Ukrainer am 1. März in den Trümmern seines Hauses - nach einem russischen Angriff auf Zhytomyr Ukrainer am 1. März in den Trümmern seines Hauses - nach einem russischen Angriff auf Zhytomyr 

Militärische Antwort? Wir fragen einen Friedensforscher

Krieg und Frieden sind heikle Themen – auch für die katholische Lehre. Gibt es noch so etwas wie den ‚gerechten Krieg‘, von dem einst Thomas von Aquin schrieb? Das fragten wir Heinz-Gerhard Justenhoven vom Hamburger Institut für Theologie und Frieden.

Aus Justenhovens Sicht hat die Ukraine angesichts der russischen Aggression das Recht auf Selbstverteidigung. Ausländische Staaten dürften ihr Hilfe leisten, aber ohne dass die Gewalt sich dadurch ausweite und ein noch größerer Krieg entstehe. Den Begriff ‚gerechter Krieg‘ hält der Friedensforscher für überholt.

Interview

Gibt es nach der katholischen Soziallehre eigentlich einen ‚gerechten Krieg‘? Kann man also Russland in den Arm fallen, wenn damit unschuldiges ukrainisches Leben gerettet werden kann?

„Wir sprechen heute nicht mehr vom ‚gerechten Krieg‘, jedenfalls in der deutschen Diktion; es gibt diesen Terminus noch im Englischsprachigen. Stattdessen sprechen wir lieber von erlaubter oder zu rechtfertigender Gewaltanwendung in dem konkreten Fall, in dem tatsächlich ein Unschuldiger oder ein Volk, von dem keine Gewalt ausgegangen ist, von einer Aggression überzogen wird.

„Ukraine hat das Recht zur Selbstverteidigung“

Und genau das liegt in meinen Augen tatsächlich auch im konkreten Fall vor: Der russische Präsident hat die russische Armee in Marsch gesetzt und hat einen Überfall auf die Ukraine durchgeführt. Das ist ein Präzedenzfall in Europa – ein eklatanter Bruch des internationalen Rechts und ein ganz klarer Bruch des Gewaltverbots. In diesem Fall hat die Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung, und die Frage, vor der wir alle stehen, ist, in welcher Weise wir zur Hilfe verpflichtet sind, was wir zu tun haben.

Krieg und Frieden aus der Sicht eines Theologen - Fragen an Heinz-Gerhard Justenhoven (Institut für Theologie und Frieden) - Radio Vatikan

Auf einer prinzipiellen Ebene gilt natürlich, dass dort, wo (wie im Fall der Ukraine) eine unterlegene Seite von einer Aggression betroffen ist, zuerst einmal das Recht zur Hilfeleistung besteht. Worin diese Hilfe besteht und wie weit wir dazu verpflichtet sind, das ist dann eine zweite Frage. Die prinzipielle Frage heißt also: Wir müssen helfen, soweit wir es können und soweit es dazu beiträgt, mehr Gewalt zu unterbinden. Und das ist jetzt ein ganz entscheidender Punkt – inwieweit eine Hilfeleistung für die Ukraine in dem konkreten Fall also nicht dazu führt, dass die Gewalt sich ausweitet und dass am Ende ein noch größerer Krieg entsteht. Das ist, glaube ich, eine Frage kluger Politik, genau dies sauber abzuwägen.“

Flüchtlinge aus Odessa bei der Ankunft in Lemberg
Flüchtlinge aus Odessa bei der Ankunft in Lemberg

„Das ist eine Frage kluger Politik, die sauber abwägen muss“

Wie würden Sie denn vor diesem Hintergrund die Aussage von Kardinal Hollerich einordnen, der sagt: Ja, man muss der Ukraine bei der Selbstverteidigung helfen, und zwar gegebenenfalls auch mit Waffen, mit Waffenlieferungen?

