Franziskus im Oktober bei einem Gebet um Frieden in Rom Franziskus im Oktober bei einem Gebet um Frieden in Rom 

Wortlaut: Die Friedensbotschaft von Papst Franziskus

Zum Welttag des Friedens, den die Kirche jedes Jahr am 1. Januar begeht, hat Papst Franziskus eine Botschaft verfasst. Sie wurde an diesem Donnerstag veröffentlicht. Hier finden Sie den vollen Wortlaut des Textes.

Sämtliche Wortmeldungen des Papstes in ihrer offiziellen Fassung finden Sie auf der Homepage des Vatikans.

Die Kultur der Achtsamkeit als Weg zum Frieden

1. An der Schwelle zum neuen Jahr möchte ich den Staatsoberhäuptern und Regierungschefs, den Verantwortlichen der internationalen Organisationen, den geistlichen Führern und den Gläubigen der verschiedenen Religionen sowie allen Männern und Frauen guten Willens meine ehrerbietigen Grüße übermitteln. Ihnen allen entbiete ich meine besten Wünsche, damit das kommende Jahr die Menschheit auf dem Weg der Geschwisterlichkeit, der Gerechtigkeit und des Friedens zwischen Menschen, Gemeinschaften, Völkern und Staaten voranbringen kann.

Das Jahr 2020 war geprägt von der großen Covid-19-Gesundheitskrise, die sich zu einem globalen Phänomen in vielen Bereichen entwickelt hat. So hat sie Krisen verschärft, die eng miteinander zusammenhängen, wie die Klima-, Ernährungs-, Wirtschafts- und Migrationskrisen, und schweres Leid und Not verursacht. Ich denke in erster Linie an diejenigen, die ein Familienmitglied oder einen geliebten Menschen verloren haben, aber auch an alle, die ohne Arbeit geblieben sind. Meine Gedanken gehen insbesondere an die Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, Apotheker, Forscher, Freiwilligen, Seelsorger und Fachkräfte in den Krankenhäusern und Gesundheitszentren, die unter großen Anstrengungen und Opfern – manche sogar bis hin zu ihrem eigenen Tod – hingebungsvoll ihren Einsatz geleistet haben im Bemühen, den Kranken nahe zu sein und ihre Leiden zu lindern bzw. ihr Leben zu retten. Während ich diesen Menschen meine Anerkennung zolle, erneuere ich zugleich meinen Appell an die politischen Verantwortungsträger und an die Privatwirtschaft, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um den Zugang zu Covid-19-Impfstoffen und den wesentlichen Technologien zu gewährleisten, die zur Betreuung der Kranken und all derer, die zu den Ärmsten und Schwächsten gehören, benötigt werden.

Es ist bedauerlich, feststellen zu müssen, dass neben zahlreichen Zeugnissen der Nächstenliebe und Solidarität verschiedene Formen von Nationalismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit wie auch Tod und Zerstörung bringende Kriege und Konflikte leider neuen Schwung gewinnen.

Diese und andere Ereignisse, die den Weg der Menschheit im vergangenen Jahr geprägt haben, lehren uns, wie wichtig es ist, füreinander und für die Schöpfung Sorge zu tragen, um eine Gesellschaft aufzubauen, die auf Beziehungen der Geschwisterlichkeit beruht. Deshalb habe ich als Thema dieser Botschaft Die Kultur der Achtsamkeit als Weg zum Frieden gewählt. Es geht um eine Kultur der Achtsamkeit, um die heute oft vorherrschende Kultur der Gleichgültigkeit, des Wegwerfens und der Konfrontation auszumerzen.

