Eine Schwester im kriegsgeplagten Irak
Von Roberto Cetera
Jerusalem, Juli 2022. Ibtisam Habib Gorgis ist eine irakische Ordensfrau. Sie gehört der Kongregation der Franziskanischen Missionsschwestern vom Unbefleckten Herzen Mariens an. Wir treffen sie in Jerusalem, wo sie sich für den kurzen Zeitraum ihrer Exerzitien aufhält. Ihr Lächeln ist ansteckend, sie spricht wie ein Wasserfall, und ihr Gesicht strahlt Ruhe und inneren Frieden aus – trotz aller Gräuel, für die sie durch den Krieg in ihrem Land zur Zeugin geworden ist.
„Geboren und aufgewachsen bin ich in Karakosch, einer assyrischen Stadt im Norden des Irak, nur 30 km von Mosul und in der Nähe der Ruinen der antiken Stadt Ninive gelegen. Der Dialekt, der dort gesprochen wird, stammt vom Aramäischen ab. Wir sprechen die Sprache Jesu", sagt sie stolz; sie beherrscht aber auch ein korrektes und flüssiges Italienisch, das sie während der Jahre ihres Noviziats gelernt hat. „Karakosch ist eine kleine christliche Enklave im Nordirak mit sowohl assyrischen als auch chaldäischen Traditionen", erklärt sie, „wir haben jedoch mit unseren muslimischen Nachbarn immer in Frieden und gegenseitigem Respekt gelebt."
Wie kommt ein irakisches Mädchen zu der Entscheidung, Ordensfrau zu werden?
Ich hatte das eigentlich nie ins Auge gefasst, denn ich war immer sehr selbstbestimmt, auch wenn ich in einem patriarchalisch-traditionellen Ambiente lebte. Ich hüte meine Freiheit eifersüchtig. Auch jetzt (sie lacht) mit diesem Schleier.
Wie kam es also dazu?
Während meines Biologiestudiums gehörte ich der Gruppe katholischer Studierender an. Ich muss sagen, dass damals unser Leben nicht schlecht war: Nach dem ersten Golfkrieg waren wir zwar vom Rest der Welt abgeschnitten und verstanden nicht, was außerhalb unserer Grenzen vor sich ging, aber wir lebten in Frieden. Tariq Aziz, der Außenminister – der sehr viel Einfluss hatte – war ein chaldäischer Christ und stammte aus Tel Keppe, ganz in der Nähe von Karakosch. Was mir von meinem Engagement unter den jungen katholischen Gläubigen am besten gefiel, war es, den Armen zu helfen. Es machte mir Freude, Gutes zu tun. Es war keine egozentrische Befriedigung, sondern gab mir eher inneren Frieden und zeigte mir den wahrsten Sinn der Menschlichkeit: mit den anderen und für die anderen leben. Ich hatte damals aber noch keinen Platz gefunden, an dem ich mich voll verwirklichen konnte. Eines Tages besuchte uns ein Franziskanerbruder, der einen tiefen Eindruck in mir hinterließ. Ich las die Vita des heiligen Franziskus, und ein kleines Licht ging in meinem Herzen an.
Dann kamen zwei italienische Schwestern, die mich einluden, ihr Kloster in Jordanien zu besuchen. In der Zwischenzeit hatte ich das Alter erreicht, in dem man in meiner Heimat heiratet, aber… aber ich wollte frei sein. Als meine Familie ahnte, dass mein Blick in eine andere Richtung ging, wurde sie starr vor Schreck. „Das ist meine Tochter, nicht eure", sagte mein Vater an der Haustür zu den Schwestern und hinderte sie am Eintreten. Nach vielem Bitten gab mein Vater schließlich auf und ließ mich nach Jordanien reisen. Wegen des Embargos, in dem sich unser Land befand, dauerte die Reise, auf der mich mein Onkel begleitete, 18 Stunden.
Der Anfang war nicht einfach: Ich verstand nicht viel von der Sprache, musste Italienisch lernen; die Schwestern folgten dem syrischen und nicht dem lateinischen Ritus, und deshalb verstand ich von der Messe, Laudes oder Vesper gar nichts. Vor allem war es eine Lebensordnung, die ich nicht kannte. Der wahre Wendepunkt, das mag jetzt albern scheinen, war das Abschneiden der Haare; ein wahrer Bruch mit meinem früheren Leben. Trotz aller Schwierigkeiten, die zu überwinden waren, spürte ich einen wachsenden Seelenfrieden. Normalerweise wecken Veränderungen im Leben Unruhe und Angst, stattdessen brachte mir diese doch radikale Veränderung viel Frieden. Vier von uns kamen aus Karakosch, was mir ein Trost war. Zumindest konnte ich mit jemandem sprechen, der mich verstand. Nach neun Monaten durfte ich nach Hause und meine Eltern wiedersehen. Dann wurde ich zum Noviziat nach Italien geschickt.