„Das findet ja zurzeit auch statt. Noch einmal: Es gibt, erstens, ein Recht auf Selbstverteidigung. Zweitens: Wenn es ein Recht auf Selbstverteidigung gibt, dann darf man auch die dazu erforderlichen Mittel, wenn sie in einem angemessenen Verhältnis sind, einsetzen. Das heißt beispielsweise: auch Panzerabwehrwaffen einsetzen oder auch Waffen, die Kampfhubschrauber vernichten. Und das Dritte ist: Ich fände es in der Tat zynisch zu sagen ‚Die Ukraine darf sich verteidigen, aber wir werden ihr selbstverständlich die Mittel, die sie braucht, nicht zur Verfügung stellen‘. Nein – wenn es Mittel sind, die erforderlich sind, um sich gegen die Aggression zu verteidigen, dann, denke ich, muss man diese Mittel auch zur Verfügung stellen.

Wichtig ist (das wäre für mich sozusagen das Kriterium auf der anderen Seite): Das darf nicht dazu führen, dass am Ende mehr Gewalt entsteht. Aber dies scheint mir im konkreten Fall gegeben – wenn es um die Lieferung von Waffen geht, die notwendig sind, um Panzer oder auch Flugzeuge daran zu hindern, schweren Schaden und schweres Leid in der Ukraine durchzuführen. Dann stimme ich dem Kardinal zu.“

Verhandlungen zwischen einer russischen und einer ukrainischen Delegation
Verhandlungen zwischen einer russischen und einer ukrainischen Delegation

„Verhandeln und Selbstverteidigung schließen sich nicht aus“

Der Vatikan ruft immer wieder zu Verhandlungen auf. Ist das in diesem Fall etwas blauäugig, oder worauf fußt diese Bereitschaft des Vatikans und des Papstes, den Verhandlungen den absoluten Vorrang zu geben?

„Also, einen prinzipiellen Vorrang von Verhandlungen halte ich für richtig. Ich kann im Moment nicht erkennen, wie man mit einem Präsidenten verhandeln will, der bewusst seine Armee einsetzt, um politische Ziele, die – jedenfalls soweit ich das beurteilen kann – wirklich nicht legitim sind, mit Gewalt auch noch durchzusetzen. Einem Präsidenten, dem in vielfacher Weise Verhandlungen angeboten worden sind, der jedoch sogar bei laufenden Verhandlungen unter anderem im Sicherheitsrat, angefangen hat, die Armee einzusetzen.

Da kann man ein prinzipielles Verhandlungsangebot aufrechterhalten; das hat der ukrainische Präsident auch getan, die ukrainische Delegation redet mit der russischen Delegation. Aber gleichzeitig ist das kein Ersatz dafür, dass die Ukraine aktuell das Recht hat, sich gegen die militärische Aggression zu wehren.

„Ich habe Verständnis dafür, dass der Papst sich aus der Frage heraushält, aber…“

Ich habe Verständnis dafür, dass der Papst selber sich aus der Frage oder aus der Entscheidung heraushält, wann und in welchem Fall der Gewalteinsatz zu rechtfertigen ist. Aber ich für meinen Teil muss ganz ehrlich sagen: Das Recht der Ukrainer, sich gegen diese Aggression zu wehren, und die Pflicht, sie dabei zu unterstützen, scheinen mir völlig klar.“

Hl. Thomas von Aquin legte genaue Bedingungen für einen 'gerechten Krieg' fest
Hl. Thomas von Aquin legte genaue Bedingungen für einen 'gerechten Krieg' fest

„Der Begriff ‚gerechter Krieg‘ greift nicht mehr“

Nun hatte ja schon Kardinal Ratzinger einmal (in einem Radio-Vatikan-Interview vor dem westlichen Eingreifen im Irak 2003) gesagt, dass es eigentlich unter den heutigen Voraussetzungen keinen ‚gerechten Krieg‘ mehr gibt. Sie sagen jetzt: Wir müssen da den Begriff nachschärfen, es gibt tatsächlich keinen ‚gerechten Krieg‘, aber einen gerechtfertigten Krieg…

„Der Begriff ‚gerechter Krieg‘ kommt aus dem Hoch- oder Spätmittelalter, als die Idee bestand, dass man mit ‚bellum‘, mit Gewalt, Recht durchsetzen kann. Wir haben im 20. Jahrhundert erlebt, dass die Päpste, angefangen von Benedikt XV., sich klar dagegen ausgesprochen haben, dass mit militärischer Gewalt Recht durchsetzbar sei. Das einzige Recht, das es gibt – und das ist die Völkerrechts-Entwicklung des 20. Jahrhunderts –, ist der Einsatz militärischer Gewalt als äußerstes Mittel, um eine Aggression abzuwehren – klassischerweise im Auftrag des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.