2. Gott der Schöpfer, Ursprung der Berufung des Menschen zur Achtsamkeit

In vielen Religionen gibt es Erzählungen über den Ursprung des Menschen und seine Beziehung zum Schöpfer, zur Natur und zu seinen Mitmenschen. Das Buch Genesis in der Bibel zeigt von Anfang an auf, wie wichtig die Sorge und das Hüten im Plan Gottes für die Menschheit sind, indem es die Beziehung zwischen Mensch (’adam) und Erde (’adamah) wie auch zwischen Geschwistern hervorhebt. Im biblischen Schöpfungsbericht vertraut Gott den „in Eden gepflanzten Garten“ (vgl. Gen 2,8) Adam an mit dem Auftrag, „ihn zu bearbeiten und zu hüten“ (vgl. Gen 2,15). Das bedeutet einerseits, die Erde fruchtbar zu machen, und andererseits, sie zu schützen und ihre Fähigkeit zu bewahren, das Leben zu ernähren. Die Verben „bearbeiten“ und „hüten“ beschreiben Adams Beziehung zu seinem Haus/Garten und weisen auch auf das Vertrauen hin, das Gott in ihn als Herrn und Hüter der ganzen Schöpfung setzt.

Die Geburt von Kain und Abel führt zu einer Geschichte von Brüdern, deren Beziehung untereinander von Kain im Sinne von Schutz oder Obhut – negativ – ausgelegt wird. Nachdem Kain seinen Bruder Abel getötet hat, antwortet er so auf die Frage Gottes: »Bin ich der Hüter meines Bruders?« (Gen 4,9). Ja, gewiss! Kain ist der „Hüter“ seines Bruders. »In diesen so alten, an tiefem Symbolismus überreichen Erzählungen war schon eine heutige Überzeugung enthalten: dass alles aufeinander bezogen ist und dass die echte Sorge für unser eigenes Leben und unsere Beziehungen zur Natur nicht zu trennen ist von der Brüderlichkeit, der Gerechtigkeit und der Treue gegenüber den anderen«.

3. Gott der Schöpfer, Vorbild der Achtsamkeit

Die Heilige Schrift stellt Gott nicht nur als Schöpfer dar, sondern auch als denjenigen, der für seine Geschöpfe sorgt, insbesondere für Adam und Eva und ihre Kinder. Selbst Kain erhält, obwohl er wegen des von ihm begangenen Verbrechens verflucht ist, vom Schöpfer ein Zeichen des Schutzes, damit sein Leben bewahrt wird (vgl. Gen 4,15). Diese Tatsache bestätigt die unantastbare Würde der Person, die nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen wurde, zugleich macht sie auch den göttlichen Plan zur Bewahrung der Harmonie der Schöpfung deutlich, denn »Frieden und Gewalt können nicht zusammenwohnen«.

Eben die Sorge für die Schöpfung bildet die Grundlage der Einrichtung des Sabbats, die neben der Regelung des Gottesdienstes auch die Wiederherstellung der sozialen Ordnung und die Aufmerksamkeit gegenüber den Armen zum Ziel hatte (Gen 1,1-3; Lev 25,4). Die Feier des Jubeljahres anlässlich des siebten Sabbatjahres gestattete der Erde, den Sklaven und den Verschuldeten eine Ruhepause. In diesem Gnadenjahr wurde für die Schwächsten gesorgt und ihnen eine neue Lebensperspektive geboten, denn so sollte es im Volk keine Bedürftigen mehr geben (vgl. Dtn 15,4).

Bemerkenswert ist auch die prophetische Tradition, wo sich der Gipfel des biblischen Verständnisses von Gerechtigkeit in der Art und Weise zeigt, wie eine Gemeinschaft die Schwächsten in ihrer Mitte behandelt. Deshalb erheben vor allem Amos (2,6-8 und 8) und Jesaja (58) immer wieder ihre Stimme zugunsten der Gerechtigkeit für die Armen, die wegen ihrer Verletzlichkeit und Machtlosigkeit nur von Gott erhört werden, der sich ihrer annimmt (vgl. Ps 34,7; 113,7-8).

4. Die Achtsamkeit im Wirken Jesu

Das Leben und Wirken Jesu bilden den Höhepunkt der Offenbarung der Liebe des Vaters zur Menschheit (vgl. Joh 3,16). In der Synagoge von Nazaret tritt Jesus mit diesen Worten auf: Der Herr »hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze« (Lk 4,18). Diese messianischen Handlungen, die für die Jubeljahre typisch sind, stellen das beredteste Zeugnis für die ihm vom Vater anvertraute Sendung dar. In seiner Barmherzigkeit nähert sich Christus den Kranken an Leib und Geist und heilt sie; er vergibt den Sündern und schenkt ihnen ein neues Leben. Jesus ist der Gute Hirt, der sich um die Schafe kümmert (vgl. Joh 10,11-18; Ez 34,1-31); er ist der barmherzige Samariter, der sich über den Verletzten beugt, seine Wunden verarztet und sich um ihn kümmert (vgl. Lk 10,30-37).

