Medizinethiker: Impfpflicht in Österreich ist Ultima Ratio
Der deutsche Theologe ist Professor für Moraltheologie an der Universität Wien und Mitglied der Bioethikkommission in Österreich.
Radio Vatikan: In vielen Ländern läuft aktuell eine Debatte um eine allgemeine Impfpflicht. Die Schweiz sieht bisher davon ab, in Deutschland wird noch darüber diskutiert. In Italien gibt es seit kurzem eine Impfpflicht für alle ab 50. Und Österreich hat sich jetzt auch dafür entschieden, für alle Menschen ab 18 Jahren. Wie sehen Sie diesen Schritt?
Matthias Beck, Professor für Moraltheologie an der Universität Wien und Mitglied der Bioethikkommission in Österreich: Wir sind in der Diskussion begrifflich nicht sehr scharf. Die Leute protestieren eigentlich gegen einen Impfzwang. Zwingen kann ich niemanden. Jedem kommt Menschenwürde zu. Und dadurch haben wir ein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das heißt, die Polizei kann mich nicht abholen, mich fesseln und mich dann zwanghaft spritzen.
Zwischen Zwang und Pflicht unterscheiden
Also lange Rede, kurzer Sinn: Das ist die Ultima Ratio. Eigentlich will die Impfpflicht niemand. Aber wir bekommen jetzt immer höhere Zahlen, Stichwort Omikron-Variante, so dass vielleicht Leute nicht mehr so schwer krank werden, dass sie auf Intensivstation müssen, aber doch viele gleichzeitig krank werden. Das könnte dazu führen, dass das ganze System eines Staates zusammenbricht, dass wir etwa keine Polizisten haben, weil sie krank sind, keine Feuerwehrleute, keine, die im Strom- und Gaswerk arbeiten. Und dann ist die Impfpflicht eine Ultima Ratio.
Wenn die Menschen sich freiwillig, aus Pflichtgefühl sozusagen, impfen lassen würden, wäre es ja gut. Aber wir haben längst nicht genug: Wir haben, glaube ich, in Österreich jetzt für die dritte Impfung erst 45 Prozent. Die zweite Impfung haben an die 73 Prozent. Ultima Ratio will keiner. Es gibt ja auch viele Proteste.
Ich glaube, im Vatikan gibt es ja auch eine indirekte Impfpflicht, nicht per Gesetz, aber wer sich nicht impfen lässt, darf nicht arbeiten oder so ähnlich.
Radio Vatikan: Im Vatikan haben wir so etwas Ähnliches tatsächlich schon länger. Wer nicht geimpft ist, kann unter Umständen seine Tätigkeit nicht weiter ausführen, weil diese Person sich selbst und andere damit gefährden könnte. Man kann dann versetzt werden, im schlimmsten Fall auch gekündigt. Ich würde gerne noch einen anderen Aspekt genauer besprechen: Verantwortung und Freiheit. Es gab da auch gewisse Grenzen - die eigene Freiheit endet vielleicht dort, wo sie die Freiheit der anderen einschränkt?
Matthias Beck: Genau. Ich kann ja für mich sagen, wenn ich auf einer Insel lebe, ganz alleine, ich lasse mich nicht impfen - notfalls sterbe ich halt. Aber ich habe Verantwortung auch für meine Mitmenschen. Denken Sie an Pflegende in einem Altenheim. Es gab ja auch mal die Diskussion, eine berufsspezifische Impfpflicht zu haben, die wir übrigens bei uns in der Medizin haben: Ärzte und auch Schwestern müssen gegen Hepatitis geimpft sein. In Deutschland gibt es eine Masern-Impfpflicht für Kinder. Österreich hatte von 1939 bis 1975 immerhin 40 Jahre eine Pocken-Impfpflicht. Also wenn ich eine Gefährdung darstelle für den anderen, dann habe ich die Verpflichtung, ihn zu schützen. Thomas von Aquin sagte: Gerade in Krisenzeiten geht Gemeinwohl vor Eigenwohl. Man muss hier die eigenen Interessen zurückstecken, um für das Gemeinwohl etwas zu tun und den anderen zu schützen und auch das Gesundheitssystem zu schützen, dass es nicht überlastet wird. Verantwortung ist ja nicht Beliebigkeit, sondern meine Freiheit endet bei der Freiheit des anderen. Wenn ich den anderen gefährde, gefährde ich seine Freiheit, und da hört meine Freiheit auf. Das hat mit Verantwortung zu tun.
Radio Vatikan: Welche Rolle spielt denn die Kommunikation? Vielleicht kann man die Impfungen noch besser erklären? Oder ist der Zug schon abgefahren?
