Die Papstpredigt in Kaunas im Wortlaut
LITAUEN
Homilie Seiner Heiligkeit Papst Franziskus
Heilige Messe im Santakos-Park in Kaunas
23. September 2018
Liebe Brüder und Schwestern,
der heilige Markus widmet einen ganzen Abschnitt seines Evangeliums der Unterweisung der Jünger. Es scheint als wolle Jesus, dass die Seinen, auf halbem Weg nach Jerusalem, noch einmal ihre Entscheidung erneuern, in dem Wissen, dass ihre Nachfolge auch eine Zeit der Prüfung und des Leids sein werde. Der Evangelist erzählt von dieser Zeit im Leben Jesu und erinnert daran, dass dieser dreimal sein Leiden ankündete; dreimal brachten die Jünger ihre Verwirrung und ihren Widerstand zum Ausdruck und bei allen drei Gelegenheiten wollte der Herr ihnen eine Lehre erteilen. Wir haben gerade den zweiten dieser drei Abschnitte gehört (vgl. Mk 9,30-37).
Das christliche Leben geht immer auch durch Momente des Kreuzes, und manchmal erscheinen sie endlos. Die früheren Generationen werden die Zeit der Besatzung noch schmerzlich erinnern, die Angst derer, die deportiert wurden, die Ungewissheit bezüglich derer, die nicht zurückgekehrt sind, die Schande der Denunziation und des Verrats. Das Buch der Weisheit spricht vom verfolgten Gerechten, der allein deswegen Schmähungen und Qualen erleidet, weil er gut ist (vgl. 2,10-20). Wie viele von euch könnten diesen Abschnitt, den wir gelesen haben, in der ersten Person erzählen oder in der Lebensgeschichte eines Verwandten wiederfinden. Wie viele von euch sind auch in ihrem Glauben ins Wanken geraten, weil Gott nicht erschien, um euch zu verteidigen; denn die Tatsache, dass ihr treu bliebt, reichte nicht, dass er in den Lauf eurer Geschichte eingegriffen hätte. Kaunas weiß davon; ganz Litauen kann das mit einem Schaudern bezeugen, wenn etwa Sibirien oder die Ghettos von Vilnius und Kaunas neben anderen auch nur erwähnt werden; und mit den Worten dieses Abschnitts aus dem Brief des Apostels Jakobus, den wir eben gehört haben, kann dieses Volk sagen: sie begehren, töten, morden, sind eifersüchtig, streiten und führen Krieg (vgl. 4,2).
Aber die Jünger wollten nicht, dass Jesus mit ihnen über Leid und Kreuz spricht, sie wollen nichts von Prüfungen und Qualen wissen. Und der heilige Markus erinnert daran, dass sie an anderen Dingen interessiert waren, dass sie nach Hause kamen und darüber stritten, wer von ihnen der Größte sei. Brüder und Schwestern, das Verlangen nach Macht und Ruhm ist die häufigste Verhaltensweise derer, die die Erinnerung an ihre Geschichte nicht verarbeiten und vielleicht gerade deshalb auch nicht bereit sind, sich für die Aufgaben der Gegenwart zu engagieren. Und so diskutiert man darüber, wer brillanter war, wer in der Vergangenheit makelloser war, wer mehr Anspruch auf Privilegien hat als die anderen. Und so verleugnen wir unsere Geschichte, »die ruhmreich ist, insofern sie eine Geschichte der Opfer, der Hoffnung, des täglichen Ringens, des im Dienst aufgeriebenen Lebens, der Beständigkeit in mühevoller Arbeit ist« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 96). Es ist eine unfruchtbare und eitle Haltung, die sich einer Beteiligung am Aufbau der Gegenwart verweigert, und so den Kontakt zur durchlittenen Wirklichkeit unseres gläubigen Volkes verliert. Wir dürfen nicht wie jene spirituellen „Experten” sein, die nur von außen urteilen und ständig darüber reden, „was man tun müsste“ (vgl. ebd.).