Auf dem Höhepunkt seiner Sendung besiegelt Jesus seine Sorge für uns durch seine Hingabe am Kreuz und befreit uns so von der Sklaverei der Sünde und des Todes. Auf diese Weise, durch die Hingabe seines Lebens und durch sein Opfer, hat er uns den Weg der Liebe erschlossen und sagt zu einem jeden: »Folge mir nach!« »Handle du genauso!« (Mt 9,9 und Lk 10,37).

5. Die Kultur der Achtsamkeit im Leben der Nachfolger Jesu

Die Werke der geistlichen und leiblichen Barmherzigkeit bilden den Kern des karitativen Dienstes der frühen Kirche. Die ersten Christen teilten alles, damit niemand unter ihnen Not litt (vgl. Apg 4,34-35), und bemühten sich, ihre Gemeinschaft zu einem einladenden Ort zu machen, der offen ist für jede menschliche Situation und bereit, sich um die Schwächsten zu kümmern. So wurde es üblich, freiwillige Opfergaben zu machen, um die Armen zu ernähren, die Toten zu begraben und um Waisen, alte Menschen und Opfer von Katastrophen, wie z.B. Schiffbrüchige, zu versorgen. Und als in späteren Zeiten die Großzügigkeit der Christen etwas an Schwung verlor, betonten einige Kirchenväter nachdrücklich, dass gemäß Gott das Eigentum zum Nutzen des Gemeinwohls zu verstehen ist. Ambrosius sagte: »Die Natur bringt alle Erzeugnisse zum gemeinsamen Gebrauch für alle hervor. [...] So schuf also die Natur ein gemeinsames Besitzrecht für alle; Anmaßung machte daraus ein Privatrecht«. Nachdem die Kirche die Verfolgungen der ersten Jahrhunderte überwunden hatte, nutzte sie die Freiheit, um die Gesellschaft und ihre Kultur zu beseelen. »Die Not der Zeit weckte vielmehr neue Kräfte im Dienst der christlichen Caritas. Die Geschichte berichtet von zahlreichen Werken der Wohltätigkeit. […] Es entstanden zahlreiche Anstalten zum Besten der leidenden Menschheit: Kranken-, Armen-, Waisen- und Findelhäuser, Fremdenherbergen usw.«

6. Die Prinzipien der Soziallehre der Kirche als Grundlage der Kultur der Achtsamkeit

Die ursprüngliche diakonia, die durch die Reflexion der Väter bereichert und im Laufe der Jahrhunderte durch die tätige Nächstenliebe so vieler leuchtender Glaubenszeugen belebt wurde, ist zum pulsierenden Herz der Soziallehre der Kirche geworden. So bietet sie sich allen Menschen guten Willens als ein wertvolles Erbe an Prinzipien, Kriterien und Weisungen an, aus dem die „Grammatik“ der Achtsamkeit zu beziehen ist: die Förderung der Würde jeder menschlichen Person, die Solidarität mit den Armen und Schutzlosen, die Sorge um das Gemeinwohl, die Bewahrung der Schöpfung.

* Achtsamkeit als Förderung der Würde und Rechte der Person

»Der im Christentum entstandene und herangereifte Begriff Person [ist] eine Hilfe, die ganzheitliche menschliche Entwicklung zu erreichen. Denn Person bedeutet immer Beziehung, nicht Individualismus, bejaht Inklusion und nicht Ausschluss, bejaht die einzigartige, unverletzliche Würde und nicht die Ausbeutung.« Jede menschliche Person ist Selbstzweck, niemals einfach Mittel, das nur seines Nutzens wegen geschätzt wird; sie ist dazu geschaffen, um in der Familie, in der Gemeinschaft, in der Gesellschaft zusammenzuleben, wo alle Mitglieder an Würde gleich sind. Aus dieser Würde leiten sich die Menschenrechte ab, aber auch die Pflichten, die z.B. an die Verantwortung erinnern, die Armen, die Kranken, die Ausgegrenzten, alle unsere »Mitmenschen, seien sie nah oder fern in Zeit und Raum«, aufzunehmen und ihnen zu helfen.

