Der Papst bei der Generalaudienz im Vatikan Der Papst bei der Generalaudienz im Vatikan 

Generalaudienz mit Papst Franziskus: Die Katechese

Vatican News dokumentiert an dieser Stelle eine Arbeitsübersetzung der Katechese, die Papst Franziskus bei seiner Generalaudienz an diesem Mittwoch gehalten hat. Wie üblich finden Sie die endgültige offizielle Fassung in Kürze auf www.vatican.va, der Internetseite des Heiligen Stuhls.

Liebe Brüder und Schwestern, guten Morgen!

Heute möchte ich mich auf das Gebet konzentrieren, das wir ausgehend von einem Abschnitt aus der Bibel sprechen können. Die Worte der Heiligen Schrift wurden nicht geschrieben, um auf Papyrus, Pergament oder Papier gefangen zu bleiben, sondern um von einem Menschen, der betet, empfangen zu werden und sie in seinem eigenen Herzen aufkeimen zu lassen. Das Wort Gottes geht immer ins Herz. Im Katechismus heißt es: „daß Gebet die Lesung der Heiligen Schrift begleiten muß - die Bibel kann nicht gelesen werden wie ein Roman - sie muss von Gebet begleitet werden, damit sie zu einem Gespräch zwischen Gott und Mensch werde" (Nr. 2653). Damit trägt dich das Gebet, denn es ist ein Dialog mit Gott. Dieser Vers der Bibel wurde auch für mich geschrieben, vor Jahrhunderten und Jahrhunderten, um mir ein Wort von Gott zu bringen. Er ist für jeden von uns geschrieben worden. Diese Erfahrung machen alle Gläubigen: Eine Schriftstelle, die ich schon oft gehört habe, spricht eines Tages plötzlich zu mir und erhellt eine Situation, die ich gerade erlebe. Aber es ist notwendig, dass ich an diesem Tag da bin, zur Verabredung mit diesem Wort und dieses Wort höre.

Jeden Tag kommt Gott vorbei und sät einen Samen in den Boden unseres Lebens. Wir wissen nicht, ob er heute dürren Boden, Dornbüsche oder guten Boden vorfindet, der diesen Samen wachsen lässt (vgl. Mk 4,3-9). Es kommt auf uns an, auf unser Gebet, auf das offene Herz, mit dem wir uns der Heiligen Schrift annähern, damit sie für uns das lebendige Wort Gottes wird. Gott kommt immer wieder vorbei. Und ich nehme meine Bemerkung aus der vergangenen Woche darüber wieder auf, was der heilige Augustinus sagte: ,Ich fürchte mich davor, dass der Herr vorübergeht'. Warum hat er Angst? Davor, dass ich ihn nicht höre. Dass ich nicht bemerke, dass es der Herr ist.

Durch das Gebet findet gewissermaßen eine neue Inkarnation des Wortes statt. Und wir sind die „Tabernakel", in denen die Worte Gottes unterkommen und bewacht werden wollen, damit sie die Welt besuchen können. Aus diesem Grund müssen wir uns der Bibel ohne Hintergedanken nähern, ohne sie zu instrumentalisieren. Der Gläubige sucht in den Heiligen Schriften nicht die Stütze für seine eigene philosophische und moralische Vision, sondern er hofft auf eine Begegnung; er weiß, dass sie im Heiligen Geist geschrieben wurden, und dass sie deshalb in diesem gleichen Geist aufgenommen und verstanden werden müssen, damit die Begegnung stattfinden kann.

Es stört mich, wenn ich Christen höre, die Bibel-Verse wie Papageien aufsagen. Sind sie dem Herrn mit diesem Vers begegnet? Es ist nicht nur ein Problem der Erinnerung. Es geht um die Erinnerung des Herzens, diejenige, die dich für die Begegnung mit dem Herrn öffnet. Und dieses Wort, dieser Vers, bringt dich zur Begegnung mit dem Herrn. 

