Kirchenhistoriker: Kyiv setzt politisches Signal gegen Moskau
DOMRADIO.DE: Die deutsche Ostkirchenexpertin Regina Elsner kritisiert, dass dieses neue Gesetz die Tür für schwere Verletzungen der Religionsfreiheit und eine neue Spaltung in der Ukraine öffne. Hass und Gewalt gegen Gläubige der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche (UOK) fänden so eine öffentliche Legitimation. Wie blicken Sie auf das neue Gesetz?
Andriy Mykhaleyko (Priester der mit Rom unierten Ukrainischen griechisch-katholischen Kirche, Kirchenhistoriker und außerordentlicher Repetitor am Collegium Orientale der Diözese Eichstätt): Ich sehe dieses Gesetz als Folge von sehr komplexen Entwicklungen, die nicht erst in den letzten paar Jahren, sondern seit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine 1991 passiert sind. Danach etablierten sich in der Ukraine mehrere orthodoxe Kirchen. Die größte war davon die Ukrainische-Orthodoxe Kirche, die – das weiß man immer noch nicht genau – mit dem Patriarchat von Moskau verbunden war oder ist. Diese Kirche galt in der Zeit der letzten 30 Jahren, also seit der Unabhängigkeit der Ukraine, in der öffentlichen Wahrnehmung vieler Menschen, die antirussisch eingestellt waren, in der Ukraine als eine Art fünfte Kolonne Russlands; also als eine Institution, die über ihre Infrastruktur auch russische Einflüsse verbreitet.
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine 2022 verschärfte sich diese Kritik an die Adresse dieser Kirche. Für die Politik und viele Parlamentarier war dieses neue Gesetz zum Verbot der Tätigkeit von Organisationen, die mit Moskau oder mit der Russisch-Orthodoxen Kirche verbunden sind, ein logischer Schritt und Folge dieses Denkens. Das Gesetz wird als ein Versuch gesehen, sich von diesen Einflüssen endgültig zu befreien.
DOMRADIO.DE: Seit 2018 gibt es auch die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU), die u.a. vom Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel als eigenständig anerkannt worden ist. Glauben Sie, dass durch dieses Gesetz die OKU auf Kosten der UOK größer und bedeutender gemacht werden soll? Wie ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Kirchen?
Mykhaleyko: Das Verhältnis ist angespannt. Es war schon immer angespannt. Auch als die neue Kirche 2018 errichtet wurde, hat sich das Verhältnis nicht gebessert. Beide Kirchen bleiben bei ihren eigenen Überzeugungen und Positionen. Ich glaube nicht, dass dieses Gesetz eine Massenbewegung von der einen zur anderen Kirche bewirken wird, weil das Problem nicht im Bereich des Gesetzes oder der rechtlichen Lage dieser Kirchen liegt.
Das Problem liegt darin, dass sich beide Lager 30 Jahre lang theologisch oder ekklesiologisch bekämpft haben. Es ist nicht einfach, in den Köpfen der Geistlichen oder der Gläubigen auf einmal alles zu ändern, sodass sie praktisch von einem Lager zum anderen rübergehen. Das glaube ich nicht.
DOMRADIO.DE: Halten Sie es für möglich, dass Gemeinden der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche in den Untergrund abwandern und dort weiter existieren?
Mykhaleyko: Wenn der Staat dieses Gesetz konsequent durchsetzen würde, kann ich mir gut vorstellen, dass ein Teil oder manche Gemeinden in den Untergrund gehen würden. Das schließe ich nicht aus, weil es sicherlich sehr traditionelle Gemeinden und Gläubige gibt, die sich sehr stark an ihre Gemeinde oder Konfession binden.
Aber die Gesetzeslage und auch das Verhältnis zwischen Kirche und Staat sind in der Ukraine sehr komplex. Daher ist es wichtig zu wissen, dass man in der Ukraine eine Kirche als solche nicht verbieten kann. Das geht nicht.
DOMRADIO.DE: Also sehen Sie dieses Gesetz auch nicht als Eingriff in die Religionsfreiheit, wie häufig kritisiert wird?
Mykhaleyko: Nicht direkt, weil man in der Ukraine nur einzelne Gemeinden, einzelne Pfarreien auflösen kann, aber nicht die ganze Kirche, weil aus Sicht des ukrainischen Staates die einzelnen Kirchengemeinden juristische Personen sind und nicht die Kirche als solche. Die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche ist dem Staat gegenüber keine juristische Person.
