Unser Sonntag: Judas Iskariot – gescheiterte Freundschaft
Bischof Bertram Meier, Augsburg
Fastenzeit 2022
Begegnungen können zum Drama werden. Sie können ein Leben entscheidend prägen. Diese Erfahrung gilt für alle, die in den Dunstkreis des Herrn geraten. Eine besondere Note bekommt sie für Judas Iskariot, eine der rätselhaftesten Gestalten in der Heiligen Schrift.
Was wäre aus ihm geworden, wäre er dem Mann aus Nazaret nie begegnet? Mit Sicherheit würden wir jetzt nicht über ihn sprechen. Er wäre einer der vielen Namenlosen der Geschichte, längst dem Vergessen anheimgefallen. So aber wird sein Name seit fast zweitausend Jahren immer wieder genannt. Sein Name hat keinen guten Klang, denn Judas Iskariot ist als Verräter in die Geschichte eingegangen.
Was aber hat es auf sich mit diesem Sohn des Simon aus Kariot? Was wissen wir eigentlich über ihn? Wie werden wir ihm gerecht? Was können und müssen wir für uns selber lernen, wenn wir auf ihn schauen?
Jesus, der Hoffnungsträger
Wer Judas Iskariot verstehen will, muss den in den Blick nehmen, für den mindestens zwölf Männer, aber natürlich sehr viel mehr Frauen und Männer viel, ja alles aufgegeben haben - darunter Judas Iskariot. Was war in ihm vorgegangen, als er zum ersten Mal Jesus aus Nazaret begegnete und seine Einladung zur Nachfolge hörte? Auch wenn uns das Seelenleben des Judas verschlossen bleibt, wissen wir, dass er sich mit den anderen auf den Weg machte und Jesus begleitete. Wie die anderen - und doch aus seiner ureigenen Perspektive - hat er Jesus beobachtet. Er hat erlebt, wie sein Meister mit den Menschen redete, wie er sich ihnen widmete und sich auf sie einließ.
Zeuge des heilenden Wirkens Jesu
Er wurde Zeuge seines heilenden Wirkens. Judas durfte als Augen- und Ohrenzeuge miterleben, wie Menschen in der Begegnung mit Jesus eine Wandlung durchmachten, ja geradezu neue Menschen wurden. Das hat sicher alle sehr beeindruckt, auch Judas Iskariot.
Aber vielleicht blieben da noch Wünsche offen: Hatte Judas von dieser faszinierenden Persönlichkeit etwas anderes erwartet? Träumte er davon, mit diesem Mann, der die Massen des Volkes anziehen, elektrisieren und in gewisser Weise sogar „verzaubern“ konnte, einen Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht zu organisieren?
Konnte er die entwaffnende Lauterkeit und die herausfordernde Ehrlichkeit des Mannes aus Nazareth neben sich nicht ertragen, weil sie ihm seine Schwäche, seine Anfälligkeit für materiellen Reichtum, deutlich machte? Wollte er andererseits Jesus verlocken, ja sogar zwingen, die politischen Verhältnisse zu ändern? Von außen unter Druck gesetzt, so mag Judas gedacht haben, müsste Jesus dann doch reagieren und endlich zeigen, was er aufzubieten hat, wenn es brenzlig wird: "Legionen von Engeln" (Mt 26, 53). Auch wenn wir in einem Dickicht von Fragen auf Vermutungen angewiesen sind, dürfte Eines doch sicher sein: Judas blieb der tiefste Sinn der Botschaft Jesu Christi verschlossen. Weil seine eigenen Vorstellungen vom Messias auf Dauer unvereinbar waren mit den Gedanken, die Jesus darlegte und lebte, ist wohl in ihm mehr und mehr der Entschluss gereift, ihn nicht nur zu verlassen, sondern auszuliefern.