Jesus, der wusste, was die Jünger dachten, reicht ihnen ein Gegenmittel gegen diese Machtkämpfe und gegen die Ablehnung des Opfers; und um dem, was er sagen wollte, eine gewisse Feierlichkeit zu verleihen, setzte er sich wie ein Lehrer, rief sie herbei und vollzog eine Zeichenhandlung: Er stellte ein Kind in die Mitte; ein kleines Kind, das üblicherweise für ein Trinkgeld lästige Aufgaben übernahm, die sonst niemand machen wollte. Wen würde er heute, hier, an diesem Sonntagmorgen, in die Mitte stellen? Wer sind heute die Geringsten, die Ärmsten von uns, derer wir uns heute, hundert Jahre nach der Unabhängigkeit, annehmen sollen? Wer hat uns nichts zurückzugeben, so dass unsere Anstrengungen und unser Verzicht lohnend wären? Vielleicht sind es die ethnischen Minderheiten unserer Stadt oder die Arbeitslosen, die gezwungen sind auszuwandern. Vielleicht sind es die einsamen älteren Mitmenschen oder die jungen Leute, die keinen Sinn im Leben sehen, weil sie ihre Wurzeln verloren haben. „In die Mitte“ bedeutet: von allen gleich weit entfernt; damit kann niemand so tun, als hätte er nichts bemerkt, damit kann niemand behaupten, dies fiele in die „Verantwortung eines anderen“, weil „ich es nicht gesehen habe“ oder weil „ich zu weit weg“ war. Ohne Geltungsdrang, ohne Verlangen nach Beifall, ohne zu den Ersten gehören zu wollen.
Dort, in der Stadt Vilnius, war es der Fluss Vilnia, der herbeiströmte und seinen Namen an die Neris verlor; hier ist es nun die Neris, die ihren Namen verliert und ihre Wasser der Memel überlässt. Darum geht es: eine Kirche „auf dem Weg nach draußen“ zu sein, keine Angst davor zu haben, hinauszugehen und sich selbst hinzugeben, auch wenn es scheint, dass wir uns auflösen, dass wir uns an die Geringsten verlieren, an diejenigen, die in den existentiellen Randbereichen leben. Und dabei wissen wir, dass ein solches Hinausgehen in bestimmten Fällen auch ein Innehalten bedeutet, ein Ablegen von Ängsten und Dringlichkeiten, um in der Lage zu sein, den anderen in die Augen zu schauen, ihnen zuzuhören und die zu begleiten, die am Wegesrand liegen geblieben sind. Manchmal wird es notwendig sein, sich wie der Vater des verlorenen Sohnes zu verhalten, der an der Tür bleibt und auf die Rückkehr seines Sohnes wartet, um ihm die Tür zu öffnen, sobald er ankommt (vgl. ebd., 46), oder auch wie die Jünger, die lernen müssen, dass man Jesus selbst aufnimmt, wenn man sich um einen dieser Geringen kümmert.
Deshalb sind wir heute hier, um Jesus zu empfangen: in seinem Wort, in der Eucharistie, in den Kleinen. Wir wollen ihn aufnehmen, damit er uns unser Gedächtnis wiedergebe und uns in einer Gegenwart begleite, die uns weiterhin mit ihren Herausforderungen und den Zeichen, die sie uns gibt, begleitet; damit wir ihm als Jünger folgen, denn es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in den Herzen der Jünger Christi seinen Widerhall fände, und so machen wir uns die Freude und Hoffnung, die Trauer und die Angst der Menschen unserer Zeit zu eigen, besonders die der Armen und Bedrängten (vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 1). Aus diesem Grund und weil wir uns als Gemeinschaft wirklich engstens mit der Menschheit verbunden erfahren (vgl. ebd.) – mit den Menschen dieser Stadt und ganz Litauens –, wollen wir unser Leben im Dienst und in der Freude hingeben und damit allen zeigen, dass Jesus Christus unsere einzige Hoffnung ist.
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