Kommentar: P. Clemens Blattert zu „Christus vivit“
„Nach der Verabschiedung des Abschlussdokumentes war ich enttäuscht“, gibt Blattert jetzt zu. Doch der Schwung des Schreibens, mit dem Franziskus jetzt die Synodenergebnisse vorstellt, wirke auf ihn belebend. Allerdings identifiziert er auch einen „Schönheitsfehler“ des Papst-Textes…
Hier finden Sie den Kommentar zu „Christus vivit“, um den wir Pater Blattert gebeten haben.
„Liebe Leserinnen und Leser,
mit einem erfrischenden Schreiben von Papst Franziskus kommt ein intensiver Prozess des Zuhörens zu einem guten und, wie ich finde, zugleich inspirierenden Ende. Das Dokument „Christus vivit“ bildet den Abschluss eines Weges, der 2017 mit zwei Fragen des Papstes im Blick auf junge Menschen begonnen hatte: Wie können junge Menschen begleitet werden, damit sie ihre Berufung zu einem Leben in Fülle entdecken, und wie können junge Menschen an der Verkündigung des Evangeliums beteiligt werden?
Viele sollten auf dem Weg zu Wort kommen. Die Meinung der 16- bis 29-Jährigen kam mit Hilfe einer weltweiten online-Umfrage, der Vorsynode mit 300 jungen Menschen und den Beiträgen jugendlicher Vertreter auf der Bischofssynode zu Gehör. Mit den Anliegen und der Lebenswirklichkeit der jungen Leute setzten sich im Oktober letzten Jahres die Bischöfe intensiv auseinander. Im Abschlussdokument hielten sie fest: Die Kirche von morgen muss eine synodale sein, eine, die gemeinsam vorangeht. Junge Menschen wünschen sich in ihrer Berufungssuche eine gute Begleitung an ihrer Seite. Und die Verkündigung des Evangeliums kann nur gewinnen durch die Kreativität, die Kompetenzen und den Schwung junger Menschen.
Vielleicht erinnern Sie sich an meinen Blog während der Jugendsynode. Nach der Verabschiedung des Abschlussdokumentes war ich enttäuscht. Viele Beiträge aus der Aula hatten durch die Suche nach Kompromissen an Kraft verloren. Das Schreiben „Christus vivit“, das der Papst nun vorlegt, leidet ganz und gar nicht darunter. Die Lektüre ist belebend, und wer möchte, kann sich vom Schwung und der Freude eines im Herzen jung gebliebenen Papstes erfassen lassen. „Jung zu sein“, so schreibt der Papst, „ist weniger eine Frage des Alters, als vielmehr ein Zustand des Herzens.“
So zielt die Botschaft des Papstes auf die Lebendigkeit in jungen Menschen und in der Kirche. Damit trifft der Papst aus meiner Sicht die Grundsehnsucht junger Menschen. Er weiß um ihren tiefen Wunsch nach Lebensentfaltung. Die Kritik junger Menschen an den vielen Missständen in der Kirche versteht er als den Wunsch nach einer lebendigen Kirche. In seinen Ausführungen will der Papst den jungen Menschen einen Weg zu mehr Lebendigkeit aufzeigen, und zum anderen sieht der Papst in den jungen Menschen, mit ihrer Ungeduld, ihrer Kritik und ihrer Kraft wichtige Koalitionäre für die Reform einer erstarrten Kirche.
Zeugnis eines hörenden Papstes
So ist das Dokument vor allem eine Einladung zur Begegnung mit dem lebendigen Gott, weil er die Quelle aller Lebendigkeit ist. Damit ist es ein ‚leises’ Dokument. Es hascht nicht nach Effekten. Der Papst will ermutigen und junge Menschen am Feuer Gottes entzünden. Das tut er, indem er die Grundwahrheiten des Glaubens auf eine schlichte und zugleich schöne Art und Weise vertieft: „Gott liebt Dich. Er rettet Dich aus Verführungen und Erdrückendem. Gott lebt, so kann er Dir überall nahe sein.“ Was müde geworden ist, findet bei Christus neue Frische, was alt geworden ist, wird bei ihm wieder jung, was erstarrt ist, wird bei Christus wieder beweglich. Der Dreh- und Angelpunkt in der Verkündigung des Papstes, in der Kirche und für ein gelingendes Leben von jungen Menschen ist Jesus Christus und das Wachsen im Dienst füreinander. Das machte Franziskus schon in Evangelii Gaudium deutlich.
Aus meiner eigenen Erfahrung in der Arbeit mit jungen Erwachsenen kann ich das nur bestätigen. Gerade in dieser Zeit dramatischer Krisen, Umbrüche und Verunsicherung in der Kirche finden junge Menschen in der stillen Betrachtung des Wort Gottes und der schlichten Feier der Sakramente Zuversicht, Mut, neue Lebenskraft, Entschiedenheit und Freude am Glauben. Sie begegnen dem Lebendigen unmittelbar. Das lässt aber nicht bei sich bleiben, sondern führt zu einer „Ekstase“, wie der Papst schreibt, zu einem Selbstübersteigen hin zum Nächsten im Dienst. Das macht glücklich.
