D: Ex-Bundesjustizministerin verurteilt Hass und Hetze
DOMRADIO.DE: „Unsere gefährdete Demokratie“ heißt das Buch, das Sie gemeinsam mit der Kollegin Gunnar Wendt geschrieben haben und das diese Woche veröffentlicht worden ist. Wenn Sie eine Einschätzung dieser Gefahr vornehmen müssten, in einem Satz: Wie sehr ist die Demokratie in Gefahr?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP-Politikerin, ehem. Bundesjustizministerin): Sie ist substanziell, denn sie geht an diejenigen, die unsere Demokratie repräsentieren und von daher ist die Gefahr groß.
DOMRADIO.DE: Also die Demokratie ist nicht nur in Gefahr, sondern auch wir?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, wir sind insofern in Gefahr, weil wir ja Teil der Demokratie sind. Von uns lebt sie. Wie der Bundespräsident richtig sagt, von der Mehrheit derjenigen, die sie ja stützen soll. Aber die müssen sich auch zeigen. Wir dürfen nicht nur zuschauen.
DOMRADIO.DE: Sie haben Erfahrungen von betroffenen Politikerinnen und Politikern gesammelt. Diese Erfahrungen, die reichen von Beleidigungen im Netz bis hin zu tätlichen Angriffen auf offener Straße. Waren Sie von den Berichten der Betroffenen geschockt oder hat Sie das alles gar nicht mehr so wirklich überrascht?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ich war schon sehr beeindruckt, auch über die unterschiedlichen Arten von Bedrohungen. Das ist auf der einen Seite teilweise gegenüber Frauen sehr sexistisch, sehr unter der Gürtellinie. Was die Begriffswahl angeht, nach dem Motto: „Frauen sind eh zu blöd für irgendetwas“, dann aber auch inhaltlich sehr bezogen, gerade wenn es, seit den Jahren 2015 und 2016 die Flüchtlingspolitik geht aber vor Ort, auch wenn es um Windräder, um Baugebiete oder anderes geht. Und dass jemand von hinten mit einem Messer bedroht wird, der sich im Bezirkstag in Bayern engagiert. Das war für mich schon etwas, wo ich auch geschockt war.
DOMRADIO.DE: Auffällig ist, dass in einigen der Erfahrungsberichte die rechtspopulistische AfD genannt wird. Würden Sie sagen, dass AfD-Politikerinnen und Politiker es salonfähig gemacht haben, offen Hass und Hetze zu äußern?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, das hat einen Beitrag geleistet, dass etwas, was sonst nicht als sagbar galt, also unsagbar war, jetzt mit einem Mal einfach rausgehauen wird. Dazu gehören die Reden im Deutschen Bundestag, teilweise auch in Landtagen. Seien es Alice Weidel oder Herr Gauland, um nur zwei Beispiele zu nennen. Da werden ganze Personengruppen in Deutschland diffamiert und niedergemacht, mit rechtspopulistischen, bis ins Rechtsextreme begründete Beschimpfungen. Die kommen natürlich dann in einem weiteren Teil der Öffentlichkeit an, als wenn das in irgendeinem vielleicht sogar noch geschlossenen Chatroom in irgendeinem sozialen Netzwerk der Fall ist.
DOMRADIO.DE: Die meisten, die sie befragt haben, egal ob jetzt Bundestagsabgeordneter oder Lokalpolitiker, fast alle, würde ich sagen, haben zu Protokoll gegeben, nicht ans Aufhören zu denken, sondern sich weiter für die Demokratie stark machen zu wollen. Gibt Ihnen das auch Hoffnung?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, das macht mir große Hoffnung. Ich bin tief beeindruckt, weil da so ein Mut ist. Denn es geht ja nicht nur häufig um einen selbst, sondern auch um die Familie, um die Kinder, die mit in diese Bedrohungen einbezogen werden. Und deshalb ist das wirklich super und soll auch ermutigend sein. Aber das sind jetzt nicht, mit denen ich gesprochen habe, Persönlichkeiten. Aber andere haben sehr wohl auch aufgegeben, auch während einer Amtszeit, weil sie gesagt haben: Ich ertrag das nicht mehr und muss meine Familie schützen.
DOMRADIO.DE: Aktuell hören wir ja immer wieder, dass zahlreiche Gegner der Corona-Maßnahmen nicht nur diese ablehnen, sondern sich öffentlich auch für einen Umsturz aussprechen, ein neues System fordern und diese Demokratie öffentlich ablehnen. Wie konnte es denn passieren, dass diese Menschen nicht mehr von ihrer Demokratie sprechen?
Leutheusser-Schnarrenberger: Sie haben sich von unserem demokratischen System abgewandt, weil sie sich dadurch nicht wahrgenommen und repräsentiert fühlen. Ich glaube, dass zum Teil eine gewisse Überforderung mit eine Rolle spielt. Wir haben unglaublich komplexe Situationen, weit sie meist über das Nationale hinaus gehen, europäisch, international sind. Vernetzt sein ist für manche auch mit Angst und Unsicherheit verbunden. Und wenn dann noch eine Pandemie dazu kommt, dann kommt mit ein einem Mal aus so einer Ablehnung heraus für nicht wenige die Haltung, dass wir ein anderes System brauchen.