Verkauft und verraten
Wir kennen den weiteren Verlauf. Judas wechselt die Seiten. Er bietet denen seine Kooperation an, die Jesus aus dem Verkehr ziehen wollen. Er verrät den, der ihn Freund nennt. Ein Kuss wird zum Erkennungssignal- das Zeichen der Liebe wird ins Gegenteil verkehrt (vgl. Mt 26,48-50).
Einen Menschen ausschließlich nach Berichten seiner Gegner zu beurteilen ist gefährlich. Aber dass Judas - wohl einer der intelligentesten Jünger in Jesu Gefolge, gleichsam der „Finanzminister“ der Jesus-Gruppe - zum Einfallstor für Jesu Feinde wurde, daran kommen wir nicht vorbei.
Dreißig Schekel oder Silberstücke (Mt 26,15; vgl. Sach 11,12) waren exakt der Preis, der damals für einen erwachsenen männlichen Sklaven bezahlt werden musste. Der einstige Freund verkauft seinen Meister, der sich, wie Paulus der ersten Christengemeinde auf europäischem Boden im mazedonischen Philippi in Erinnerung ruft, zum Sklaven aller gemacht hatte (vgl. Phil 2,5-11, bes. 7).
Vielleicht hatte Judas wie viele Überläufer in der Geschichte die Hoffnung, dass mit dieser äußerst fragwürdigen Tat ein sozialer Aufstieg verbunden sei. Vielleicht redete er sich ein, dass der Wundertäter Jesus während des Prozesses seine Macht offenbaren und das Volk gegen die verhassten römischen Besatzer einen würde.
Man wollte kurzen Prozess machen
Doch schon wenige Stunden später war klar: Keinem war daran gelegen, Jesus die Möglichkeit zu geben, seine Sendung öffentlich zu verteidigen, im Gegenteil, man wollte mit ihm kurzen Prozess machen. als Judas das erkennt, „reute ihn seine Tat.“ Er möchte das Geld zurückgeben, aber die Hohenpriester und die Ältesten nehmen es nicht an. Nach Judas‘ Selbstmord kaufen sie davon einen Acker „als Begräbnisplatz für die Fremden“, auf dem vermutlich auch Judas begraben wird (vgl. Mt 27,3-10). Dies ist das Ende eines Menschen, der sich in Schuld verstrickt hatte und keinen Ausweg mehr sah…
Was geht mich, was geht uns Judas an?
Eine Frage, die ärgerlich machen kann. In Judas begegnet uns eine erschreckende Möglichkeit und eine furchtbare Realität menschlicher Existenz: Wer die Wahrheit sucht, kann sich auch täuschen, kann seine persönlichen Wünsche mit der Wahrheit verwechseln und sich und andere ins Unglück stürzen. Andererseits gilt: Wahrheit ist kein Besitz. Wahrheit ist ein Wetzstein. Wir müssen uns mit ihr auseinandersetzen, denn seit Jesu Wirken auf Erden, ist Wahrheit für uns Christen keine philosophische Größe, sondern eine Person, an der sich die Geister scheiden.
Als Menschen sind wir bestimmt zur Verwirklichung des Lebens in ungezwungener Freiheit, in aufrichtiger Liebe, in wohlwollender Zuwendung, in ungeheuchelter Treue, in der Bereitschaft offenen und selbstlosen Hörens und Ringens um gegenseitiges Verständnis, doch menschliche Schwäche und aufrührerischer Eigenwille können diese Haltungen in ihr schreckliches Gegenteil verkehren. Erinnern wir uns, was der greise Simeon mit dem neugeborenen Messias im Arm voraussagte: „Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden“ (Lk 2,34).
