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Br. Michael Schöpf SJ, Leiter Jesuitenflüchtlingsdienst JRS Rom, im Interview mit Stefanie Stahlhofen von Radio Vatikan/Vatican News Br. Michael Schöpf SJ, Leiter Jesuitenflüchtlingsdienst JRS Rom, im Interview mit Stefanie Stahlhofen von Radio Vatikan/Vatican News 

Jesuitenflüchtlingsdienst: Nicht abschotten

Am 3. Oktober 2013 sind bei einem Bootsunglück vor der italienischen Insel Lampedusa mindestens 360 Migranten und Flüchtlinge ertrunken. Damals war es eine der ersten Tragödien in diesem Ausmaß. Es hieß, so etwas dürfe sich nie wiederholen. Zehn Jahre und zahlreiche Bootsunglücke später wird weiter auf Abschottung gesetzt, nicht nur in Lampedusa. Das kritisiert im Interview mit Radio Vatikan Br. Michael Schöpf SJ, Leiter des internationalen Flüchtlingsdienstes der Jesuiten (JRS).

Stefanie Stahlhofen - Vatikanstadt

Radio Vatikan: Lampedusa ist uns hier in Italien und Europa allen ein Begriff. Aber wie sieht es in anderen Teilen der Welt aus?

Br. Michael Schöpf SJ, Leiter Jesuitenflüchtlingsdienst JRS: Wir haben einen Krieg in Europa. Wir müssen uns fragen, wie die Menschen in der Ukraine tatsächlich die Situation erleben. In der Presse finden wir sehr viele politische Analysen, politische Meinungen. Wo finden wir die Berichte, was es heißt, in dieser Situation zu leben? Es gibt andere verdeckte Situationen dieser Art, zum Beispiel in der Darién-Region in Zentralamerika, wo Leute von Venezuela über Kolumbien und Mexiko an die US amerikanische Grenze kommen. Die Durchquerung des Dschungels ist praktisch unbekannt. Ich war im Süden von Mexiko und habe Menschen getroffen, die wirklich nur mit einem T-Shirt und einer kurzen Hose dort ankamen. Ich habe nie so viele Haut- und Gesichtskrankheiten gesehen wie dort.

Hier im Audio: Michael Schöpf SJ, Leiter Jesuitenflüchtlingsdienst JRS, im Interview mit Radio Vatikan

Indonesien hat UN-Flüchtlingsabkommen nicht unterzeichnet

Ein anderes Mittel der Gewalt ist, einfach die Unsichtbarkeit zu verlängern. Bei meiner letzten Reise in Indonesien habe ich Heimbesuche gemacht für Geflüchtete, die aus Myanmar kamen, und auch aus anderen Ländern, die sich in Jakarta befanden. Die einzige Möglichkeit, die Situation zu lösen, ist Resettlement, also ein anderes Land, das sie aufnimmt - die durchschnittliche Wartezeit dafür beträgt zehn Jahre. Und während dieser Zeit gibt es keine Möglichkeit, wirklich zu überleben, weil die indonesische Regierung das UN-Flüchtlingsabkommen nicht unterzeichnet hat.

Br. Michael SJ im Gespräch mit Rohingya Flüchtlingen (Foto: Christian Ender)
Br. Michael SJ im Gespräch mit Rohingya Flüchtlingen (Foto: Christian Ender)

„Ein anderes Mittel der Gewalt ist, einfach die Unsichtbarkeit zu verlängern“

Ich war bei einer Familie zu Besuch, die 70 oder 100 Euro im Monat gebraucht hätte, um ein kleines Zimmer zu mieten. Das war nicht möglich. Die Eltern mit ihrem neun Monate alten Baby wissen, dass sie im nächsten Monat und auch in den folgenden auf der Straße vor der Moschee schlafen werden.

Begegnung statt Abschottung

Radio Vatikan: Wie können Sie da helfen und was fordern Sie?

Br. Michael Schöpf SJ: Ich glaube, für uns ist es zunächst wichtig, dass in dieser Situation, in der alles in Frage gestellt wird, der Flüchtlingsschutz nicht in Frage gestellt, sondern verbessert wird. Dass es mehr Möglichkeiten gibt, auf legale und sichere Weise Zugang zu Flüchtlingsschutz zu bekommen. Das gilt für das Beispiel in Indonesien, wo es wichtig ist, dass die Regierung die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet. Das gilt aber genauso für uns in Europa und für die USA, wo es wichtig ist, dass wir uns nicht abschotten.