Matthias Beck: Also ich glaube, viel besser geht es nicht. Ich habe viel deutsches Fernsehen geschaut - ich bin ja schon seit 20 Jahren in Wien - und auch österreichisches. Was sowohl Politiker als auch Virologen gemacht haben, war gut. Einige Menschen wollen das nicht wissen. Es gibt Impfgegner, Impf-Leugner, Corona-Leugner. Das ist eine große Mischung von verschiedenen Menschengruppen, auch religiöse, auch konservative, gehören dazu, ebenso Verschwörungstheoretiker. Also an der Erklärung, glaube ich, hat es nicht gemangelt. Natürlich gibt es noch einen Rest, der vielleicht unentschlossen ist, ein bisschen Angst hat. Wenn dann der Hausarzt besser erklären würde, oder vielleicht auch beim Testen, da stehen jetzt wieder viele an: Man muss einfach jetzt an die Vernunft der Menschen appellieren.
Radio Vatikan: Österreichs Bischofskonferenz hat ja auch eine Erklärung zum Thema Impfpflicht herausgegeben, das war Anfang Dezember 2021, wie hat die denn die Debatte beeinflusst?
Matthias Beck: Ich glaube wenig. Auch ich habe einige Freunde, die sich nicht impfen lassen wollen. Über das Wort des Papstes, der ja gesagt hat: ,Impfen ist ein Akt der Nächstenliebe`, habe ich hier im Faltblatt Stephansdom einen Artikel geschrieben. Denn im Stephansdom in Wien wird geimpft. Ich finde das sehr gut.
Da hat mir gleich einer ganz bösartig geschrieben. Er würde jetzt endgültig aus der Kirche austreten und er wollte das schon lange. Ich habe da nur zurückgeschrieben: ,Tut mir leid, wenn Sie aus der Kirche austreten. Sie können ja Ihre Meinung haben. Aber bei der Kirche geht es nicht um irgendeinen Verein, sondern da geht es um das Gottes-Verhältnis.` Also selbst die Stimme der Bischöfe, selbst die Stimme des Papstes, dringt bei manchen Menschen nicht durch. Ich kann es mir nicht erklären, wie das kommt.
Radio Vatikan: Was denken Sie, könnte man denn noch tun? Gerade auch als Kirche, denn auch Papst Franziskus' Appelle scheinen ja doch eher ungehört zu verhallen…
Matthias Beck: Ich bin ja von Haus aus Mediziner und Pharmazeut. Natürlich ist dieser Impfstoff relativ frisch auf dem Markt, aber wir sind erst seit zwei Jahren überhaupt mit dieser Pandemie konfrontiert. Wir haben keine andere Möglichkeit als jetzt erst einmal diesen Impfstoff. Es ist fast ein Wunder, vor allem beim Messenger RNA-Impfstoff - Biontech/Pfizer Moderna, wie schnell der auf den Markt gekommen ist. Das liegt daran, dass man schon seit 30 Jahren daran forscht im Zusammenhang mit Krebserkrankungen. Und die Forscher, die ich zum Teil persönlich kenne, haben dann sozusagen in einer Blitzaktion ihre Forschung in den Bereich der Krebserkrankungen umgeswitcht auf diese neue Pandemie. Natürlich, das waren schnelle Zulassungsverfahren, aber es waren mehr als 40.000 Probanden. Und dann ist gleichzeitig während der Impfung dieselbe wissenschaftlich begleitet worden. Das heißt, wir hatten in sehr kurzer Zeit sehr viele Daten zur Verfügung. Deswegen sind diese Impfstoffe so schnell zugelassen worden, normalerweise dauert es zehn bis 15 Jahre. Das verunsichert die Menschen, aber wir müssen einfach in einer solchen Situation entscheiden. Wenn wir noch 15 Jahre warten, dann ist die halbe Welt ausgerottet. Das heißt, wir müssen auch mit dieser Unsicherheit leben. Das ist fast ein religiöses Problem. Wir können nicht über die Endlichkeit hinaus, wir haben keine absoluten Zahlen. Das haben wir nirgends. Wenn Sie Aspirin nehmen und lesen den Beipackzettel, sehen Sie, was da alles drinsteht, was alles passieren kann. Flugzeuge sollen die sichersten Verkehrsmittel sein - und trotzdem fällt mal eines runter. Natürlich kann es mal zu Nebenwirkungen kommen und vielleicht auch zu Schäden. Aber von der Statistik her ist das ein sicherer Impfstoff. Also, ob die Kirche noch mehr machen könnte, weiß ich nicht. Wenn der Mensch nicht will, dann ist selbst der Herrgott machtlos.
*Das Interview wurde editiert am 18.1.2022
Die Fragen stellte Stefanie Stahlhofen
(vatican news - sst)
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