Euthanasie-Gedenkstätte Hadamar: Geschichte lehrt wachsam sein
Stefanie Stahlhofen - Hadamar/Vatikanstadt
In grauen Bussen wurden damals Menschen, überwiegend mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen, nach Hadamar gebracht, um dann vergast zu werden. Heute ist dort eine internationale Gedenkstätte. Radio Vatikan hat mit dem Leiter, dem Historiker Jan Erik Schulte, gesprochen:
Jan Erik Schulte, Historiker, Leiter internationale Gedenkstätte Hadamar: Die wichtigste Aufgabe dieser Gedenkstätte ist es, die Erinnerung an die Ermordeten, also die Erinnerung an fast 15.000 Menschen wach zu halten, ihrer zu gedenken, die Biografien zu erforschen und auch bekannt zu machen. Das leitet gleichzeitig über zu unserer zweiten wichtigen Aufgabe: Der Bildung. Es kommen sehr, sehr viele Schulklassen zu uns. Wir sind aber auch ein Ort der historischen politischen Bildung, der Erwachsenenbildung. Wir unterrichten über die vergangenen Geschehnisse, über die Ermordeten, aber auch über die Strukturen, die Gedanken, die Haltung, die dahinter stand. Bis hin zu Fragen, die uns heute bewegen, die sich ergeben aus dem vergangenen Geschehen. Um das leisten zu können, sind wir zugleich auch eine Forschungseinrichtung und eine Einrichtung, die eine Dokumentation hat, die eine Sammlung hat, die hier vor Ort auch Archivalien betreut.
Fragen der Ausgrenzung von Minderheiten, oder das Thema Sterbehilfe sind hoch aktuell
Radio Vatikan: Auch heute ist es noch wichtig zu erinnern. Glauben Sie, dass das vielleicht auch zu Veränderungen beitragen können?
Schulte: Ich glaube, der Gegenwartsbezug unserer Arbeit verdeutlicht sich auf unterschiedlichen Ebenen. Ganz wichtig sind wir erst einmal auch als Ansprechpartner für Angehörige der Ermordeten. Das heißt, wenn diese mehr wissen wollen über das, was ihren Vorfahren geschehen ist. Wir haben sehr, sehr viele Anfragen von Angehörigen; 160, 180 Anfragen von Angehörigen oder Angehörigengruppen pro Jahr. Und das ist eine sehr, sehr wichtige Aufgabe für uns.
Dann ist sicherlich auch ganz zentral, dass Fragen, die verbunden sind mit der Euthanasie - mit der Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens -, dass wir diese Fragen auch heute wieder aufgreifen und in die Gegenwart transportieren: Fragen von Ausgrenzung, der Ausgrenzung von Minderheiten. Außerdem die Frage, welche Rhetorik, welche Sprache dazu führt, dass Menschen ausgegrenzt werden. Aber auch natürlich die Frage des Umgangs mit Menschen mit Einschränkungen. Und auch konkrete Fragen wie zum Beispiel Sterbehilfe. Das heißt, wo sind da Grenzen gesetzt? Was lernen wir aus der Vergangenheit? Wir sind sicherlich kein Ort, der Antworten auf all diese Fragen gibt. Aber ich glaube, wir sind ein Ort der Reflexion, wo wir ermöglichen, dass Menschen sich diese Fragen stellen und dort sich kritisch damit auseinandersetzen, und dann diese Fragen mitnehmen in den Alltag. Und ich glaube, das ist ganz, ganz wichtig und ganz zentral für unsere heutige Gesellschaft. Ich glaube, wenn man die Mechanismen deutlich macht, die da hinführen, können Leute sich früher positionieren und erkennen, welche möglicherweise gefährlichen Wege wir beschreiten.