Das heißt, man müsste zur Umsetzung eines Verbotes der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche über dieses Gesetz alle neun- bis zehntausend Gemeinden einzeln verbieten, was aus meiner Sicht eigentlich nicht möglich ist. Denn das Gesetz sieht in jedem einzeln Fall eine Prozedur vor, in der zunächst eine staatliche Kommission beurteilen muss, ob eine bestimmte Kirchengemeinde tatsächlich Verbindung mit Moskau hat.
Danach kommt es zu einem Gerichtsprozess, indem darüber abgeurteilt wird. Und dann gibt es natürlich die Möglichkeit der Appellation [Anm. d. Red.: Berufung in Zivil- und Strafprozessen]. Das heißt, bei einem vollständigen Verbot der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche reden wir über mindestens 9.000 Sitzungen der Kommissionen, denen dann 9.000 Gerichtsprozesse und 9.000 Berufungsverfahren folgen. Das ist einfach kaum vorstellbar, dass ein Staat, dass der ukrainische Staat jetzt nichts anderes zu tun hat, als sich darum zu kümmern.
Ich glaube, es gibt in der Ukraine viel ernsthaftere Probleme und andere Sorgen. Daher sehe ich dieses Gesetz grundsätzlich als ein politisches Signal. Im Großen und Ganzen soll damit gezeigt werden, dass die Ukraine praktisch keine Einflüsse Moskaus haben will, und diese sollen durch das Gesetz reduziert werden.
DOMRADIO.DE: Welche Auswirkungen hat das Gesetz auf das Zusammenleben von ukrainischen Christen der unterschiedlichen Konfessionen im Ausland?
Mykhaleyko: Das Gesetz wird sicherlich in begrenztem Maße und Umfang einen Einfluss haben, vielleicht auch auf das Leben der Christen hier in Deutschland. Viele, die als Flüchtlinge in den letzten zwei, drei Jahren nach Deutschland gekommen sind, waren nicht unbedingt stark mit einer religiösen Gemeinschaft verbunden. Sie wissen wahrscheinlich zwar, dass sie orthodox sind, aber ich glaube nicht, dass die Mehrheit von ihnen einordnen kann, zu welcher orthodoxen Kirche sie in der Ukraine gehören.
Für diese Menschen ist es wahrscheinlich momentan viel wichtiger, hier eine gewisse ukrainische Heimat zu finden. Wenn Sie diese Heimat in einer bestimmten orthodoxen oder auch einer griechisch-katholischen Gemeinde finden, werden sie sich dort wohlfühlen. Ich glaube nicht, dass es eine große Verwirrung verursachen wird, sondern dass eher gewisse Spannungen vorkommen können.
Das Problem ist, dass es in Deutschland bis 2022 nur zwei Optionen für Menschen aus der Ukraine gab. Zum einen hat die griechisch-katholische Kirche ihre Strukturen in Form eines Exarchats mit dem Zentrum in München in Deutschland. Zum anderen hat die Russisch-Orthodoxe Kirche seit langer Zeit eigene Struktur in Deutschland.
Seit 2022 werden die Strukturen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche erst aufgebaut bzw. neue Gemeinden gegründet. Dasselbe gilt für neu gegründete Gemeinden der Orthodoxen Kirche der Ukraine, die laut der Vereinbarung mit dem Patriarchat von Konstantinopel außerhalb der Ukraine keine Gemeinden gründen dürfen.
Das ist alles sehr komplex und kompliziert, aber zusammenfassend würde ich sagen, dass ich nicht glaube, dass das Gesetz große Verwirrung oder Spannungen in Deutschland bewirken wird.
DOMRADIO.DE: Glauben Sie, dass die Zersplitterung der christlichen Konfessionen in der Ukraine auch dann noch Bestand haben wird, wenn der Krieg irgendwann einmal vorbei ist?
Mykhaleyko: Das denke ich nicht. Ich beurteile das jetzt als Kirchenhistoriker. Von daher wäre das für mich auch nicht wünschenswert, weil sich diese konfessionelle Vielfalt der Ukraine immer positiv auf die Zivilgesellschaft ausgewirkt hat; insbesondere auf die Bestrebung, ein demokratisches Land zu bleiben.
Wenn es in der Ukraine nur eine einzige Konfession oder nur eine einzige Kirche gäbe, wäre die Gefahr groß, dass eine Ukrainisch-Orthodoxe Kirche im politischen Sinne zu einer Art "Moskauer Patriarchat" in der Ukraine wird und dass ein Staat immer wieder versuchen könnte, diese Kirche für eigene politische Zwecke zu manipulieren, zu instrumentalisieren und einzusetzen. Mir wäre ein gutes Miteinander in der Vielfalt der Konfessionen lieber.
Das Interview führte Jan Hendrik Stens.
(domradio - mg)
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