DOMRADIO.DE: Sie sind Antisemitismusbeauftragte in Nordrhein-Westfalen. Mit der Corona-Pandemie wird mit wenigen Worten oder auch mit wenigen Symbolen der Holocaust verharmlost. Was löst das in Ihnen aus, wenn Sie das sehen?
Leutheusser-Schnarrenberger: Mich berührt das nicht nur sehr, sondern löst auch Entsetzen, Unverständnis aus. Denn das ist ja nicht nur ein Versuch, auch mit der Geschichte jetzt Menschen anzusprechen, die vielleicht generell mit Blick auf Antisemitismus, Judenfeindlichkeit, Judenhass schon eine gewisse Grundeinstellung haben, sondern wieder verharmlost wird, was das größte Menschheitsverbrechen im letzten Jahrhundert gewesen ist, ist mir vollkommen unverständlich. Aber da sieht man mal, wie eben auch der Missbrauch des Namens Sophie Scholl doch nicht wenige Menschen anspricht. Sie fühlen sich mit einem Mal mit ihr vergleichbar, obwohl sie hier alle Rechte der Meinungsäußerung, des Versammelns, wenn auch vielleicht unter erschwerten Bedingungen, haben und natürlich nie in ihrem Leben bedroht sind. Das ist verharmlosend und wirklich auch unverantwortlich relativierend. Und das ist auch gefährlich, weil nicht wenige dann darauf aufspringen, weil sie sagen: Jetzt haben wir einen Sündenbock. Sind es doch wieder die Jüdinnen und Juden.
DOMRADIO.DE: Wie begegne ich Menschen, die solchen Verschwörungstheorien anhängen, obwohl sie sich selbst weder als antisemitisch noch als rechts beschreiben würden?
Leutheusser-Schnarrenberger: Sie wollen natürlich nicht eingeordnet werden in so eine, gerade von Ihnen genannte, Kategorie. Denn dass das per se negativ ist, das wissen nun die Allermeisten. Aber ich glaube, bei vielen steckt gar nicht ausreichend Reflexion dahinter, sondern eine sehr emotionale Entscheidung. Und wenn man noch nicht ein total verbohrter Ideologe ist, dann ist immer noch Aufklärung, Gespräch, Gegenhalten, der Weg, den wir beschreiten müssen. Eben in einer Gesellschaft, die ja auch den offenen Diskurs sucht und braucht. Und da gebe ich in meinem Buch auch viele Hinweise, an wen man sich wenden kann, wie man sich einbringen kann, Fakten checken, eben auch behauptete Dinge richtigstellen, wenn sie so nicht zutreffen. Und das, denke ich, muss von sehr viel mehr Menschen auch noch mit unterstützt werden, damit wir auch eine Gegenöffentlichkeit zu diesen Verschwörungsideologen schaffen.
DOMRADIO.DE: Derzeit wird viel über die allgemeine Impfpflicht diskutiert. Vor allem in Ihrer Partei gehen die Meinungen auch weit auseinander. Zunächst mal ganz kurz: Wie stehen Sie dazu?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ich sehe eine Impfpflicht skeptisch, was die Durchsetzbarkeit und die verfassungsrechtliche Festigkeit angeht. Ich bin geboostert, also ich bin sehr dafür, dass man sich impfen lässt, werbe auch sehr dafür bei jeder Gelegenheit. Aber eine Impfpflicht ist noch mal etwas anderes.
DOMRADIO.DE: Ist das jetzt einfach eine sehr laute Gruppe, die Impfgegner? Oder sollte sich die Politik da tatsächlich auch schon beeinflussen lassen von diesen Stimmen, die ja sich wirklich auch dagegen aussprechen und ihre Freiheit beraubt sehen?
Leutheusser-Schnarrenberger: Diese Gefahr sehe ich auch. Denn gegen Impfen zu sein ist mehr als jetzt bei diesem Protest gegen Corona-Maßnahmen mit diesen Schildchen „Merkel-Diktatur“ dabei zu sein. Das geht doch sehr viel tiefer. Natürlich ist für manche das nur ein einfacher Pieks, für mich auch, aber für andere ist es doch ein Eingriff in ihren Körper. Sie haben Angst vor den Auswirkungen, haben sich vielleicht noch nie impfen lassen. Und von daher ist da wirklich Ansprache, Kommunikation, miteinander umgehen in angemessener Form ganz, ganz entscheidend. Denn wir dürfen nicht alle, die eine Skepsis haben gegen das Impfen jetzt in eine Ecke abdrängen, nach dem Motto: Haltet euch mal an die Mehrheit. Wir setzen das schon gegen euch durch. Ich glaube, das würde nicht gut sein für unsere Demokratie.
(domradio – mg)
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