Krieg und Ausgrenzung in Europa auch heute
Wir haben einen Krieg in Europa, wir haben aber auch Ausgrenzung in Europa, wir haben Ausländerfeindlichkeit in Europa. Das sind ja alles Fragen, die man mit Blick auf die Vergangenheit bei uns konkret mit Blick auf die NS-Zeit, aber auch die Vorgeschichte der NS-Zeit, wo wir schon Mechanismen am Werk sehen, die sozusagen verwandt sind. Sicherlich sagen wir nicht, dass man die Geschichte eins zu eins übertragen kann. Aber die Frage, wie man andere Menschen als Unmenschen charakterisiert, wenn man ihnen das Lebensrecht streitig macht, individuell - aber, wie wir jetzt sehen, im großen europäischen Kontext auch sozusagen kollektiv als Gesellschaft, als Nation - das sind doch Erfahrungen, die in der Geschichte schon gemacht worden sind. Und ich glaube, eine wichtige Erfahrung daraus ist, den Anfängen, wenn es möglich ist, zu wehren oder sozusagen, wenn, wie da jetzt der Krieg in der Ukraine schon im Verlauf ist, trotzdem sich immer wieder deutlich zu machen, wie viel Widerstand man dagegen leisten muss, weil sonst diese Entwicklung nicht aufzuhalten ist. Ohne da jetzt schwarzmalen zu wollen. Aber ich glaube, wichtig ist zu erkennen, wo wir stehen und wohin bestimmte Entwicklungen führen können. Ob das immer dahin führt, wissen wir nicht. Wir schauen ja nicht in die Zukunft. Aber die Vergangenheit lehrt uns, glaube ich, da wachsam zu sein und aufzustehen.
Radio Vatikan Wie kann man die Leute dafür sensibilisieren? Gelingt das?
Gedenkstätte kann nicht alle Fragen beantworten, aber sensibilisieren
Schulte: Ich glaube bei einem Besuch in der Gedenkstätte kriegt man nicht Antwort auf alle Fragen. Aber ich glaube, das Wichtige ist die Sensibilisierung, sich damit auseinanderzusetzen. Es wurde versucht, die Euthanasie - die Morde an Menschen mit Einschränkungen, mit Behinderungen, mit psychischen Erkrankungen - geheim zu halten. Aber viele Menschen haben trotzdem diese Informationen bekommen. Ich glaube, heute ist es genauso: Wenn man nachfragt, sich wirklich informieren möchte und auch ein offenes Auge, ein offenes Ohr hat, kriegt man sehr viele Informationen. Man muss das aber zum Teil aktiv unternehmen. Wichtig ist es auch, an diesem Ort deutlich zu machen, was für Mechanismen es gab, um geheim zu halten, dass das ein ganz wichtiger Punkt war bei dieser "Aktion T4" - und später auch in der sogenannten dezentralen Euthanasie. Dass aber die Leute, die sich informieren wollten, schon Informationen bekommen haben.
Wir wissen von Kliniken, Leitungen und von Schwestern und Pflegern in Kliniken, dass sie das erfahren haben und möglicherweise versucht haben, Menschen zu schützen, die nicht auf die Transporte geschickt worden sind. Wir wissen von Angehörigen, die versucht haben, ihre Kinder, ihre Eltern, ihre Verwandten aus Einrichtungen wie Hadamar oder anderen Einrichtungen wieder zurückzuholen, nach Hause zu holen - oder die sie zu Hause versteckt haben. Unglücklicherweise ist das immer eine Minderheit gewesen. Aber wir können deutlich machen, dass es möglich war, aktiv zu werden, schützend einzugreifen, Widerstand zu leisten, ohne sich jetzt selber in Gefahr zu bringen.
Da ist doch die Möglichkeit, auch heute, dass man überlegt, wo kann man selbst aktiv werden, wo sind Gefahren, wo sehe ich Ausgrenzung, wo sehe ich Mechanismen der Rhetorik, wo Menschen sozusagen entmenschlicht werden, alleine schon durch die Sprache? Und wo habe ich Möglichkeiten, dagegen aufzustehen? Wo habe ich im Bekanntenkreis Möglichkeiten zu sagen: ,Okay, diese Sprache ist nicht meine Sprache. Ich möchte dich bitten, das nicht mehr zu sagen. Warum redest du so?`
Was wir lernen können aus der Vergangenheit, ist, dass Möglichkeiten da sind, aktiv zu werden und dass wir das auch heute natürlich in unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung viel besser, viel freier machen können. Aber deswegen sollten wir es auch wahrnehmen.
Radio Vatikan: Es wurde ja die Vergasung hier in Hadamar dann auch eingestellt. Unter anderem war es auch die Kirche, die sich dazu geäußert hat.
