Der Papst (fast) zu Hause: Erste Eindrücke
Mario Galgano – Vatikanstadt und Stefan von Kempis – Santiago de Chile
VN: Wie ist denn eigentlich die Stimmung vor Ort? Wie erleben die Chilenen den Papst?
Von Kempis: Es ist schon erstaunlich, wie ausgelassen und fröhlich die Stimmung bei der Ankunft des Papstes in Santiago war. Das Genörgel in breiten Teilen der chilenischen Öffentlichkeit, die Kritik an den Kosten der Reise, das schmerzhafte Wiederaufleben der Erinnerung an die Missbrauchsskandale hatten in den letzten Tagen anderes, eben eine gedrücktere Stimmung, beim Auftakt vermuten lassen.
Das heißt nicht, dass die Probleme, auf die in diesen Tagen immer wieder hingewiesen wurde, jetzt auf einmal weggewischt wären; Chile bleibt zutiefst gespalten, das Ansehen der Kirche ist auf einem Tiefstand, und das wird sich wohl nicht so schnell ändern lassen. Trotzdem, hier ist womöglich ein Prozess, eine Art Katharsis, in Gang gekommen. Zunächst einmal hatte das unmittelbare Bevorstehen des Papstbesuchs viele Widersprüche in Chiles Kirche und Gesellschaft aufgerührt, sichtbarer gemacht – und jetzt ist der Papst aus dem Nachbarland, der als Jesuitennovize über ein Jahr in Chile gelebt hat und das Land gut kennt, endlich angekommen, jetzt können die Probleme, aber auch mögliche Lösungsvorschläge, auf den Tisch.
Dieser lateinamerikanische Pontifex sagt ja immer wieder, er misstraue dem Fertigen, er bringe lieber Prozesse in Gang. Vielleicht erleben wir das gerade hier in Chile. Also, kurz gesagt: eine überraschend festliche, aber auch bewegte Stimmung zu Beginn dieser Reise.
VN: Aber darf man diesen ersten, positiven Eindrücken so viel Gewicht beimessen? War das nicht eher eine Momentaufnahme?
Von Kempis: Natürlich darf man diesen herzlichen Empfang für den Papst nicht überbewerten. Aber trotzdem – hier passiert etwas, das mir schon bei anderen Papstreisen, vor allem in der Ära Johannes Paul II., aufgefallen ist. Ich kam ein paar Stunden vor der Ankunft von Franziskus an der Nuntiatur hier in Santiago vorbei – da standen schon Hunderte von Menschen geduldig Schlange, viele mit riesigen Heiligenbildern oder einem Poster Unserer Lieben Frau von Guadalupe, der Patronin Amerikas. Das waren einfache Menschen, die hier einfach mal ein paar Stunden ausharrten, nur um einen flüchtigen Blick auf den Papst werfen zu können.
Das sind Menschen, die sonst in den Medien, in den Debatten, an der blinkenden Oberfläche unserer Gesellschaften nicht vorkommen. Und diese einfachen, auch gläubigen Menschen werden jetzt auf einmal, durch so einen Papstbesuch, sichtbar – auf einen Schlag. Das ist jedes Mal wieder das Neue und Überraschende, das so ein Papstbesuch mit sich bringt. Ich glaube, das ist das „gläubige Volk Gottes“, von dem dieser Papst so gern spricht – und dessen Volksfrömmigkeit er auch gegen Skeptiker verteidigt.
VN: Warum haben denn die Medien in den letzten Tagen und Wochen so verhalten bis negativ über den Papstbesuch berichtet?
Von Kempis: Es gab dafür aus meiner Sicht gar nicht den einen, bestimmenden Grund. Eher ein Bündel ganz unterschiedlicher Sachverhalte. Missbrauchsskandale, eine umstrittene Bischofsernennung, Forderungen der Mapuche-Indianer, Polemik wegen der Kosten der Reise – und das alles, nicht zu vergessen, auf dem Hintergrund eines politischen Machtwechsels von links nach rechts, der hier gerade in Chile stattfindet.
Die chilenische Gesellschaft hat sich angesichts des herannahenden Papstbesuchs den Puls gefühlt und auf einmal gemerkt, wie gespalten sie ist und wie stark die Säkularisierung im Land schon um sich gegriffen hat. Im Prinzip haben ja die chilenischen Medien in den letzten Wochen nichts anderes getan, als die Frage zu stellen, die der heilige Jesuit und Sozialreformer Alberto Hurtado vor etwa 75 Jahren aufgeworfen hat: „Ist Chile wirklich ein katholisches Land?“ Ein genialer Buchtitel…
Jetzt, nach dem Eintreffen des Papstes, sind die Töne in den Medien bei weitem nicht mehr so dramatisch wie zuvor. Der seriöse „Mercurio“ urteilt, eigentlich sage und predige Papst Franziskus doch gar nichts anderes als sein heiliger Vorgänger Johannes Paul II. bei dessen Chile-Besuch im Jahr 1987, während der Pinochet-Diktatur. Und damals, so die Zeitung, habe sich doch auch keiner über die Kosten der Reise beschwert…
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