Unser Sonntag: Der Ruf Gottes
Dr. Norbert Feinendegen
28. Sonntag im Jahreskreis Lesejahr B
Evangelium: Mk 10,17-30
Liebe Schwestern und Brüder, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie dieses Evangelium hören. Ich finde diesen Text ganz schön herausfordernd.
Sind das nicht unglaublich harte Worte, die Jesus da an uns richtet: „Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt“?
Ich lebe, wie vermutlich die meisten von Ihnen, in einem Wohlstand und einer materiellen Sicherheit, die zur Zeit Jesu selbst für die allermeisten Reichen unvorstellbar gewesen wären. Die Frage, wie es dann um meine Eignung für das Reich Gottes steht, betrifft mich also ganz unmittelbar – und meine Familie und die meisten meiner Freunde ebenfalls. Wenn Jesu Aufforderung, alles zu verkaufen und es unter den Armen zu verteilen, auch mir gilt, dann muss ich zugeben, dass ich zu jenen gehöre, die nur durch einen Gott gerettet werden können, für den auch das Unmögliche möglich ist.
Ich bin mir aber nicht sicher, dass das wirklich so gemeint ist. An anderen Stellen in den Evangelien scheint Jesus nämlich die Messlatte im Umgang mit unserem Vermögen um einiges niedriger zu legen.
Zachäus gibt zu viel Gefordetes zurück
Für Zachäus reichte es zum Beispiel, das von den Steuerpflichtigen zu viel Geforderte mit Zins und Zinseszins zurückzugeben und die Hälfte seines Reichtums unter den Armen zu verteilen. Das war genug, um von Jesus bescheinigt zu bekommen, seinem Haus sei an diesem Tag das Heil geschenkt worden. Auch das ist natürlich nicht wenig, ich denke, wir können aber davon ausgehen, dass Zachäus danach immer noch zur Gruppe der Vermögenden in Jericho gehört hat. Von anderen vermögenden Juden oder Römern ist uns überhaupt nicht überliefert, dass Jesus eine solche Forderung an sie gestellt hätte, auch wenn er sie ausdrücklich lobt.
Offenbar geht es also nicht nur um die Größe unseres Vermögens, sondern auch um unseren Umgang mit ihm. Dass Gott hier nicht von allen dasselbe fordert, zeigt sich nach meiner Ansicht auch im heutigen Evangelium. Der junge Mann, um den es geht, hat offenbar bereits von Jesus gehört. Und er ist auch überzeugt, dass Jesus befugt ist, im Namen Gottes zu sprechen. Er fällt vor ihm auf die Knie und nennt ihn Rabbuni, Meister, also einen in der Schrift gelehr-ten Mann, der das Gesetz des Mose kennt und es authentisch auslegen kann. Der Jüngling steigert seine Ehrerbietung noch, indem er Jesus als „guten Meister“ bezeichnet; er erkennt ihm also offenbar eine größere moralische Autorität und Heiligkeit zu als anderen Rabbinern.
Gott: Ursprung und Quelle alles Guten
Die Bezeichnung „gut“ weist Jesus allerdings zurück: Gott allein kommt es zu, im Vollsinn des Wortes „gut“ genannt zu werden, das heißt der Ursprung und die Quelle alles Guten. Was will dieser junge Mann nun von Jesus? Ihn treibt etwas um, und zwar so sehr, dass es ihm keine Ruhe lässt, nämlich die Frage nach dem ewigen Leben. Er weiß auch, was die Schrift dazu sagt: Es ist das Halten der Gebote Gottes, wie sie im Dekalog zusammengefasst sind, welches einem gläubigen Juden den Weg zum ewigen Leben weist. Zumindest ist das für die Pharisäer so; andere zeitgenössische Gruppierungen im Judentum wie zum Beispiel die Sadduzäer glaubten gar nicht an eine Auferstehung der Toten.
