass Italien zu wenig geholfen wurde. In der Zuspitzung von 2015, wo sie für ihre Haltung, Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, starke Kritik auch in Europa bekommen hat, hat Franziskus sehr deutlich hinter ihr gestanden und ihr zugesprochen. Das hat sie nicht vergessen, und das hat glaube ich die Beziehung zwischen beiden bestärkt. In der Diskussion um Klimaschutz hat sich das nochmals gezeigt: ein weiteres Thema, wo beide an einem Strang ziehen. So haben die beiden sich so häufig getroffen wie sonst Kanzler und Päpste nie zusammenkommen. Fünf Mal in Privataudienz. Zuletzt haben sie dieses Jahr gemeinsam am Friedensgebet von S. Egidio teilgenommen, was schon ein ungewöhnliches Signal war: Angela Merkel als einzige Regierungschefin Europas war dabei, neben dem Papst, bei diesem Friedensgebet. Das zeigt ihre besondere Nähe.

 

Die Kanzlerin war auch mehrmals offiziell in Assisi, sie wurde dort 2018 mit der Friedenslampe der Franziskaner geehrt und kam auch ein Jahr später, um die Lampe dem neuen Preisträger, dem König von Jordanien, weiterzugeben. Es war offensichtlich, dass sie gern nach Assisi kam. Wieso?

Volker Resing: Sie hat gemerkt, sie kann mit dieser Sprache, mit der katholischen Welt etwas anfangen. Es hat auch mit ihrer politischen Einstellung zu tun, das die Franziskaner hier gewürdigt haben, und es hat bei ihr sicherlich auch damit zu tun, dass hier eine Sympathie entstanden ist für das Wirken der katholischen Kirche, in den Orden, in den Gemeinschaften, das sie vielleicht früher gar nicht so kannte. Hier wurde eine Fremdheit abgebaut und ist eine Nähe entstanden.

Angela Merkel, die Mauer und der geduldige Einsatz für Frieden

In Assisi hat Angela Merkel, was sie öffentlich selten tat, etwas Persönliches erzählt, und zwar über die Berliner Mauer, wie sie als junge berufstätige Frau in Berlin jeden Abend daran vorbeiging und nie gedacht hätte, dass die mal weg sein würde – und dann ist die Mauer 1989 friedlich gefallen. Nach Assisi hat Frau Merkel auch ein Stück dieser Mauer als Geschenk mitgebracht, als Zeichen, dass man lange und hartnäckig an friedlichen Veränderungen arbeiten muss, auch wenn man glaubt, dass man sie selber nicht mehr erlebt. Welches Stück vom Frieden hinterlässt Angela Merkel nach diesen 16 Jahren?

Volker Resing: Das ist eine schöne Geschichte. Angela Merkel hat selbst gesagt, was sie hinterlassen möchte: das Bewusstsein dafür, dass Friedensarbeit, das Ringen um eine friedlichere und gerechtere Welt, einen langen Atem braucht. Es braucht Geduld und das Bewusstsein, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Denn natürlich haben wir in der Ukraine und jetzt an der Grenze zu Belarus dramatische Entwicklungen, die Konzentration russischer Truppen an den Grenzen zu den Nato-Ländern macht sicherlich Angst. Entwicklungen wie diese zeigen, dass Angela Merkel nicht eine friedliche Welt hinterlassen konnte, aber sie hinterlässt das Bewusstsein, dass man auch in schweren Krisen die Gesprächsfäden nicht abreißen lassen darf. Sie hat trotz Kritik mit Lukaschenko gesprochen, trotz Kritik das Gespräch mit dem russischen Präsidenten Putin gesucht. Nur in immer wieder neuen Versuchen zur Zusammenarbeit und zum Dialog liegt der lange und steinige Weg zum Frieden, in diesem Bewusstsein liegt sicherlich ihr Vermächtnis.

(vatican news)

 

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30. November 2021, 15:51