Danach bist du in den Nahen Osten zurückgekehrt?
Ja, zuerst sandte man mich ins Heilige Land, nach Betlehem und Nazaret, und dann nach Bagdad, um als Erzieherin zu arbeiten. Bis zu jenem schrecklichen 6. August 2014. Ich hielt mich gerade in meiner Heimatstadt auf. Der sogenannte Islamische Staat war in die Gegend von Ninive eingedrungen. Es gab in den Häusern weder Strom noch Wasser. Auf einmal hörten wir eine Explosion. Ein Haus am Stadtrand war von einer Rakete getroffen worden. Wir liefen sofort hin und fanden nur noch Trümmer und Leichen. Nachdem die Toten bestattet worden waren, begann die große Flucht. 50.000 Menschen – ohne Unterschiede in Bezug auf Religion und Politik – verließen die Häuser und die Stadt. Die Horrorgeschichten, die wir aus den schon vom Islamischen Staat besetzten Gebieten hörten, ließen keine andere Option als die Flucht. Der Islamische Staat sollte bei seiner Ankunft in Karakosch niemanden mehr vorfinden. Wir verhalfen so vielen Menschen wie möglich zur Flucht, mit allen Mitteln. Aus der ganzen Region Ninive setzten sich 120.000 Menschen in Bewegung Richtung Kurdistan.
Wir Schwestern blieben bis zuletzt, sowohl um den Obdachlosen zu helfen als auch weil wir nicht wussten wohin. Wir schliefen auf der Straße, um zur Flucht bereit zu sein. Dann befahl uns der Bischof abzureisen: Wir verließen Karakosch als letzte um zwei Uhr nachts, und um fünf Uhr besetzten die ersten Vorposten des Islamischen Staats den Ort.
Wenn die Milizen in eine Stadt kamen, gaben sie drei Optionen: Muslime werden, bezahlen oder sterben. Fast jede Familie hat einen Toten zu beklagen. Ein Viertel der Häuser wurde in Brand gesteckt, alle jedoch geplündert und die Kirchen zerstört. Mit der ganzen katholischen Kirche haben wir gearbeitet, um den Obdachlosen zu helfen; sie mussten monatelang in Zelten oder Behelfsquartieren leben. Dann wurden wir wieder ins Heilige Land geschickt und haben die jordanische Grenze überquert. Die Nacht dauerte über zwei Jahre: Karakosch wurde am 19. Oktober 2016 während des Kampfs um Mossul befreit. Danach sind einige Einwohner zurückgekehrt, aber viele andere nicht, vor allem jene nicht, die im Ausland Zuflucht gefunden hatten. Heute ist die Situation immer noch erbärmlich: Der Wiederaufbau kommt nur langsam voran, es gibt keine Arbeit und viel Armut.
Franziskus hat uns ins Leben zurückgeführt
Und was machst du heute, Schwester Ibtisam?
Heute lebe ich wieder in meinem Land und leite zusammen mit zwei Mitschwestern einen Kindergarten mit über 500 Kindern. Der Besuch von Papst Franziskus im vergangenen Jahr war ein wesentlicher Übergang in unserem Dasein. Er hat uns Atem wiedergegeben! Zum ersten Mal nach Jahren haben wir gespürt, dass da jemand ist, der sich wirklich um uns kümmert, jemand, der uns mag. Er ließ uns spüren, dass wir ein Wert für die Kirche sind. Wir sind am Leben und im Glauben. Er gab uns Stolz vor den anderen Religionen, vor den Muslimen, die wie wir vor den Gewalttaten des Islamischen Staats geflohen waren. Erst als wir Papst Franziskus in diesem Land, hier neben uns gesehen und berührt haben, realisierten wir, dass es vorbei war. Es war tatsächlich vorbei, und jetzt können wir ein neues Kapitel aufschlagen. Papst Franziskus hat uns keinen „Besuch" abgestattet; es war eine Rückführung ins Leben.
#sistersproject
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