Dass der junge Mann das weiß, zeigt sich daran, dass er, nachdem Jesus ihn an diese Gebote erinnert hat, bekundet, sie alle von Jugend an befolgt zu haben. Ich weiß allerdings nicht, ob Sie es bemerkt haben: Jesus nennt in seiner Antwort nur die Gebote des Dekalogs, die unser Verhältnis zu unseren Mitmenschen betreffen; die Gebote, die sich auf unser Verhältnis zu Gott beziehen, nennt er nicht. Er nennt weder die Alleinverehrung Jahwes, noch das Verbot, seinen Namen zu missbrauchen, noch das Bilderverbot, noch die Heiligung des Sabbats. Es scheint fast so, als sei aus seiner Sicht bereits das Praktizieren der Nächstenliebe die Eintrittskarte ins Himmelreich; die Gottesliebe fordert er an dieser Stelle nicht – zumindest nicht ausdrücklich.
Ruf zur Nachfolge
Doch das genügt dem jungen Mann nicht; er spürt selbst, dass da noch mehr sein muss. Für Jesus hätte die Orientierung am Gebot der Nächstenliebe offenbar zunächst einmal genügt; mehr hätte er von dem Jüngling gar nicht verlangt. Er erkennt aber dessen Sehnsucht, seine Annahme, dass es ein solches Mehr geben muss. Und er ist ganz gerührt: Er umarmt den jungen Mann und erklärt ihm, worin dieses Mehr bestehen würde, wenn er es denn wirklich haben will, nämlich darin, seinen Reichtum aufzugeben und sich in seine Nachfolge zu begeben.
Nicht billiger zu haben
Das wiederum erschreckt den jungen Mann; er hatte wohl gehofft, dieses Mehr zu einem billigeren Preis zu bekommen, als auf alle irdischen Güter zu verzichten. So radikal hatte er sich das dann doch nicht vorgestellt; dieser Preis ist ihm zu hoch. Er wendet sich deshalb ab und geht traurig weg.
Doch es ist erst die Frage des jungen Mannes, die diese unglückliche Dynamik in Gang bringt: Hätte er Jesus nicht gefragt, so hätte dieser auch keine solche Aufforderung an ihn gerichtet, dann hätte für ihn sozusagen der „Mindestpreis“ für den Zugang zum ewigen Leben gegolten: das Halten des Gebots der Nächstenliebe.
Kommt uns das komisch vor, dass die Frage des jungen Mannes hier den Unterschied machen soll? Mein spontanes Empfinden war: ja, das ist komisch. Treibt Gott den Preis etwa bei jenen künstlich in die Höhe, die es wagen, ihn nach seinen Wünschen zu fragen?
Mit etwas Nachdenken bin ich aber darauf gekommen, dass es auch in unserem Alltag immer wieder Situationen gibt, in denen sich eine Situation durch das Stellen einer Frage völlig verändert. „Kann ich dir helfen?“ ist so eine Frage. Ich bin nicht verpflichtet, jedem meiner Mitmenschen meine Hilfe anzubieten.
Er hätte Jesus nicht fragen müssen
Wenn ich aber einmal jemandem meine Hilfe angeboten habe – zum Beispiel, ihm beim Umzug zu helfen –, dann kann ich die daraufhin geäußerte Bitte, tatsächlich beim Umzug mit anzu-packen, nicht mehr ausschlagen, ohne mich ihm gegenüber schuldig zu machen. Nicht anders ist es, wenn ich jemanden, der gerade eine schwere Enttäuschung gemacht hat, frage: „Brauchst Du jemanden zum Reden? Dann melde dich!“ Meldet sich der Andere dann tatsächlich, dann kann ich nicht sagen, ich hätte jetzt keine Zeit für ihn. Ich denke, das liegt daran, dass solche Fragen zu stellen bedeutet, in eine Beziehung mit seinem Gegenüber einzutreten. Und das ist auch beim jungen Mann so: Er hätte Jesus nicht fragen müssen, was er tun muss, um das ewige Leben zu erlangen; worin das nach jüdischem Glauben bestand, das wusste er bereits.
Jesu Antwort ist ein Beziehungsangebot
Indem er Jesus das gefragt hat, hat er aber einen Schritt auf ihn zu getan. Dessen Antwort ist deshalb auch ein Beziehungsangebot: „Verkaufe alles, was du hast und folge mir nach!“. Was Jesus dem jungen Mann hier anbietet, ist etwas Ungeheuerliches: es ist das Geschenk einer größeren Nähe zu ihm, eine intensivere Gemeinschaft mit ihm. Und ein solches Angebot kann man nicht ablehnen, ohne diese Gemeinschaft selbst abzulehnen.