Das Dokument „Christus vivit“ ist ein Zeugnis eines hörenden Papstes. Beim Lesen gewann ich oft den Eindruck, als wäre der Papst gerade im Gespräch mit jungen Menschen. Er greift ihre Kritik an der Kirche auf, er beschreibt in treffenden Worten ihre Lebenssituationen, aber er kann auch ihre Lebenssehnsucht und ihre Wünsche beschreiben. Es ist respektvolles Hören, ja fast eine heilige Handlung. Der Papst schreibt: Man müsse die Schuhe ausziehen vor dem Herzen der jungen Menschen, weil es ein heiliger Ort ist, wo Gott Stimme zu vernehmen ist. Auch verteufelt der Papst nicht die Lebenswelten der jungen Leute, wie z. B. die Digitalisierung, sondern versucht, das Gute darin zu sehen und zu heben. Der Eindruck eines respektvollen Gesprächs wird durch die Form des Dokuments noch verstärkt. Er spricht die jungen Menschen direkt an. „Christus vivit“ ist ein Antwortbrief des Papstes an die Jugend.
Leider tut sich hier ein Schönheitsfehler des Schreibens auf. Diese literarische Form wird nicht stringent durchgehalten. Einige Abschnitte und ein ganzes Kapitel richten sich an Mitarbeiter in der Jugendpastoral. Der Papst wechselt im selben Dokument den Adressaten. Der Brief an die Jugend wie auch die Hinweise an die pastoralen Mitarbeiter hätten gewonnen, wenn sie in zwei getrennten Schreiben aufgeteilt worden wären.
Dennoch bin ich begeistert, vor allem weil mir die Veränderungskraft eines echten Zuhörens besonders in der Kirche durch das Zeugnis des Papstes immer klarer wird. Ich habe noch ganz lebendig das Bild vor Augen, wie der Papst vorne auf dem Podium sitzt und den Beiträgen der Synodenteilnehmer aufmerksam zuhört. Ab und zu griff er zu einem Bleistift und machte sich Notizen. In seiner Eröffnungsansprache formulierter der Papst den Wunsch, sich gegenseitig aufrichtig zu zuhören. Kirche gelingt nur, wenn alle, die junge Menschen, die Bischöfe und der Papst, bereit sind sich gegenseitig anzuhören und sich vom Gehörten innerlich in Bewegung versetzen lassen. So wird ein gemeinsames Vorangehen (synodale Kirche) möglich werden.
„Eine neue Lebendigkeit kann sprudeln“
Fronten werden überwunden, Brücken werden gebaut, eine neue Lebendigkeit kann sprudeln. Das Hören über Grenzen hinweg und das Brückenbauen ist ein Lieblingsthema des Pontifex: nur in der Verbindung von Gott und Mensch, von alten und jungen Menschen, von Hierarchie und Volk Gottes, von Erinnerung und Streben nach vorne entfaltet sich ein Mehr an Leben. „Die Pole brauchen sich gegenseitig, um wahres Leben zu entwickeln.“
Ein letzter Punkt aus dem Dokument: Eine hörende, eine synodale Kirche braucht starke Mitglieder. Die Stärke erwächst aus einem erneuerten Berufungsverständnis. In diesem Schreiben wird endgültig klar, dass Berufung nicht das Privileg weniger ist, sondern die Würde eines jeden Christen. Der Papst entfaltet Berufung als Ruf ins Leben, als Ruf in die Freundschaft mit Christus und als Ruf zur Heiligkeit. Das geht jeden an. Der Papst träumt von einer starken, selbstbewussten, vom Glauben beseelten Jugend und Kirche, die mitten in der Welt lebt und ohne Angst vor den Herausforderungen ihren Weg geht. Stärke und Lebendigkeit findet man in der Unterscheidung der Geister. Mit Hinweisen dazu endet das Dokument. Immer wieder betont der Papst, dass die Unterscheidung der Geister nicht eine Mode seines Pontifikats ist, sondern eine Grundkompetenz für alle Akteure in der Kirche.
„Christus vivit“ ist der Abschluss eines langen Prozesses, der aufgezeigt hat, wie ein erneuertes Miteinander in der Kirche gelingen kann. Dazu ist die Jugend mit ihrem Beitrag notwendig. Und der Papst hat auf seine eigene, frische und junge Art einmal mehr die Aktualität und Erneuerungskraft des Evangeliums aufgezeigt. Was mich selbst so begeistert hat an diesem Schreiben, ist das Zeugnis des Papstes. Er hat uns ein Beispiel respektvollen Hörens, vom Bauen von Brücken und einer aus der Liebe zu Gott entspringenden Jugendlichkeit im Herzen gegeben. Davon kann sich die Jugend und jeder von uns inspirieren lassen, selbst zu einem solchen Zeugen zu werden. Das wird die Kirche erneuern und ihr Schwung verleihen.
Viel Freude bei der Lektüre!
Ihr Pater Clemens Blattert SJ“
(vatican news – sk)
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