D: Neue jüdisch-muslimische Denkfabrik nimmt Arbeit auf
Das Verhältnis von Juden und Muslimen in Deutschland ist mitunter nicht ganz einfach: Wenn zum Beispiel der Nahostkonflikt hochkocht wie im Mai 2021, kann das auch hierzulande zu Spannungen und offener Aggression führen. Konkret wurden seinerzeit in mehreren Städten Synagogen angegriffen. Und nicht zuletzt fühlen sich Jüdinnen und Juden von Antisemitismus auch von muslimischer Seite bedroht. Einerseits. Andererseits gibt es längst feste Freundschaften, gut funktionierende Arbeitszusammenhänge und diverse Netzwerke.
Eines davon ist „Schalom Aleikum“. Das Projekt des Zentralrats der Juden in Deutschland versteht sich als Forum für jüdisch-muslimischen Dialog. Mitte September wurde bekanntgegeben, dass es in eine „Denkfabrik“ umgewandelt worden war. Erforscht werden sollen darin „gesellschaftlich und politisch relevante Themen, die aus jüdischer und muslimischer Perspektive diskutiert werden“. Geplant sind Veranstaltungen, Bücher, Blogbeiträge und Positionspapiere.
Impulse für Debatten
Eingebunden werden sollen Engagierte, Forschungsinstitutionen und Fachleute, um Impulse für Debatten etwa auf politischer Ebene zu geben. Die Initiatoren sehen darin auch eine Stärkung der Demokratie und des Zusammenhalts der Gesellschaft. Eine der ersten Aktionen der neuen Denkfabrik ist die Veröffentlichung des Buches „Flucht und Engagement. Jüdische und muslimische Perspektiven“ am 5. Dezember. „Flucht ist spätestens seit 2015 ein wichtiges Thema - und auch das Engagement der Leute", sagt der Leiter der Denkfabrik, Dmitrij Belkin.
Er war schon Chef von „Schalom Aleikum“, als es noch als Dialogprojekt firmierte. Belkin zählt auf, dass es mehr als 30 Veranstaltungen, fünf Bücher und eine digitale Ausstellung gegeben habe. Zu Wort kamen zum Beispiel muslimische und jüdische Unternehmer und Unternehmerinnen, Menschen in der Gastronomie, Ärzte und Ärztinnen: „Wir haben ein sehr gutes Netzwerk auf beiden Seiten aufgebaut.“ Mit der Weiterentwicklung zur Denkfabrik solle diese Expertise genutzt werden, um Erfahrungen und Entwicklungen zu analysieren.
„Schalom Aleikum“ erhielt eine finanzielle Förderung der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung - zunächst Annette Widmann-Mauz (CDU), jetzt Reem Alabali-Radovan (SPD). „Wir hoffen sehr, dass wir weiter gefördert werden“, sagt Belkin. Derzeit seien zehn Menschen bei der Denkfabrik beschäftigt. Bei deren Gründung im September hatte Alabali-Radovan gesagt, dass die Institution jüdische, muslimische und zusätzlich auch christliche Perspektiven zusammenbringe. „Das stärkt unser Miteinander und den Respekt füreinander.“
Kampf gegen Ressentiments
Seinerzeit bewerteten Zentralratspräsident Josef Schuster und die Sozial- und Islamwissenschaftlerin Yasemin El-Menouar den jüdisch-muslimischen Dialog auch als wesentlich im Kampf gegen antisemitische und muslimfeindliche Ressentiments. Antirassismus und Antisemitismus seien Themen, die Juden und Muslimen in unterschiedlichen Formen begegneten und denen sie gemeinsam entgegentreten könnten.
Es ist nicht die einzige Denkfabrik für jüdisch-muslimischen Dialog in Deutschland: 2019 nahm der Thinktank „Karov-Qareeb“ seine Arbeit auf. Gemeinsam war er vom jüdischen Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk (ELES) und dem muslimischen Begabtenförderungswerk Avicenna entwickelt worden. Im selben Jahr sagte der damalige ELES-Geschäftsführer Jo Frank allgemein zur Kooperation mit Avicenna: „Es bestehen Spannungen zwischen den beiden Religionsgemeinschaften. Aber Juden und Muslime stehen sich nicht so antithetisch gegenüber, wie Nicht-Juden und Nicht-Muslime das oft denken.“
Auf gesellschaftlicher Ebene gebe es mehr Einendes als Trennendes: „etwa die Migrationserfahrung, die religiöse Praxis. Auf politischer Ebene gibt es vieles, über das wir zu streiten haben - manchmal auch schmerzvoll. Wie unser Verhältnis ist, das möchten wir jedenfalls gern selbst bestimmen“, betonte Frank.
Belkin wirft die Frage auf, wie das Gespräch zwischen den Religionen künftig aussehen könnte. Aus seiner Sicht jedenfalls nicht mehr so, wie es vor Jahrzehnten auf christlich-jüdischer Ebene geführt worden sei. Sondern eher so, dass der Dialog eine breitere Öffentlichkeit beteilige und neugierig mache - auf aktuelle Themen in einer säkularer werdenden Gesellschaft, die verstärkt über Social-Media-Kanäle kommuniziert würden. Für Belkin steht fest: „Religion und Politik müssen zusammen gedacht werden, aber nicht in Form von antiquierten Gesprächsformaten der langjährigen Dialogprofis.“ Die neue Denkfabrik sei eine richtige Adresse dafür.
(kna – mg)
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