Das Bundeshaus in Bern Das Bundeshaus in Bern  (AFP or licensors)

Schweiz: „Elite-Basis-Religionsgraben“ im Parlament

In der Schweiz zeigt sich ein „Elite-Basis-Religionsgraben“ im Parlament: 34 % der Bevölkerung sind konfessionslos, 75 % der Parlamentsmitglieder gehören einer Kirche an. Diese Diskrepanz deutet auf eine deutliche Überrepräsentation christlicher Gruppen im politischen System hin. Die Zahlen werfen Fragen zur Ausgewogenheit und Repräsentation der verschiedenen religiösen und konfessionslosen Gruppen auf.

Romano Pelosi – Vatikanstadt

Laut der Basler Zeitung sei in der Schweiz am 26. Januar „ein religiöser Kipppunkt“ erreicht worden. An jenem Morgen hat das schweizerische Bundesamt für Statistik seine neue Religionsstatistik verschickt, welche jährlich erhoben wird. Eine der Haupterkenntnisse: Erstmals stellen Menschen, die sich keiner Kirche zugehörig fühlen, die größte Bevölkerungsgruppe dar. 34 Prozent der schweizerischen Bevölkerung gehört 2024 keiner Kirche an; vor 50 Jahren waren es 1 Prozent. Die Anteile der römisch-katholischen und der evangelisch-reformierten Landeskirchen sind zwischen 2010 und 2022 um 7 Prozentpunkte zurückgegangen, während der Anteil jüdischer Glaubensgemeinschaften konstant geblieben ist und die muslimischen Gemeinschaften leicht zugenommen haben. Allerdings hat der Anteil von Personen ohne Religionszugehörigkeit um 13 Prozent zugenommen. 

Religiöse Vitalität im Parlament

Einen gesellschaftlichen Teilbereich, in dem Kirchenmitglieder die Mehrheit stellen, scheint es in der Schweiz aber noch zu geben: Das Bundeshaus in Bern, das die beiden Parlamentskammern beherbergt, den National- und Ständerat. 75 Prozent der 246 Parlamentsmitglieder sind Kirchenmitglieder. Das Forscherteam rund um Professor Adrian Vatter hat diese Zahlen erhoben. Vatter ist Professor für Schweizer Politik an der Universität Bern und Verfasser zahlreicher Studien über das politische System der Schweiz. Die neusten Zahlen zur Religionszugehörigkeit im Parlament wurden im Rahmen von Vatters aktualisierter und erweiterter Neuauflage des Buches „Das politische System der Schweiz“ erhoben, welches im September erscheint.

„Das Parlament ist noch nie ein Mikrokosmos der Bevölkerung gewesen. Es existiert ein Elite-Basis-Religionsgraben“

Vatter stellt diverse Überlegungen zur Verteilung der Kirchenzugehörigkeit im Schweizer Parlament an: Einerseits zeigen die neuen Zahlen einer Untervertretung nicht-christlicher Gruppen aber auch Konfessionsloser, welche in der Schweiz aktuell den größten Anteil stellen. Im schweizerischen Parlament sitzen derweil lediglich jeweils zwei jüdische und muslimische Parlamentarier. Allerdings sei in punkto ausgewogener Repräsentation der Bevölkerung in der Schweizer Legislative ein gewisser Nachholbedarf: Das Parlament sei laut Vatter noch „nie ein Mikrokosmos der Bevölkerung“ gewesen, denn viele Mitglieder gehörten einer gesellschaftlichen Oberschicht an, einer Elite, die durchschnittlich wohlhabender sei und einen distinkten Habitus vorweise. „Auch in Sachen Religion erfüllen sie eher althergebrachte Erwartungen“, wird Adrian Vatter zitiert und benennt einen „Elite-Basis Religionsgraben“.

Verschiedene Parlamentarier bekräftigen, dass ihre Konfession die politische Entscheidungsfindung nicht unverhältnismässig beeinflusst
Verschiedene Parlamentarier bekräftigen, dass ihre Konfession die politische Entscheidungsfindung nicht unverhältnismässig beeinflusst

