Renovabis warnt vor Aufflammen neuer Konflikte im Kaukasus
Christine Seuss - Vatikanstadt
Die derzeit stückweise eskalierenden Grenzkonflikte im Kaukasus finden kaum Beachtung in den internationalen Medien, doch die Folgen der Scharmützel könnten auch Europa schwer treffen, während vor allem die an den geopolitischen Machtspielen unbeteiligten Zivilisten vor Ort unter den Folgen leiden. Renovabis fordert deshalb von Europa und insbesondere Deutschland ein entschiedeneres Eintreten als „Friedensmacht“ und eine größere Einflussnahme auf die beteiligten Akteuere.
Insbesondere die jüngsten militärischen Auseinandersetzungen zwischen Aserbaidschan und Armenien sowie im Grenzgebiet zwischen Kirgistan und Tadschikistan auf der Ostseite des Kaspischen Meeres sieht das Hilfswerk mit großer Sorge. Hauptgeschäftsführer Pfarrer Thomas Schwartz war in der vergangenen Woche zu Besuch in Georgien und konnte sich in Gesprächen mit lokalen und internationalen Projektpartnern selbst ein Bild von der Lage machen.
„Die Stimmung im Blick auf Armenien selber ist momentan ziemlich gedrückt“, erläutert uns Schwartz im anschließenden Interview, „weil die Armenier im Moment natürlich der Meinung sind, dass die Aufmerksamkeit der Welt sich nur sehr einseitig auf den großen Konflikt zwischen der russischen Föderation und der Ukraine hin konzentriert und die Fragestellung und die Probleme, die das kleine Kaukasusland Armenien mit seinen Nachbarn im Moment austragen muss, einfach gar nicht auf dem Radar der Öffentlichkeit stehen.“
Denn die Kämpfe in der Region gehen mittlerweile über Bergkarabach hinaus, die umstrittene Gegend zwischen Armenien und Aserbaidschan, die in den 1990er Jahren durch Armenien besetzt wurde und die im Krieg von 2020 zu größeren Teilen wieder durch Aserbaidschan zurückerobert werden konnte. Völkerrechtlich war die Annektierung durch Armenien nie anerkannt worden, doch der Zankapfel schwelt schon lange in der Region.
„Aber viele Armenier haben mittlerweile verstanden, dass dieses Gebiet tatsächlich staats- und völkerrechtlich nie an Armenien angegliedert werden kann, weil sie damit natürlich auch dasselbe machen würden, was den Russen auf der Krim und in der Ukraine vorgeworfen worden wird“, betont Renovabis-Chef Schwartz.
Deshalb seien die Armenier mittlerweile auch bereit gewesen, in diesem Konflikt Verhandlungen einzugehen, die den dort lebenden Armeniern ein Dasein in Frieden und Autonomie garantieren würden, ohne weiter auf der völkerrechtlichen Annektierung zu beharren. Auch hatte Aserbaidschan im Krieg 2020 große Teile des besetzten Gebietes zurückerobert und somit neue Fakten geschaffen.
„Das was wir jetzt erleben, ist eine ganz andere Situation. Jetzt geht es nicht mehr darum, dass eine widerrechtliche politische Situation durch Aserbaidschan gelöst wird, sondern jetzt geht es durch die Schwäche der russischen Föderation - die sich ja sehr stark auf den Konflikt in der Ukraine zu konzentrieren hat, um dort noch zu retten, was zu retten ist - darum, dass dort nun andere Interessen geopolitischer Natur zum Tragen kommen. Da werden die Aserbaidschaner zusammen mit der Türkei als NATO-Land plötzlich tätig, um an der Südgrenze Armeniens einen noch bestehenden Landkorridor zwischen Iran und Armenien zu erobern, und damit letztlich eigene geopolitische Interessen erfüllen zu können.“
Dahinter stehe die Absicht, Aserbaidschan mit der Türkei zu verbinden, „mit all den geopolitischen Folgen, die das haben kann,“ warnt Schwartz. Gleichzeitig würde so eine faktische Trennung zwischen den einander freundlich gestimmten Ländern Armenien und Iran geschaffen – eine explosive Gemengelage.