* Achtsamkeit gegenüber dem Gemeinwohl

Jeder Aspekt des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebens findet seine Erfüllung, wenn er im Dienste des Gemeinwohls steht, das heißt der »Gesamtheit jener Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens, die sowohl den Gruppen als auch deren einzelnen Gliedern ein volleres und leichteres Erreichen der eigenen Vollendung ermöglichen«. Deshalb müssen unsere Pläne und Bemühungen stets die Auswirkungen auf die gesamte Menschheitsfamilie berücksichtigen und die Folgen für den gegenwärtigen Augenblick und für die künftigen Generationen abwägen. Die Covid-19-Pandemie zeigt uns, wie wahr und aktuell dies ist. Aufgrund der Pandemie »wurde [uns] klar, dass wir alle im selben Boot sitzen, alle schwach und orientierungslos sind, aber zugleich wichtig und notwendig, denn alle sind wir dazu aufgerufen, gemeinsam zu rudern«, weil »niemand sich allein rettet« und kein isolierter Nationalstaat in der Lage ist, das Gemeinwohl seiner Bevölkerung zu gewährleisten.

* Aufmerksamkeit durch Solidarität

Solidarität bringt die Liebe zum anderen konkret zum Ausdruck, und zwar nicht als vages Gefühl, sondern als »feste und beständige Entschlossenheit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, das heißt für das Wohl aller und eines jeden, weil wir alle für alle verantwortlich sind«. Die Solidarität hilft uns, den anderen – sowohl als Person als auch im weiteren Sinne als Volk oder Nation – nicht als einen statistischen Posten zu sehen oder als ein Mittel, das man ausnutzt und dann wegwirft, wenn es nicht mehr nützlich ist, sondern als unseren Nächsten, als einen Weggefährten, der aufgerufen ist, gleichberechtigt mit uns am Festmahl des Lebens teilzunehmen, zu dem alle gleichermaßen von Gott eingeladen sind.

* Sorge für die Schöpfung und ihre Bewahrung

Die Enzyklika Laudato si’ berücksichtigt vollauf die Verbindung zwischen allem Geschaffenen und betont die Notwendigkeit, auf den Schrei der Bedürftigen und auf den Schrei der Schöpfung zugleich zu hören. Aus diesem aufmerksamen und beständigen Hinhören kann eine effektive Achtsamkeit für die Erde, unser gemeinsames Haus, und für die Armen erwachsen. In diesem Zusammenhang möchte ich bekräftigen, dass »ein Empfinden inniger Verbundenheit mit den anderen Wesen in der Natur […] nicht echt sein [kann], wenn nicht zugleich im Herzen eine Zärtlichkeit, ein Mitleid und eine Sorge um die Menschen vorhanden ist«. »Friede, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung sind drei absolut miteinander verbundene Themen, die nicht getrennt und einzeln behandelt werden können, ohne erneut in Reduktionismus zu fallen«.

7. Der Kompass für einen gemeinsamen Kurs

In einer Zeit, die von einer verschwenderischen Wegwerfkultur bestimmt wird, möchte ich angesichts der immer stärker werdenden Ungleichheiten innerhalb der einzelnen Nationen und zwischen den Nationen die Verantwortlichen der internationalen Organisationen und der Regierungen, der Wirtschaft und der Wissenschaft, der sozialen Kommunikation und der Bildungseinrichtungen einladen, diesen „Kompass“ der oben genannten Prinzipien zur Hand zu nehmen, um im Globalisierungsprozess einen gemeinsamen Kurs zu verfolgen, einen »wirklich menschlichen Kurs«. Dies würde es in der Tat erlauben, den Wert und die Würde eines jeden Menschen zu achten, gemeinsam und solidarisch für das Gemeinwohl zu handeln und alle aufzurichten, die unter Armut, Krankheit, Sklaverei, Diskriminierung und Konflikten leiden. Mithilfe dieses Kompasses ermutige ich alle, Propheten und Zeugen einer Kultur der Achtsamkeit zu werden, um die vielfältige soziale Ungleichheit zu überwinden. Und dies wird nur dann möglich sein, wenn dabei Frauen im großen Ausmaß eine Hauptrolle spielen – in der Familie und in allen sozialen, politischen und institutionellen Bereichen.