Judas scheiterte an der personifizierten Wahrheit
Judas ist an der personifizierten Wahrheit gescheitert. Als Jesus seine Erwartungen nicht erfüllt, versucht er es gewissermaßen mit der Brechstange: Judas möchte das Glück, das er sich ausmalte, erzwingen. Mit dem Kuss will er sagen: Jesus, tu doch was, zeig deine Größe und Macht! „Damit aber macht er einen anderen Menschen unfrei und wird damit zum Verräter am innersten Kern der Botschaft Jesu. Denn immer dort, wo ein Mensch einem anderen – und sei es mit besten Absichten – seinen Willen aufzwingt, immer dann degradiert er den Menschen zur fremd gelenkten Marionette. (…) Das ist der eigentliche Verrat, der Verrat am Besten, was einem Menschen mitgegeben wurde und für den auch die Botschaft Jesu steht – der Verrat an der Freiheit und damit zugleich ein Verrat an sich selbst! (…) Kein Mensch ist dazu geboren, die unerfüllten Träume und Wünsche eines anderen umzusetzen, sondern einzig und allein dazu, frei unter Gottes blauem Himmel seine je eigene Lebensmelodie zu finden und zu singen.“
Steckt nicht auch in uns manchmal etwas von Judas, auch wenn es nicht bis zum Letzten des Verrates gehen muss? Dies lässt sich an konkreten Lebensstationen abfragen: Was ist aus dem Treueversprechen geworden, auf das ein anderer glaubte bauen zu können? Was blieb von "heißen Schwüren der Liebe", wenn diese Liebe ernstlich auf die Probe gestellt wurde, wenn der Himmel nicht mehr voller Geigen hing und der Partner/die Partnerin auf einmal ganz neue, ungewohnte Töne anschlug? Menschen, die einander ‚zum Fressen gern‘ hatten, würden sich später buchstäblich gerne fressen.
Der Himmel lässt sich nicht kaufen
Haben Wunschbilder, mit rosaroter Brille entworfen, und zu steile Erwartungen uns vielleicht daran gehindert, uns der notwendigen Entwicklung zu stellen und das Leben so anzunehmen, wie es ist? Haben sie es vereitelt, dass wir uns offen und sensibel auf Wandlungen und Veränderungen einlassen? Und schließlich global gesehen: Haben nicht fanatische Weltverbesserer, oft im philosophischen Gewand, unendlich viel Leid über die Menschen gebracht, ja wie viele wurden, von Ideologien verführt, zu Extremisten und Terroristen? Doch kehren wir auch vor unserer Haustür: Wie viel Verleugnung und Verrat an Gottes barmherziger Liebe geschah und geschieht noch heute in der Kirche durch „ewig fromme, die das trennende suchen“ , wie es ein lebender deutsche Dichter mit iranischen Wurzeln benennt; durch rückwärtsgewandte Christen, die in Verklärung längst überholter kirchlicher Zustände das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen – unter Verkennung der Probleme und Nöte von heute/oder heutiger….! Auch gegen die Versuchung des Geldes scheinen manch führende Personen in der Kirche nicht gefeit zu sein. Aber der Himmel lässt sich nicht kaufen.
Die Pastoral der angelehnten Tür
Noch Eines sollten wir im Blick auf Judas bedenken. Wenn Petrus, der Jesus dreimal verleugnete, nicht den Strick nahm wie Judas, dann mag das wohl damit zusammenhängen, dass Petrus im Moment seines Verrates – denn das war es auch hier - noch den Blick seines Freundes und Herrn ins Herz fiel. Dieser Augenblick war Gnade. Die darauf folgenden Reue-Tränen hatten erlösende Wirkung. Judas aber konnte nicht weinen. Zwar hat er den Hohenpriestern noch gebeichtet: "Ich habe gesündigt, ich habe euch einen unschuldigen Menschen ausgeliefert." Doch er blieb mit seiner Schuld allein: "Was geht das uns an? Das ist deine Sache" (Mt 27,4), lautete die brüske Abfuhr der Priester.
