Im Wortlaut: Ansprache des Papstes bei seiner Generalaudienz
Das ist eine Arbeitsübersetzung von Claudia Kaminski für Radio Vatikan. Den offiziellen Wortlaut finden Sie in Kürze auf der offiziellen Homepage des Vatikans.
Liebe Brüder und Schwestern, guten Morgen!
Heute beschäftigen wir uns mit der fünften Seligpreisung, die besagt: ‚Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden‘ (Mt 5,7). In dieser Seligpreisung gibt es eine Besonderheit: Sie ist die einzige, in der die Ursache und die Frucht des Seligmachens zusammenfallen. Diejenigen, die Barmherzigkeit ausüben, werden Erbarmen finden.
Dieses Thema der Gegenseitigkeit der Vergebung ist in dieser Seligpreisung nicht nur präsent, sondern wiederkehrend im Evangelium. Und wie könnte es anders sein? Die Barmherzigkeit ist das Herz Gottes selbst! Jesus sagt: ‚Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet werden; verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt werden; vergebt, und euch wird vergeben werden‘ (Lk 6,37). Immer dieselbe Wechselseitigkeit… Und im Jakobusbrief heißt es, dass ‚die Barmherzigkeit immer Vorrang vor dem Gericht hat‘ (2,13).
Wie die Besteigung eines sehr hohen Berges
Vor allem aber beten wir im Vaterunser: ‚Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern‘ (Matth. 6,12); und diese Bitte wird als einzige am Ende aufgegriffen: ‚Denn wenn ihr den anderen ihre Schuld vergebt, so wird euch euer Vater im Himmel auch vergeben; wenn ihr aber den anderen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Schuld auch nicht vergeben‘ (Matth. 6,14-15; vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, 2838).
Es gibt zwei Dinge, die sich nicht trennen lassen: die gewährte Vergebung und die empfangene Vergebung. Aber viele Menschen sind in Schwierigkeiten, sie können nicht verzeihen. Das erlittene Übel ist so oft so groß, dass die Fähigkeit zu verzeihen wie die Besteigung eines sehr hohen Berges erscheint. Eine enorme Anstrengung! Und da denkt man: Das geht nicht, das schaffe ich nicht… Diese Tatsache der Wechselseitigkeit der Barmherzigkeit zeigt, dass wir die Perspektive umkehren müssen. Aber alleine können wir das nicht, wir brauchen die Gnade Gottes dazu – um die müssen wir bitten. Denn wenn die Fünfte Seligpreisung verspricht, Erbarmen zu erlangen, und wir im Vaterunser um den Erlass der Schulden bitten, bedeutet das, dass wir im Grunde genommen Schuldner sind, und wir müssen Erbarmen finden!
Wir sind alle in Schuld. Alle. Vor Gott, der so großzügig ist, und vor unseren Geschwistern.
Jeder Mensch weiß, dass er nicht der Vater oder die Mutter ist, die er sein sollte, der Bräutigam oder die Braut, der Bruder oder die Schwester, die er sein sollte. Wir alle sind im Defizit, im Leben. Und wir brauchen Barmherzigkeit. Wir wissen, dass selbst wenn wir nichts Böses getan haben, immer etwas an dem Guten fehlt, das wir hätten tun sollen.
Aber gerade diese unsere Armseligkeit wird zur Kraft, zu verzeihen! Wir sind schuldig, und wenn wir, wie wir eingangs gehört haben, an dem Maß gemessen werden, mit dem wir andere messen (vgl. Lk 6,38), dann ist es besser für uns, das Maß zu erweitern und zu vergeben, zu verzeihen. Jeder muss sich daran erinnern, dass er auf Vergeben, auf Vergebung und Geduld angewiesen ist; dies ist das Geheimnis der Barmherzigkeit: durch Vergebung wird einem vergeben. Deshalb geht Gott uns voraus und vergibt uns zuerst (vgl. Röm 5,8). Indem wir seine Vergebung empfangen, werden wir wiederum zur Vergebung fähig. So wird das eigene Elend und der Mangel an Gerechtigkeit zu einer Gelegenheit, sich für das Königreich des Himmels zu öffnen, zu einem größeren Maß, dem Maß Gottes, das die Barmherzigkeit ist.
Es gibt kein Christentum ohne Barmherzigkeit
Woher kommt unsere Barmherzigkeit? Jesus sagte uns: ‚Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist‘ (Lk 6,36). Je mehr wir die Liebe des Vaters annehmen, desto mehr lieben wir (vgl. KKK, 2842).
Die Barmherzigkeit ist nicht eine Dimension unter anderen, sie ist das Zentrum des christlichen Lebens: Es gibt kein Christentum ohne Barmherzigkeit. Wenn unser ganzes Christentum uns nicht zur Barmherzigkeit führt, haben wir den falschen Weg eingeschlagen, denn die Barmherzigkeit ist das einzig wahre Ziel jedes geistlichen Weges. Sie ist eine der schönsten Früchte der Nächstenliebe (KKK, 1829).
Ich erinnere mich, dass das das Thema des ersten Angelusgebetes war, das ich als Papst gebetet habe: die Barmherzigkeit. Und das ist tief in mir eingeprägt geblieben als Botschaft, die ich als Papst immer überbringen will – eine Botschaft, die täglich wichtig ist: die Barmherzigkeit. Ich erinnere mich, dass ich an diesem Tag auch ein bisschen schamlos war und Werbung für ein Buch über die Barmherzigkeit gemacht habe, das gerade von Kardinal Kasper erschienen war. An diesem Tag habe ich das sehr stark gespürt: Das ist die Botschaft, die ich überbringen muss als Bischof von Rom. Barmherzigkeit. Barmherzigkeit, bitte. Vergebung.
Gottes Barmherzigkeit ist unsere Befreiung und unser Glück. Wir leben von der Barmherzigkeit und können es uns nicht leisten, ohne Barmherzigkeit zu sein. Sie ist die Luft zum Atmen. Wir sind zu arm, um die Bedingungen zu stellen, wir müssen vergeben, weil wir Vergebung brauchen.
Ein Appell
Am nächsten Freitag und Samstag, dem 20. und 21. März, findet die 24-Stunden-Initiative für den Herrn statt. Es ist ein wichtiger Termin der Fastenzeit zum Gebet und zur Annäherung an das Sakrament der Versöhnung.
Leider wird diese Initiative in Rom, Italien und anderen Ländern wegen des Coronavirus-Notfalls nicht in den üblichen Formen stattfinden können. In allen anderen Teilen der Welt wird diese schöne Tradition jedoch fortgesetzt. Ich ermutige die Gläubigen, sich der Barmherzigkeit Gottes in der Beichte aufrichtig zu nähern und besonders für diejenigen zu beten, die wegen der Pandemie in Bedrängnis sind.
Wo es nicht möglich sein wird, 24 Stunden für den Herrn zu feiern, bin ich sicher, dass dieser Moment der Buße durch persönliches Gebet gelebt werden kann.
(vatican news)
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