„Für uns in Europa und für die USA ist wichtig, dass wir uns nicht abschotten“

Das Mittel dazu ist die Begegnung. Meine Erfahrung ist: Wenn wir uns tatsächlich auf die Geschichte einer Person, auf die Person selber einlassen, dann wechselt dadurch die Perspektive. Wenn wir nicht dazu bereit sind, betrachten wir es als ein Problem. Wir fragen: ,Was können wir nicht mehr tun?` Und wir fragen nicht:, Was können wir tun in dieser schwierigen Situation?`

Die Lage in Europa

Radio Vatikan: Wie ist die Lage in Europa? Da hat man ja das Gefühl, es hat sich nichts geändert in den vergangenen Jahren. Papst Franziskus hat mehrfach das Gleiche gesagt wie Sie: Dass es auch legale Möglichkeiten geben muss, dass es eine Willkommenskultur geben muss, dass man es nicht als Problem sehen soll, sondern als Bereicherung, dass es Lösungen geben kann. Aber das scheint ungehört zu verhallen....

Br. Michael Schöpf SJ: Zum einen, glaube ich, muss man schon sagen, dass wir in den letzten zwei Jahren in verschiedenen Ländern in Europa eine Situation der  humanitären Großzügigkeit erlebt haben: Viele Menschen haben bei sich zu Hause Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Viele haben ein Zimmer zur Verfügung gestellt, haben geholfen bei Behördengängen und anderen Dingen, die wichtig waren in dieser Situation und die den Menschen aus der Ukraine wieder eine Perspektive gegeben haben. In den letzten ein, zwei Monaten denke ich, dass wir in Europa eine Situation der politischen Panik erleben. Durch extrem rechte Parteien sind wir in eine Situation geraten, in der es scheinbar keine vernünftige Überlegung mehr für Lösungen geben kann.

„Durch extrem rechte Parteien sind wir in eine Situation geraten, in der es scheinbar keine vernünftige Überlegung mehr für Lösungen geben kann“

Ich glaube, das ist zum einen ein falsches politisches Kalkül, weil wir ja immer in der Geschichte erfahren haben, dass wir Migration zwar steuern können, dass wir Migration aber nicht kontrollieren können. Es wird ein Narrativ aufgebaut, das sich selbst nicht einlösen kann und das natürlich dann Ressentiments in der Bevölkerung weckt aufgrund der falschen Versprechungen. Auch glaube ich, dass es in einem politischen Sinn, in einem parteipolitischen Kalkül, eine falsche Lösung ist, weil natürlich Lösungen kopiert werden, die für extrem rechte Parteien stehen und die dort schon das entsprechende Klientel finden.

Br. Michael SJ im Gespräch mit Imam Teuku Nasir in Lampanah, Indonesien (Foto: Christian Ender)
Br. Michael SJ im Gespräch mit Imam Teuku Nasir in Lampanah, Indonesien (Foto: Christian Ender)

„Tatsächliche Lösung für eine Steuerung von Migration anbieten“

In dieser Situation ist es meines Erachtens sehr wichtig, eine tatsächliche Lösung für eine Steuerung von Migration anzubieten. Der Jesuitenflüchtlingsdienst zusammen mit der deutschen Kirche hat zum Beispiel vorgeschlagen, das europäische Asylsystem tatsächlich zu europäisieren, also die Europäische Asylagentur zu der Agentur zu machen, die in allen Ländern der EU die Asylverfahren durchführt. Dazu fehlt der politische Mut und dazu trägt die aktuelle Panikmache mit Sicherheit nicht bei.

Geflüchteten eine Stimme geben

Außerdem ist es wichtig, in diesen Verfahren den Geflüchteten selbst eine Stimme zu geben. Die Erfahrung zeigt: Wenn ich als jemand, der vor extremer Gewalt aus dem Sudan flieht, nicht gehört werde, mit meiner Geschichte, wenn ich als Person nicht ernst genommen werde, dann gibt es natürlich keine Voraussetzungen dafür, dass ich die Entscheidung, die irgendeine Behörde über mein Leben trifft, auch akzeptiere.

Die Akzeptanz hängt von der Bereitschaft der echten Beteiligung von Menschen und ihrer Geschichte an diesen Verfahren ab. Wir sehen das an einem Beispiel an den USA, wo es eine ganz strikte Grenzregelung gab im Rahmen der Corona-Bedingungen und auch noch danach. Die Menschen haben abgewartet, um zu sehen, was passiert. Als sie aber gesehen haben, dass niemand ihre Geschichte anhören wird, versuchen sie jetzt in großen Zahlen über die Grenze in die USA zu gelangen. Und das ist natürlich keine verantwortungsvolle Politik.