Russische Schwäche schafft Machtvakuum
Umso auffallender das Schweigen der Europäischen Union angesichts der Scharmützel vor ihrer Haustür, bemerkt Schwartz. „Viele meiner Gesprächspartner aus Armenien haben mir unter der Hand gesagt, sie wünschten sich nur 1 Prozent oder nur 0,1 Prozent der Aufmerksamkeit für ihre Situation zwischen diesen beiden Ländern Aserbaidschan und der Türkei. Die Türkei ist ja auch noch NATO-Partner und Aserbaidschan ist durch ein großes Gaslieferungs-Abkommen mit der Europäischen Union wiederum auch engster Interessenspartner der Europäer geworden. Sie wünschten sich nur 0,1 Prozent der Aufmerksamkeit, die die Europäische Union und die Völkergemeinschaft insgesamt der Ukraine mit vollem Recht natürlich auch zubilligt, um wahrzunehmen, dass sie hier im Grunde zwischen die Fronten geraten und jetzt sozusagen zum Opfer geworden sind.“
Mangelnde Aufmerksamkeit
Die Interessen und Player, um die es geht, sind mächtig: Die NATO, wirtschaftliche Interessen der Europäischen Union, die neue Partnerschaft des alten Gegners Aserbaidschan mit den Europäern und nun der Versuch Aserbaidschans, „im Grunde die letzte Landverbindung zwischen Armenien und dem Iran erobern“:
„Und das ist eine neue Eskalationsstufe, die wir wahrnehmen müssen, weil bislang ging es darum, völkerrechtlich eindeutige Situationen - leider wieder durch Waffengewalt und nicht durch Verhandlungen - wieder zu korrigieren, also zu sanieren. Jetzt geht es darum, völkerrechtliche Grenzen, die auch von der Völkergemeinschaft garantiert werden müssen – so wie die ukrainischen Grenzen garantiert werden müssen - zu verschieben. Und da wünscht sich Armenien berechtigterweise natürlich auch einen Fokus von UN, OSZE, Europäischer Union und der Völkergemeinschaft.“
Eine neue Eskalationsstufe
Vor diesem Hintergrund sei es „unbedingt nötig, die Instabilität durch Vertrauen bildendes diplomatisches Einwirken zu überwinden“, meint Schwartz. Hier komme der EU eine Schlüsselrolle zu. Als einen ersten Schritt begrüßt Schwartz die Bemühungen des EU-Sondergesandten Toivo Klaar im Südkaukasus, doch vor allem dürfe die EU nicht in eine „Doppelmoral“ verfallen, im Zug der Gaslieferungen durch Aserbaidschan auch hinzunehmen, dass die Armenier zwischen den Fronten zum Opfer würden. „Wir haben gefordert, dass die OSZE Friedenstruppen in diese Konfliktsituation hineinsendet, um tatsächlich für einen Waffenstillstand zu sorgen, auch wenn das Russland aus bekannten Gründen im Moment nicht hinbekommt.“
Es handele sich hier um einen „typischen Fall eines politischen Kollateralschadens“, denn während die Welt mit der Ukraine-Krise beschäftigt sei, fiele diese neue Konfliktlage „unter das Radar“, mit dem Risiko, dass Armenien mit seinem reichen kulturellen und christlichen Erbe zum Opfer geopolitischer Interessen werde, bemerkt Schwartz. „Renovabis hat ja selber keine Interessen, außer die Menschen dort in eine Situation zu bringen, würdig zu leben“, unterstreicht der Hauptgeschäftsführer des katholischen Hilfswerks für Osteuropa.
Grenzüberschreitender Dialog
Gerade deshalb könne Renovabis in dieser Situation auch seine großen Erfahrungen im Blick auf „nachhaltige Versöhnungsarbeit“ einbringen. „Wir haben solche Erfahrungen in Bosnien Herzegowina machen können, in unseren Schulen von Europa, die wir unterstützt haben, wir haben solche Erfahrungen aber auch in den baltischen Ländern machen können, wo wir Unterstützung gegeben haben, miteinander zu sprechen… Renovabis steht als Partner für den Dialog immer zur Verfügung und bringt dann dort auch seine reichhaltigen Erfahrungen aus 30 Jahren Arbeit gerne für das Miteinander zwischen den Partnern ein.“
In den letzten Jahren habe man grenzüberschreitende Dialogprojekte „immer hinbekommen“, auch weil Christen eben „immer jenseits aller Grenzen“ lebten.
Konflikte müssen nicht mit Waffen gelöst werden
„Und dort zu helfen und zu zeigen, wir machen keine Unterschiede in unserem Hilfsförderungen aus politischen Gründen, ist glaube ich schon etwas, was den Mut auch stärken kann, dort Konflikte nicht mit Waffengewalt zu lösen“, unterstreicht der Hauptgeschäftsführer von Renovabis, Pfarrer Thomas Schwartz, im Nachgang seiner Reise in die Region.
(vatican news)
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