Wenn, wie jetzt geschehen, der Sicherheitsrat durch ein Veto (in diesem Falle Russlands) nicht tätig werden kann, bleibt jedem Staat – aufgrund von Artikel 51 der UN-Charta und auch ethisch begründbar – das Recht unbenommen, sich zu verteidigen. Das ist genau der Grund, warum ich gesagt habe: Der Begriff ‚gerechter Krieg‘ greift nicht mehr, sondern es geht um die Erlaubtheit der Abwehr militärischer Gewalt. Um die legitime Anwendung von Gewalt, um eine Aggression abzuwehren.“

Eine Friedens-Demo in Stockholm
Eine Friedens-Demo in Stockholm

„Anwendung militärischer Gewalt ist absolute Ausnahme“

Was scheint Ihnen denn in diesem Zusammenhang sonst noch wichtig?

„Also, was mir wichtig ist: Die Anwendung militärischer Gewalt, auch wie wir sie jetzt auf Seiten der Ukraine erleben, ist eine absolute Ausnahmesituation, die wir natürlich überwinden wollen. Was wir eigentlich wollen, ist, dass politische Konflikte auf der Basis internationalen Rechts gelöst werden!

Die Staatengemeinschaft hat im 20. Jahrhundert große Fortschritte gemacht, und ich bin strikt dagegen, wenn wir jetzt von Zeitenwende reden, dass das bedeuten soll, dass wir in eine Zeit der Anarchie zurückfallen. Sondern wir müssen an der Grundidee, die auch die kirchliche Lehre sehr stark geprägt hat, festhalten, dass Gewalt durch eine Rechtsordnung überwindbar ist. Und dass es tatsächlich an den Staaten und an den Völkern liegt, sich dafür zu entscheiden, statt politische Ziele mit militärischer Gewalt durchzusetzen, sie auf der Basis des Rechts auszutragen.

„Die Staatengemeinschaft hat im 20. Jahrhundert große Fortschritte gemacht, und ich bin strikt dagegen, wenn wir jetzt von Zeitenwende reden, dass das bedeuten soll, dass wir in eine Zeit der Anarchie zurückfallen.“

Wir werden immer erleben, dass es Störer dieser Ordnung gibt – das erleben wir aktuell. Aber gleichzeitig, glaube ich, lohnt es sich, daran festzuhalten, dass das politische und das auch ethisch begründbare Ziel darin besteht, genau diese Praxis zu überwinden und auf dem Weg dieses zivilisatorischen Fortschritts, den wir im 20. Jahrhundert gesehen haben, weiterzugehen. Zumindest in der Gemeinschaft der Völker, die sich für diesen Weg entscheiden.“

Der hl. Johannes Paul II. betete 1986 in Assisi mit anderen Konfessionen und Religionen um den Frieden auf der Welt
Der hl. Johannes Paul II. betete 1986 in Assisi mit anderen Konfessionen und Religionen um den Frieden auf der Welt

„Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben“

Das ist nicht unbedingt Ihr Thema – trotzdem die Frage an Sie: Wie könnte denn eine friedliche Lösung im Krieg Russland-Ukraine noch erreicht werden?

„Wir dürfen natürlich die Hoffnung nicht aufgeben, dass auch die russische Seite zurückkehrt zu wirklichen Verhandlungen und dass die Kampfhandlungen eingestellt werden – obwohl ich da im Moment wenig Hoffnung habe.

Aber vielleicht kommt es ja durch Sanktionen dazu, oder durch die Einsicht in einem das Regime tragenden Kreis von Menschen, dass sich der russische Präsident hier offensichtlich verrannt und verkalkuliert hat und dass der Schaden auch für Russland immens sein wird. Die russische Bevölkerung wird genauso wie die ukrainische einen bitteren Preis zahlen müssen, und dies können die Menschen nicht wollen. Wir dürfen, glaube ich, die Hoffnung nicht aufgeben, dass es auch in Russland Kräfte gibt, die stark genug sind, um sich am Ende gegen diesen Wahnsinn durchzusetzen…“

(vatican news – cs/sk)
 

Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.

03. März 2022, 11:19