„Akzeptanz hängt von der Bereitschaft der echten Beteiligung von Menschen und ihrer Geschichte an diesen Verfahren ab“

Radio Vatikan: Es heißt ja manchmal, dass Unterschiede gemacht werden, dass es „Zwei-Klassen Flüchtlinge" gibt, dass diejenigen aus Europa anders behandelt werden als zum Beispiel aus Afrika. Wie sehen Sie das?

Br. Michael Schöpf SJ: Zunächst muss man positiv sagen, dass beim Angriffskrieg auf die Ukraine tatsächlich ein Mechanismus gegriffen hat, der dort greifen soll: Dass in einer Situation, in der sehr viele Menschen fliehen müssen, tatsächlich auch diese als Kontingent oder de facto aufgenommen werden. Das ist wirklich eine lobenswerte Entscheidung. Die Frage für die Zukunft ist: Für welche anderen Gruppen ist das noch sinnvoll?

Unsere Erfahrung ist, dass sichere, geschützte Wege für Asylverfahren in Europa eingerichtet werden müssen und es nicht dabei die eine Lösung geben kann. Je nachdem, wie der Fluchtweg aussieht und wie die Situation im Herkunftsland aussieht, müssen verschiedene Wege zur Verfügung gestellt werden.

„Je nachdem, wie der Fluchtweg aussieht und wie die Situation im Herkunftsland aussieht, müssen verschiedene Wege zur Verfügung gestellt werden“

Radio Vatikan: Können Sie noch einmal sagen, wie der Jesuitenflüchtlingsdienst konkret hilft und was vielleicht auch jeder von uns tun kann, um zu helfen?

JRS-Projekte in mehr als 50 Ländern

Br. Michael Schöpf SJ: Wir haben Projekte in 58 Ländern mit etwa 8.500 Mitarbeitenden. Davon sind mehr als ein Drittel Geflüchtete selbst. Ich glaube, das wirft auch noch mal ein anderes Bild auf die Organisation und zeigt, wie die Begleitung von Geflüchteten das Zentrum unserer Arbeit ist: Wir sind keine Fachorganisation für medizinische oder andere Zwecke. Wir entwickeln aus dieser Begleitung heraus Programme. Jeder, der bereit ist, da mitzumachen, ist sehr herzlich willkommen.

Ich möchte Ihnen ein Projekt als Beispiel nennen, das wir in Frankreich seit vielen Jahren haben. Das nennt sich Welcome. Es ging darum, die Not von Geflüchteten, die auf der Straße leben, zu lindern. Die Lösung war nicht, ein neues Obdachlosenheim zu gründen. Die Lösung war, Familien zu bitten, Geflüchtete für eine Zeit lang bei sich aufzunehmen. So gibt es viele Dinge, mit denen sich jeder engagieren kann. Wir sind gerne bereit, das Passende zu finden.

Erwartungen an die Synode

Radio Vatikan: Kommen wir noch auf ein ganz anderes Thema: Die Welt-Bischofssynode hier in Rom und im Vatikan mit Papst Franziskus. Wie sind Ihre Erwartungen an die Synode?

Br. Michael Schöpf SJ: Ich bin natürlich kein Experte für eine Synode, aber mir wurde die Frage vorher schon mal gestellt und ich habe darüber nachgedacht. Dabei kamen mir drei Erfahrungen in den Sinn aus meiner eigenen Arbeit, die, glaube ich, im Rahmen der Synode auch wichtig sind.

„Es geht nicht um eine Politik, um irgendwelche Papiere, sondern es geht um das echte Zuhören“

Das erste ist das Zuhören. Es geht nicht um eine Politik, um irgendwelche Papiere, sondern es geht um das echte Zuhören in diesem Sinne. Das Gleiche, was ich als Grundbedingung für Flüchtlingshilfe sehe, das Eintreten in eine Beziehung.

Das Zweite ist tatsächlich, dass ich durch diese Beziehung auch selber verändert werden kann. Wenn ich eine Stunde einem Geflüchteten, einer geflüchteten Familie in Indonesien gegenübersitze, wo ich weiß, die wird die nächsten Monate auf der Straße schlafen, dann verändert mich das als Person und es verändert auch meine Perspektive. Ich hoffe, dass ähnliche Erfahrungen auch in der Synode gemacht werden können.

Und der dritte Aspekt ist wirklich die Frage der Diversität, die ich als eine große Herausforderung sehe. Und hier, glaube ich, bildet die Synode in einer gewissen Weise auch ab, was unsere Gesellschaften beschäftigt.

(vatican news)

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03. Oktober 2023, 11:43