Der Kompass der sozialen Prinzipien, der zur Förderung der Kultur der Achtsamkeit notwendig ist, zeigt auch die Richtung für die Beziehungen zwischen den Nationen an, die von Geschwisterlichkeit, gegenseitigem Respekt, Solidarität und der Einhaltung des Völkerrechts inspiriert sein sollten. In diesem Zusammenhang müssen der Schutz und die Förderung der grundlegenden Menschenrechte, die unveräußerlich, allgemeingültig und unteilbar sind, bekräftigt werden .

Ebenso muss an die Achtung des humanitären Rechts erinnert werden, besonders in dieser Zeit unaufhörlich aufeinanderfolgender Konflikte und Kriege. Leider haben viele Regionen und Gemeinschaften keine Erinnerung mehr an eine Zeit, in der sie in Frieden und Sicherheit lebten. Viele Städte sind zu Epizentren der Unsicherheit geworden: Ihre Bewohner haben damit zu kämpfen, ihre normalen Tagesabläufe beibehalten zu können, weil sie wahllos mit Sprengstoff, Artillerie oder leichten Waffen angegriffen und bombardiert werden. Kinder können nicht zur Schule gehen. Männer und Frauen können nicht arbeiten, um ihre Familien zu ernähren. Es herrscht Not an Orten, wo sie einst unbekannt war. Die Menschen sind gezwungen zu fliehen und lassen damit nicht nur ihre Heimat zurück, sondern auch ihre Familiengeschichte und ihre kulturellen Wurzeln.

Es gibt viele Ursachen für Konflikte, aber das Ergebnis ist immer dasselbe: Zerstörung und humanitäre Krisen. Wir müssen innehalten und uns fragen: Was hat dazu geführt, dass Konflikte in unserer Welt zur Normalität geworden sind? Und vor allem: Wie können wir unsere Herzen bekehren und unsere Mentalität ändern, um in Solidarität und Geschwisterlichkeit wirklich Frieden zu suchen?

Wie viele Ressourcen werden für Waffen, insbesondere Atomwaffen, vergeudet, Ressourcen, die für wichtigere Prioritäten zur Gewährleistung der Sicherheit der Menschen eingesetzt werden könnten, wie z.B. die Förderung des Friedens und der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen, die Bekämpfung der Armut, die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung. Auch dies wird andererseits durch globale Probleme wie die aktuelle Covid-19-Pandemie und den Klimawandel deutlich. Was für eine mutige Entscheidung wäre es doch, »mit dem Geld, das für Waffen und andere Militärausgaben verwendet wird, „einen Weltfonds“ einzurichten, um dem Hunger ein für alle Mal ein Ende zu setzen und die Entwicklung der ärmsten Länder zu fördern«!

8. Erziehung zu einer Kultur der Achtsamkeit

Die Förderung einer Kultur der Achtsamkeit erfordert einen Erziehungsprozess, und der Kompass der sozialen Prinzipien stellt diesbezüglich ein zuverlässiges Instrument im Hinblick auf verschiedene Bereiche dar, die miteinander in Beziehung stehen. Hierfür möchte ich einige Beispiele nennen.

- Die Erziehung zur Achtsamkeit beginnt in der Familie, dem natürlichen und grundlegenden Kern der Gesellschaft, wo man lernt, in Beziehung und in gegenseitiger Achtung zu leben. Die Familie muss jedoch in die Lage versetzt werden, diese lebenswichtige und unverzichtbare Aufgabe zu erfüllen.