Dass das so ist, verstehen vermutlich diejenigen am besten, die selbst einmal ein solches Beziehungsangebot Gottes erhalten haben: einen Ruf ins Kloster oder die Berufung zu einem priesterlichen Leben. Ich weiß nicht, wie viele von denen, die einen solchen Ruf in sich verspüren, ihn zurückweisen – wenn überhaupt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es sehr viele sind. Denn es muss einem so vorkommen, als würde man damit Gott selbst zurückweisen. Dass es Leute gibt, die sich nicht sicher sind, ob sie tatsächlich einen solchen Ruf erhalten haben (dass es da also möglicherweise erst noch etwas zu klären gibt), ist etwas anderes.
Und so kann es auch sein, dass jemand, der eine Weile mit dem Gedanken gespielt hat, Priester zu werden (oder Ordensfrau), sich schließlich für einem anderen Weg entscheidet – nicht in Ablehnung eines Rufes Gottes, sondern um seinem wahren Ruf zu folgen. Aber wer den Ruf Gottes vernimmt und ihn im klaren Bewusstsein dessen zurückweist, dass es ein Ruf Gottes war, der muss sich fragen, welche geringeren Güter – Reichtum, Karriere, Macht, Ansehen – ihm wichtiger sind als das Reich Gottes. Es überrascht mich daher auch nicht, dass mit der monastischen Lebensform das Gelübde der Armut verbunden ist, also der freiwillige Verzicht auf irdische Reichtümer: Das setzt einen von Anfang an auf die richtige Spur.
Der Lohn ist das ewige Leben
Dabei kommt es offenbar gar nicht so sehr darauf an, wie reich man tatsächlich ist oder einmal war. Die Jünger Jesu waren längst nicht so vermögend wie der reiche Jüngling, das macht ihre Entscheidung zur Nachfolge aber nicht weniger wertvoll. Dementsprechend verheißt Jesus ihnen auch denselben Lohn – der aus nichts anderem besteht als dem, wonach sich der reiche Jüngling gesehnt hatte, nämlich dem ewigen Leben. Dieses ewige Leben zu erben ist aber nur derjenige imstande, der ihm nichts anderes vorzieht. Das ist es, was der junge Mann nicht versteht: Ewiges Leben besteht aus genau dem, was Jesus ihm anbietet, er aber zurückweist, nämlich der Gemeinschaft mit ihm selbst und durch ihn mit seinem göttlichen Vater. Das scheint mir die wahre Tragik der Geschichte zu sein.
Auf die Macht der Güter über uns kommt es an
Worauf es hier ankommt, ist deshalb auch nicht der Reichtum selbst, sondern die Macht, die irdische Güter über uns haben, ob nun materieller Besitz, familiäre Beziehungen oder soziales Ansehen: Sie dürfen uns nicht daran hindern, in seine Nachfolge zu treten.
Daher ist es auch egal, ob das, was uns davon abhält, Gottes Ruf zu folgen, Güter sind, die wir haben, aber nicht loslassen können oder Güter, die wir nicht haben, aber unbedingt haben wollen. Man kann aber auch „haben, als hätte man nicht“, wie Paulus im 1. Korintherbrief schreibt: Es kommt nicht darauf an, wie viel man besitzt, sondern mit welcher Leichtigkeit man auf seinen Besitz verzichten kann, wenn das erforderlich ist.
Teilen ist angesagt
Wir dürfen also die Güter, mit denen wir gesegnet sind, ohne um jeden Preis nach ihnen verlangt oder sie uns auf Kosten anderer angeeignet zu haben, ruhig nutzen. Aber so, dass sie anderen zugutekommen – indem wir sie mit jenen teilen, die weniger haben als wir, indem wir anderen eine Freude machen, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, indem wir unsere Türen öffnen und damit Raum für die Begegnung und den Austausch von Menschen schaffen. Wenn wir so leben, dann ist das sicher im Sinne Gottes. Wir sollten uns aber auch nicht zu schnell beruhigen, sondern uns immer wieder prüfen, ob nicht doch mehr von uns verlangt ist – ob nicht doch der Ruf Jesu an uns ergeht, alles zu verkaufen, es unter den Armen zu verteilen und ihm in einer viel radikaleren Weise nachzufolgen.
(radio vatikan - redaktion claudia kaminski)
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