Die Papstpredigt zum Welttag der Armen im Wortlaut
Das Gleichnis, das wir gehört haben, hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, welche den Anfang, die Mitte und das Ende unseres Lebens erhellen.
Der Anfang. Alles beginnt mit einem großen Vermögen: Der Herr behält seine Reichtümer nicht für sich selbst, sondern gibt sie den Dienern, dem einen gibt er fünf, dem anderen zwei und wieder einem anderen ein Talent, »jedem nach seinen Fähigkeiten« (Mt 25,15). Man hat errechnet, dass ein einziges Talent einem Lohn von etwa zwanzig Jahren Arbeit entsprach: Es war ein überreichliches Vermögen, das damals für ein ganzes Leben ausreichte. Das also ist der Anfang: Auch für uns begann alles mit der Gnade Gottes, der Vater ist und so viel Vermögen in unsere Hände gelegt hat, indem er jedem von uns unterschiedliche Talente anvertraut hat. Wir sind Träger eines großen Reichtums, der nicht davon abhängt, wie viel wir haben, sondern davon, was wir sind: von dem Leben, das wir empfangen haben, von dem Guten, das in uns ist, von der ununterdrückbaren Schönheit, die Gott uns verliehen hat. Denn wir sind als sein Bild geschaffen, jeder von uns ist in seinen Augen kostbar, einzigartig und unersetzlich in der Geschichte!
Wie wichtig ist es doch, sich daran zu erinnern. Wenn wir unser Leben betrachten, sehen wir allzu oft nur das, was uns fehlt. Dann erliegen wir der Versuchung des „Wenn …“: Wenn ich diesen Job hätte, wenn ich dieses Haus besäße, wenn ich Geld und Erfolg hätte, wenn ich dieses Problem nicht hätte, wenn ich bessere Menschen um mich herum hätte! ... Die Illusion des „Wenn“ hindert uns daran, das Gute zu sehen, und lässt uns die Talente vergessen, die wir haben. Aber Gott hat sie uns anvertraut, weil er jeden von uns kennt und weiß, wozu wir fähig sind; er vertraut uns, trotz unserer Schwächen. Er vertraut auch jenem Diener, der das Talent dann verstecken wird: Er hofft, dass auch er, trotz seiner Ängste, das, was er erhalten hat, gut nutzen wird. Kurz gesagt, der Herr bittet uns, die Gegenwart zu nutzen und dabei nicht der Vergangenheit nachzutrauern, sondern aktiv seine Rückkehr zu erwarten.
Damit sind wir in der Mitte des Gleichnisses angelangt. Hier geht es um das, was die Diener tun, das heißt um ihren Dienst. Mit diesem Dienst ist auch unser Tun gemeint, das, was unsere Talente fruchtbar macht und dem Leben einen Sinn gibt: Tatsächlich vertut einer sein Leben, wenn er nicht lebt, um zu dienen. Aber wie sieht dieser Dienst aus? Im Evangelium werden diejenigen als gute Diener bezeichnet, die etwas riskieren. Sie sind nicht vorsichtig und zurückhaltend, sie bewahren nicht auf, was sie erhalten haben, sondern sie setzen es ein. Denn ein Gut, das nicht investiert wird, geht verloren, und die Bedeutung unseres Lebens hängt nicht davon ab, wie viel wir beiseitelegen, sondern davon, wie viel Frucht wir bringen. Wie viele Menschen verbringen ihr Leben nur damit, Besitz anzuhäufen. Sie sind darauf bedacht, dass es ihnen gut geht, anstatt dass sie Gutes tun. Aber wie leer ist solch ein Leben, das Bedürfnissen nachjagt, ohne auf die Bedürftigen zu schauen! Wenn wir über Gaben verfügen, dann nur, um anderen eine Gabe zu sein.