Religiöse Menschen als Solidaritätsressource

Der Parlamentarier der Evangelischen Volkspartei (EVP), Marc Jost, liefert eine alternative Erklärung: Religiöse Menschen engagierten sich eher gesellschaftlich. Jost stützt seine These auf diverse Studien. Eine 2023 von der deutschen Bertelsmann-Stiftung erhobene Studie mit dem Titel „Ressourcen für Solidarität“ hat die Solidarität als Dimension des gesellschaftlichen Zusammenhaltes in Deutschland untersucht. Die Analyse stütze sich auf den sogennanten Religionsmonitor 2023. Bereits seit 1990 untersucht die Bertelsmann Stiftung die Religion als Wertevermittler für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Im Jahr 2007 initiierte die Bertelsmann Stiftung mit dem Religionsmonitor ein neues Messinstrument, um die Rolle der Religion empirisch zu untersuchen. In über 20 Ländern haben insgesamt mehr als 20.000 Menschen berichtet, welche Rolle Glaube und Religion in ihrem Leben einnehmen. Die 2023 erschienene Studie postuliert „stabile Solidaritätsressourcen“ – die Studie trägt den Untertitel „Religion macht den Unterscheid“. Ein Kernergebnis der Untersuchung lautet, dass Religion gesellschaftliche Solidarität stärkt. 31 Prozent der christlichen Befragten hatten sich im Befragungszeitraum ehrenamtlich engagiert, während es bei den Konfessionslosen die Hälfte war, rund 17 Prozent: „Das zeigt, dass religiöse Prägung und die damit verbundenen Gemeinschaftserfahrungen auf die Gemeinwohlorientierung der Menschen nachwirken“, schlussfolgern die Studienautoren. Religiöse Angebote, Projekte und Gemeinden setzten Gelegenheitsstrukturen voraus, welche eine solidarische Grundhaltung förderten, aber auch an solidarische Grundhaltungen gekoppelt seien, die durch eine religiöse Überzeugung gefördert wird.

Religiöse Momente im Bundeshaus

Trotzdem gibt es im parlamentarischen Betrieb im Bundeshaus zwei Gelegenheiten, die religiöse Einflüsse zeigen. Zum einen legen viele Abgeordnete einen religiösen Amtseid ab. Zudem halten zwei reformierte und zwei katholische Geistliche während der Sitzungswochen regelmäßig Andachten für die Parlamentarier. Zusätzlich existiert eine parlamentarische Gruppe namens „Christ und Politik", die jedoch keinen Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung hat. Das politische System der Schweiz zeichnet sich durch das sogenannte Milizprinzip aus, welches eine zentrale Rolle in der Funktionsweise der schweizerischen Demokratie spielt. Dieses Prinzip bedeutet, dass politische Ämter und Mandate in der Regel von Bürgerinnen und Bürgern nebenberuflich ausgeübt werden, anstatt von hauptberuflichen Politikern.

Im Bundesrat, dem Regierungsorgan der Schweiz, sind die Kirchen noch stärker vertreten als im Parlament. Lediglich Beat Jans (SP) gibt an, konfessionslos zu sein. Die beiden Landeskirchen halten sich die Waage: Elisabeth Baume-Schneider (SP), Guy Parmelin und Albert Rösti (beide SVP) gehören der evangelisch-reformierten Kirche an, während Viola Amherd (Mitte), Ignazio Cassis und Karin Keller-Sutter (beide FDP) römisch-katholisch sind.

Beat Jans aus der sozialdemokratischen Partei ist der einzige konfessionslose Bundesrat
Beat Jans aus der sozialdemokratischen Partei ist der einzige konfessionslose Bundesrat

Europaweite Säkularisierung

Säkularisierende Effekte auf die Gesamtgesellschaft kann man auch in Deutschland beobachten. Laut dem Zensus des Statistischen Bundesamtes sind Mitglieder der christlichen Kirchen mittlerweile eine Minderheit in Deutschland. Nur noch 48 Prozent der Bevölkerung sind entweder katholisch oder evangelisch. Das bestätigt der Soziologe Michael Hermann in seinem Artikel für Vatican News: 25 % der Deutschen gehören der katholischen Kirche an, 23 % der evangelischen Kirche. Diese 48 % sind weniger als die Hälfte der Gesamtbevölkerung. Der Zensus enthält jedoch keine Angaben zu anderen Religionen, wie dem Islam, da dieser nicht als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt ist und daher keine Meldepflicht besteht. Schätzungen zufolge leben etwa 4 bis 5 Millionen Muslime in Deutschland.

Obwohl die Mitgliederzahlen der christlichen Kirchen in Deutschland sinken, bedeutet dies nicht zwangsläufig das Ende der christlichen Grundlagen. Viele Menschen treten aus der Kirche aus, um sich von Missbrauchsskandalen zu distanzieren oder die Kirchensteuer zu vermeiden, was jedoch nicht immer auf eine abnehmende religiöse Bindung hinweist. Es gibt Hinweise darauf, dass viele Menschen trotz zunehmender Säkularisierung an ihrem Glauben festhalten, auch wenn sie die institutionelle Kirche verlassen. Die Akzeptanz religiöser Autoritäten nimmt ab, was Teil eines Trends zur Individualisierung ist.

Das deutsche Grundgesetz beginnt mit den Worten: Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen
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Diese Entwicklung ist besonders in Mitteleuropa ausgeprägt. Der Religionssoziologie wird manchmal ein eurozentristischer Blick vorgeworfen, der globale Unterschiede nicht ausreichend berücksichtigt. Kirchenaustritte bedeuten nicht zwangsläufig den Verlust des Glaubens; religiöse Praxis verlagert sich oft ins Private oder zu alternativen Gemeinschaften wie Freikirchen. Dies zeigt eine zunehmende religiöse Pluralisierung innerhalb und außerhalb des christlichen Spektrums.

(baz/kath.ch/diverse – rp)

 

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24. Juli 2024, 16:12