In seiner Verzweiflung sah Judas keinen Ausweg mehr, nur noch den Strick. Auf taube Ohren stoßen, mutterseelenallein gelassen sein: das ist der Anfang vom Ende. Wie steht es mit uns, mit mir? Bleibe ich mit meiner Schuld allein? Habe ich jemanden, mit dem ich ganz offen über alles reden kann, auch über meine dunklen und zwielichtigen Seiten? Kann ich mich vor Gott ausweinen? Zugleich ist das Schicksal des Judas eine Anfrage an mich und an alle, die wir Kirche Christi sein wollen: Zeigen wir etwas von der immer offenen Tür zum Haus des barmherzigen Vaters? Vermitteln wir Menschen, die am Ende sind, wirklich das Gefühl, dass sie bei uns neu anfangen dürfen, dass sie zu Gott und seiner Kirche zurückkehren können, was immer sie verbrochen haben mögen? Warum gibt es unter den durch Opferaussagen und Indizien überführten Tätern so viele, die sich nicht zu ihrer Schuld bekennen? Wir sollten Türen nicht zuschlagen, sondern immer einen Spalt breit offen halten. Die „Pastoral der angelehnten Tür“ gibt Gescheiterten und schuldig Gewordenen die Möglichkeit, zu bereuen, hilfesuchend die Hand auszustrecken und dem ersten Wort, das von Jesus im ältesten Evangelium, dem des Evangelisten Markus, überliefert ist, zu vertrauen: „Kehrt um und glaubt an die Frohe Botschaft!“ (Mk 1,15).
Barmherzigkeit...
Diese Art von Pastoral könnten wir auch unter dem Stichwort „Barmherzigkeit“ zusammenfassen, die von Papst Franziskus – nicht zuletzt durch die Ausrufung des außerordentlichen Heiligen Jahres der Barmherzigkeit (2015-2016) – immer wieder ins Licht gehoben wird. Kardinal Walter Kasper umschreibt die heutige Herausforderung so: „Wir stehen vor der Aufgabe, die Barmherzigkeit aus ihrem Aschenputtel-Dasein, in das sie in der traditionellen Theologie geraten war, wieder herauszuholen. Das muss geschehen, ohne dem banalen und verharmlosenden Bild vom ‚Lieben Gott‘ zu verfallen, das Gott zum gutmütigen Kumpel macht und die Heiligkeit Gottes nicht mehr ernst nimmt. Die Barmherzigkeit muss als die Gott eigene Gerechtigkeit und als seine Heiligkeit verstanden werden. (…)
Es gilt, das Bild eines sympathischen Gottes zu zeichnen.“ Was Gott wohl mit dem verzweifelten Leben des Judas gemacht hat? Wir wissen es nicht. Aber auf Eines dürfen wir vertrauen: Es gibt keine noch so große Schuld, die - wenn sie aufrichtig bereut wird - von Gott nicht vergeben werden könnte. Gott liebt uns - auch im Scheitern. Diese theologische Erkenntnis muss allerdings noch – bildlich gesprochen – durchbuchstabiert werden. Denn Jahrhunderte lang maß und mitunter bis heute misst die Kirche mit zweierlei Maß, ahndet ähnliche Vergehen unterschiedlich, je nach der innerkirchlichen Stellung des Schuldigen. Von außen betrachtet scheint bisweilen kirchliche Praxis auch strenger zu sein, als Jesu Handeln es uns zeigt. Wenn ich mich mit Judas und seinem Schicksal ernsthaft auseinandersetze, kann ich davor nicht die Augen verschließen.
Andererseits kann ein Leben mit Jesus regelrecht dramatische Züge annehmen, wie uns der Blick in zahlreiche Heiligenbiographien lehrt. Und dennoch: Aus dem Drama braucht keine Tragödie zu werden. Denn wir dürfen darauf setzen, dass Gott auch auf krummen Zeilen gerade schreiben kann (P. Claudel), mögen sie noch so ungleich und fragmentarisch sein.
(radio vatikan - redaktion claudia kaminski)
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