Graf von Galen machte die Euthanasie-Morde öffentlich
Schulte: In Fragen der Euthanasie haben die beiden großen Kirchen schon sehr früh dagegen Einspruch erhoben, weil das selbstverständlich mit dem christlichen Menschenbild - jedenfalls für die Masse der Funktionsträger und der Gläubigen - nicht vereinbar war und ist. Das heißt, es gibt einen generellen Widerspruch aus den beiden Kirchen gegen die Euthanasie. Als die Euthanasie dann tatsächlich anlief, 1940, mit den ersten Morden, sind es auch kirchliche Vertreter gewesen, die sehr früh dagegen Stellung bezogen haben. Sie haben Informationen bekommen, sehr früh durch die karitativen Einrichtungen, durch die Anstalten, die selber betreut worden sind von den beiden Kirchen, evangelisch und katholisch. Diese Informationen sind dann bis zu den Bischöfen gelangt, und es hat schon relativ früh Eingaben gegeben: An Parteien, Dienststellen, an Stellen des Staates. Es hat eine ganze Reihe von Briefen gegeben: An das Innenministerium, die Partei, Kanzlei, das Reichs-, Justizministerium und die lokalen oder regionalen Behörden des NS-Staates. Tatsächlich gab es da aber dabei das Problem, dass diese Eingaben in der Regel interne Eingaben waren. Und eigentlich erst in dem Augenblick, wo Kirchenvertreter an die Öffentlichkeit getreten sind, gab es tatsächlich eine Reaktion des Regimes.
Die bekannteste Einlassung in der Öffentlichkeit sind die drei Predigten des katholischen Bischofs von Münster, Graf von Galen, die vielleicht wichtigste am 3. August 1941, wo er eben ganz konkret auf die Euthanasie eingegangen ist, bekannt gemacht hat, dass es diese Mordaktionen gibt und aufgerufen hat, da sozusagen dem Rat in die Speichen zu greifen. Das war publikumswirksam. Diese Rede ist ja weitverbreitet worden, ging quasi um wie ein Lauffeuer. Durch die katholischen Kreise erstmals verteilt im gesamten damaligen Reichsgebiet. Und das ist sicherlich ein Grund, vermutlich nicht der einzige, aber ein Grund gewesen, warum tatsächlich im August - Ende August 1941 - diese zentral organisierte Erwachsenen-Euthanasie, die "Aktion T4", eingestellt worden ist. Das war leider nicht das Ende der Euthanasie-Aktion. Aber da sieht man, glaube ich, ganz deutlich, wie ein öffentliches Einschreiten eines kirchlichen Vertreters, der sozusagen auch die Kirche hinter sich hat, dann gezeigt hat, was möglich gewesen wäre. Das ist vielleicht, wenn Sie so wollen, ein bisschen das große Fragezeichen, was dahinter steht: Warum nicht mehr? Warum nicht vorher, auch in anderen Kontexten? Wo doch da die Kirchen schon eigentlich eine eindeutige Position hatten.
Der damalige Limburger Bischof schrieb einen Brief
Interessant ist auch, dass der Bischof von Limburg, Antonius Hilfrich, auch selbst Informationen bekommen hat über das, was in Hadamar passiert ist, und diese Information weitergegeben hat. Er hat Ende August 1941 auch einen Brief an den Justizminister geschickt. Das war nach der Galen-Predigt. Aus diesem Brief des Bischofs von Limburg an den Reichsjustizminister vom 13. August 1941 zitiere ich einige Auszüge:
„Etwa acht Kilometer von Limburg entfernt, ist in dem Städtchen Hadamar auf einer Anhöhe, unmittelbar über dem Städtchen eine Anstalt, die früher zu verschiedenen Zwecken - zuletzt als Heil- und Pflegeanstalt - gedient hat, umgebaut bzw. eingerichtet worden als eine Stätte, in der nach allgemeiner Überzeugung Euthanasie seit Monaten, etwa seit Februar 1941, planmäßig vollzogen wird." Und etwas weiter unten steht da noch: „Öfter in der Woche kommen Autobusse mit einer großen Anzahl solcher Opfer in Hadamar an, Schulkinder in der Umgebung kennen diesen Wagen und reden:, Da kommt wieder die Mord-Kiste.` Nach der Ankunft solcher Wagen beobachten die Bürger den aus dem Schlot aufsteigenden Rauch und sind von dem ständigen Gedanken an die armen Opfer erschüttert."
Das heißt, die Informationen waren konkret vor Ort vorhanden. Und Bischof Hilfrich - aber überhaupt im kirchlichen Kontext - waren sie bekannt. Und das ist natürlich die Basis gewesen, dafür dass überhaupt eine Öffentlichmachung passieren konnte. Vor allen Dingen natürlich durch die Predigten von Galens vom August 1941.
(vatican news - sst)
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