Die inklusive Enzyklika – ein Kollegengespräch
Stefan von Kempis und Christine Seuss – Vatikanstadt
Der Chefredakteur von Vatican News hat aber in einem Leitartikel an diesem Mittwoch hervorgehoben, natürlich richte sich die Enzyklika „an jeden einzelnen Menschen“. Wie passt das zusammen?
Kempis: „Fratelli tutti“ ist einfach ein wörtliches Zitat aus Ermahnungen des hl. Franz von Assisi an seine Ordensbrüder, die eben alle männlichen Geschlechts waren. Wären auch Frauen, etwa die hl. Klara von Assisi, angesprochen worden, dann hätte der hl. Franz selbstverständlich „Fratelli e sorelle“, „Brüder und Schwestern“ gesagt – und dann hätte Papst Franziskus das genau so übernommen.
Dass dieser Papst einen rein italienischen Titel für alle Übersetzungen seiner Enzyklika in andere Sprachen wünscht, ist nicht neu; genauso verhielt es sich auch 2015 mit seiner Schöpfungsenzyklika „Laudato si‘“. Auch das war übrigens ein Zitat des hl. Franz von Assisi.
Trotzdem hat ein solcher Titel einen seltsamen Beigeschmack. Jedenfalls wirkt er nicht so, als habe man sich im Vatikan den Kopf darüber zerbrochen, wie man jetzt speziell auf Frauen zugeht.
Kempis: Naja – am Titel lässt sich nun mal nicht ablesen, wie „genderfreundlich“ dieser Text ausfallen wird. Der Lackmustest wird eher die Übersetzung ins Deutsche.
Konkret: Wird der Papst im deutschen Wortlaut von „Brüderlichkeit“ sprechen – oder wird da stattdessen „Geschwisterlichkeit“ stehen? Und ganz ähnlich stellt sich diese Frage auch für die englische Übersetzung des Textes. In den romanischen Sprachen hingegen klingt „Brüderlichkeit“ (vom lateinischen „Fraternitas“ herkommend) etwas inklusiver als im Deutschen.
Und kann man schon etwas darüber sagen, ob es in der Enzyklika eher um „Brüderlichkeit“ oder um „Geschwisterlichkeit“ gehen wird?
Kempis: Nein, das wird man erst erfahren, wenn die Enzyklika am Wochenende des 3./4. Oktobers dann in den verschiedenen Sprachen veröffentlicht wird. Immerhin wäre der Begriff „Geschwisterlichkeit“ in einer Enzyklika von Papst Franziskus keine Neuigkeit: Allein in „Laudato si‘“ wird fünfmal explizit von „Geschwisterlichkeit“ gesprochen. Von Brüderlichkeit allerdings auch, dreimal. Das ist für eine Enzyklika, deren Übersetzungen mit großer Sorgfalt erstellt werden, ungewöhnlich.
Wie hält es der Vatikan generell mit dem Wort „Geschwisterlichkeit“?
Kempis: Da ist der Befund eindeutig. In Papst-Texten überwiegt der männliche Begriff, also die „Brüderlichkeit“. Bekanntestes Beispiel ist die „Erklärung über die Brüderlichkeit aller Menschen“, die Franziskus letztes Jahr in Abu Dhabi unterzeichnet hat. Wir von Radio Vatikan nennen sie allerdings in der Regel „Erklärung über die Geschwisterlichkeit“, das nur nebenbei bemerkt.
Wer auf der offiziellen Vatikan-Homepage die Suchworte „Franziskus“ und „Brüderlichkeit“ eingibt, findet 44 Treffer. Bei der „Geschwisterlichkeit“ sind es nur acht… Wie das in „Fratelli tutti“ aussehen wird, werden wir erst in knapp drei Wochen erfahren. Lassen wir uns überraschen!
(vatican news)
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