Es sei darauf hingewiesen, dass die Diener, die investieren, die Risiken eingehen, viermal als „treu“ bezeichnet werden (V. 21 und 23). Für das Evangelium gibt es keine Treue ohne Risiko. Gott treu zu sein bedeutet sein Leben hinzugeben, es bedeutet, die eigenen Pläne durch den Dienst durcheinanderbringen zu lassen. Es ist traurig, wenn ein Christ in die Defensive geht und sich nur an die Einhaltung der Regeln und die Befolgung der Gebote klammert. Das ist nicht ausreichend. Die Treue zu Jesus besteht nicht allein darin, keine Fehler zu machen. Das aber dachte der faule Diener des Gleichnisses: Bar jeglicher Initiative und Kreativität, versteckt er sich hinter einer unnützen Angst und vergräbt das empfangene Talent. Der Herr nennt ihn sogar »schlecht« (V. 26), obwohl er nichts falsch gemacht hat! Ja, aber er hat eben auch nichts Gutes getan. Er zog es vor, durch Unterlassung zu sündigen, anstatt Fehler zu riskieren. Er war Gott nicht treu, denn dieser liebt die Selbsthingabe; und der Diener beleidigte ihn aufs Schlimmste, indem er ihm die erhaltene Gabe zurückgab. Der Herr jedoch lädt uns ein, uns großzügig einzusetzen, die Angst zu besiegen und jene Passivität zu überwinden, die mitschuldig macht. Lasst uns heute, in diesen Zeiten voll Unsicherheit und Zerbrechlichkeit, unser Leben nicht damit vergeuden, dass wir nur an uns selbst denken. Machen wir uns keine Illusionen, während wir sagen: »Friede und Sicherheit!« (1 Thess 5,3). Der heilige Paulus fordert uns auf, uns der Realität zu stellen und uns nicht von der Gleichgültigkeit anstecken zu lassen.
Wie also sieht ein Dienst nach Gottes Willen aus? Der Herr erklärt es dem untreuen Diener: »Du hättest mein Geld auf die Bank bringen müssen, dann hätte ich es bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten« (V. 27). Wer sind für uns diese „Banken“, die in der Lage sind, einen langfristigen Zins zu geben? Das sind die Armen: sie garantieren uns eine ewige Rendite und sie ermöglichen uns schon jetzt, reicher an Liebe zu werden. Denn die größte Armut, die es zu bekämpfen gilt, ist unsere Armut an Liebe. Das Buch der Sprichwörter preist die Frau, die tüchtig ist in der Nächstenliebe und alle Perlen an Wert übertrifft: diese Frau sollten wir nachahmen, denn, wie es im Text heißt, »sie reicht dem Armen ihre Hände« (Spr 31,20). Reiche den Bedürftigen die Hand, anstatt zu beanspruchen, was dir fehlt: Auf diese Weise wirst du die Talente, die du erhalten hast, vervielfachen.
So kommen wir zum Ende des Gleichnisses: Da wird es denjenigen geben, der im Überfluss haben wird, und denjenigen, der sein Leben vergeudet hat und arm bleiben wird (vgl. V. 29). Am Ende des Lebens, also, wird die Wirklichkeit offenbar: Die Täuschung der Welt, wonach Erfolg, Macht und Geld dem Leben Sinn verleihen, wird vergehen, während die Liebe, das, was wir gegeben haben, sich als wahrer Reichtum erweisen wird. Ein großer Kirchenvater schrieb einmal: »So geschieht es im Leben: Nachdem der Tod gekommen ist und der Vorhang gefallen ist, nehmen alle die Masken von Reichtum und Armut ab und verlassen diese Welt. Sie werden nur nach ihren Werken beurteilt, einige als wirklich reich, andere als arm« (vgl. hl. Johannes Chrisostomus, De Lazaro concio, II, 3). Wenn wir schon nicht arm leben wollen, dann bitten wir um die Gnade, Jesus in den Armen sehen und Jesus in den Armen dienen zu dürfen.
Ich möchte den vielen treuen Dienern Gottes danken, die nicht von sich reden machen, sondern dies leben. Ich denke dabei zum Beispiel an Don Roberto Malgesini. Dieser Priester hatte keine großen Konzepte; er sah einfach Jesus in den Armen und den Sinn des Lebens im Dienen. Sanftmütig trocknete er Tränen im Namen Gottes, der tröstet. Der Anfang seines Tages war das Gebet, um das anzunehmen, was Gott ihm gab; die Mitte des Tages war die Nächstenliebe, um die empfangene Liebe fruchtbar zu machen; das Ende war ein klares Zeugnis des Evangeliums. Er hatte verstanden, dass er den vielen armen Menschen, denen er täglich begegnete, die Hand reichen musste, weil er in jedem von ihnen Jesus sah. Bitten wir um die Gnade, nicht nur in Worten, sondern auch in unseren Taten Christen zu sein, damit wir Frucht bringen, wie es der Wunsch Jesu ist.
(vatican news - mg)
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