Wir lesen also die Heilige Schrift, damit sie "uns liest". Und es ist eine Gnade, sich in diesem oder jenem Charakter, in dieser oder jener Situation wiedererkennen zu können. Die Bibel ist nicht für eine allgemeine Menschheit geschrieben, sondern für uns,  für mich, für dich, Männer und Frauen von Fleisch und Blut, mit Namen und Nachnamen, wie du und ich. Und das Wort Gottes, das vom Heiligen Geist durchdrungen ist,  lässt die Dinge nicht so, wie sie waren, wenn es mit offenem Herzen empfangen wird. Niemals. Etwas ändert sich. Und das ist die Gnade und die Kraft des Wortes Gottes.

Die christliche Tradition ist reich an Erfahrungen und Überlegungen zum Gebet mit der Heiligen Schrift. Insbesondere die Methode der "lectio divina", die in einem klösterlichen Umfeld geboren wurde, aber nun auch von Christen, die die Gemeinden besuchen, praktiziert wird, hat sich etabliert. Es geht zunächst einmal darum, die Bibelstelle mit Aufmerksamkeit zu lesen. Das ist die lectio divina, das aufmerksame Lesen der Bibel. Mehr noch, ich würde sagen, sie mit "Gehorsam" gegenüber dem Text zu lesen, um zu verstehen, was sie in sich selbst bedeutet. Anschließend tritt man in einen Dialog mit der Schrift, so dass diese Worte zu einem Motiv für Meditation und Gebet werden: immer dem Text treu bleibend, beginne ich mich zu fragen, was er "mir sagt". Das ist ein heikler Schritt: Wir dürfen nicht in subjektive Interpretationen abgleiten, sondern wir müssen uns in die lebendige Spur der Tradition einfügen, die jeden von uns mit der Heiligen Schrift verbindet. Und der letzte Schritt der lectio divina ist die Kontemplation. Hier machen Worte und Gedanken der Liebe Platz, wie zwischen Liebenden, denen es manchmal genügt, sich schweigend anschauen. Der biblische Text bleibt, aber wie ein Spiegel, wie eine Ikone, die es zu betrachten gilt. Und so hat man den Dialog.

Durch das Gebet kommt das Wort Gottes dazu, in uns zu wohnen, und wir wohnen in ihm. Das Wort inspiriert gute Absichten und unterstützt das Handeln; es gibt uns Kraft und Gelassenheit, und selbst wenn es uns in eine Krise bringt, gibt es uns Frieden. An "schlechten" und verwirrten Tagen sichert es dem Herzen einen Kern von Vertrauen und Liebe zu, der es vor den Angriffen des Bösen schützt. 

So wird das Wort Gottes Fleisch - ich erlaube mir, diesen Ausdruck zu verwenden, es wird Fleisch - in denen, die es im Gebet aufnehmen. In einigen antiken Texten taucht die Intuition auf, dass sich die Christen so sehr mit dem Wort identifizieren, dass man, selbst wenn alle Bibeln der Welt verbrannt würden, einen "Abdruck" davon immer noch retten könnte durch die Spur, die sie im Leben der Heiligen hinterlassen hat. Das ist ein schöner Ausdruck.

Das christliche Leben ist gleichzeitig ein Werk des Gehorsams und der Kreativität. gehosam, weil er auf das Wort Gottes hört; kreativ, weil er den heiligen Geist in sich trägt, der ihn dazu treibt, es umzusetzen, es weiter zu tragen. Jesus sagt dies am Ende einer seiner in Gleichnissen gehaltenen Reden mit diesem Vergleich: "Deswegen gleicht jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, einem Hausherrn, der aus seinem Schatz - das Herz - Neues und Altes hervorholt." (Mt 13,52). Die Heilige Schrift ist ein unerschöpflicher Schatz. Möge der Herr uns allen gewähren, durch das Gebet mehr und mehr daraus zu schöpfen. Danke.

(vatican news - christine seuss)

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27. Januar 2021, 10:42