- Auch die Schule und die Universität tragen – immer in Zusammenarbeit mit der Familie – Verantwortung für die Erziehung, und in ähnlicher Weise in gewisser Hinsicht auch die Betreiber der sozialen Kommunikation. Sie sind aufgerufen, ein Wertesystem zu vermitteln, das auf der Anerkennung der Würde jeder Person, jeder sprachlichen, ethnischen und religiösen Gemeinschaft, jedes Volkes und der sich daraus ergebenden Grundrechte beruht. Bildung ist eine der gerechtesten und solidarischsten Säulen der Gesellschaft.

- Die Religionen im Allgemeinen und die Religionsführer im Besonderen können eine unersetzliche Rolle spielen, wenn es darum geht, den Gläubigen und der Gesellschaft die Werte der Solidarität, der Achtung der Unterschiede, der Akzeptanz und der Sorge für die schwächsten Brüder und Schwestern zu vermitteln. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Worte Papst Pauls VI. 1969 vor dem ugandischen Parlament: »Fürchtet die Kirche nicht; sie ehrt euch, sie erzieht für euch ehrliche und loyale Bürger, sie schürt keine Rivalitäten und Spaltungen, sie strebt nach gesunder Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Frieden; wenn sie irgendeine Vorliebe hat, dann die für die Armen, für die Erziehung der Kleinen und des Volkes sowie für die Sorge für die Leidenden und Verlassenen«.

- Erneut ermutige ich jene, die mit einem Bildungsauftrag im Dienst ihrer Bevölkerungen und in den – staatlichen und nichtstaatlichen – internationalen Organisationen arbeiten, sowie alle, die auf verschiedene Weise im Bildungs- und Forschungsbereich tätig sind, sich »eine offenere und integrativere Bildung« zum Ziel zu setzen, »die fähig ist, geduldig zuzuhören, einen konstruktiven Dialog und gegenseitiges Verständnis zu fördern«. Ich hoffe, dass diese im Rahmen des Globalen Bildungspakts ergangene Einladung breite und vielfältige Unterstützung findet.

9. Es gibt keinen Frieden ohne eine Kultur der Achtsamkeit

Eine Kultur der Achtsamkeit im Sinne eines gemeinsamen, solidarischen und partizipatorischen Einsatzes zum Schutz und zur Förderung der Würde und des Wohls aller, im Sinne einer Bereitschaft zur Aufgeschlossenheit, zur Aufmerksamkeit, zum Mitgefühl, zur Versöhnung und zur Heilung, zu gegenseitiger Achtung und gegenseitiger Annahme ist ein vorzüglicher Weg zur Schaffung von Frieden. »In vielen Erdteilen sind Friedenswege erforderlich, die zur Heilung führen; es sind Friedensstifter vonnöten, die bereit sind, einfallsreich und mutig Prozesse zur Heilung und zu neuer Begegnung einzuleiten«. 


In dieser Zeit, in der das Boot der Menschheit, vom Sturm der Krise gebeutelt, auf der Suche nach einem ruhigeren und friedlicheren Horizont mühsam vorankommt, ermöglichen uns das Ruder der Menschenwürde und der „Kompass“ der sozialen Grundprinzipien einen sicheren und gemeinsamen Kurs. Blicken wir als Christen auf die Jungfrau Maria, Stern des Meeres und Mutter der Hoffnung. Gemeinsam arbeiten wir daran, auf dem Weg zu einem neuen Horizont der Liebe und des Friedens, der Geschwisterlichkeit und Solidarität, der gegenseitigen Unterstützung und Annahme voranzuschreiten. Geben wir nicht der Versuchung nach, den anderen, insbesondere den Schwächsten gegenüber, gleichgültig zu sein; gewöhnen wir uns nicht daran, den Blick abzuwenden , sondern setzen wir uns jeden Tag konkret dafür ein, »eine Gemeinschaft zu bilden, die aus Geschwistern zusammengesetzt ist, die einander annehmen und füreinander sorgen«.

Aus dem Vatikan, am 8. Dezember 2020

Franziskus

(vatican news – sk)


 

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17. Dezember 2020, 11:35