Papst Franziskus an irakische Politiker: „Waffen sollen schweigen“
Christine Seuss – Vatikanstadt
Er komme als „Büßer“ angesichts der Zerstörung und Grausamkeit, die der Irak durchleben musste, betonte der Papst. Es ging in seiner Ansprache um friedlichen Wiederaufbau, Verantwortung für den anderen und das Überstehen von Krisen – und einmal mehr benannte der Papst explizit das Leid der Minderheit der Jesiden, die unter dem IS einem wahren Genozid ausgesetzt waren.
Keinen Hehl machte Franziskus daraus, dass er sich schon lange danach gesehnt habe, diese Reise zur „Wiege der Zivilisation“ durchzuführen, „die über den Patriarchen Abraham und zahlreiche Propheten mit der Heilsgeschichte und mit den großen religiösen Traditionen des Judentums, des Christentums und des Islam eng verbunden ist“. Er komme als Pilger des Friedens, bekräftigte der Papst erneut den seiner Reise zugrundeliegenden Geist.
Sein Besuch falle in eine Zeit, in der die Welt damit beschäftigt sei, die Auswirkungen der Corona-Pandemie zu überwinden, erinnerte er. Diese habe die ohnehin schon „fragile und instabile Lage“ in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht weiter verschlechtert. Doch es gehe nun darum, sich in der Krise solidarisch zu zeigen – was auch eine gerechte Verteilung der Impfstoffe einschließt – und vor allem, die Krise als Weckruf zu verstehen, „unsere Lebensstile, […] den Sinn unserer Existenz zu überdenken“ (Enzyklika Fratelli tutti, 33): „Es geht darum, aus dieser Zeit der Prüfung besser als vorher herauszukommen und die Zukunft mehr auf dem aufzubauen, was uns eint, als auf dem, was uns trennt“, wandte sich Franziskus an die Anwesenden.
In den letzten Jahrzehnten habe der Irak unter „den Katastrophen der Kriege, der Geißel des Terrorismus und konfessionellen Konflikten gelitten“, die jedoch „oft auf einen Fundamentalismus zurückgehen, der die friedliche Koexistenz verschiedener ethnischer und religiöser Gruppen, unterschiedlicher Ideen und Kulturen nicht akzeptieren kann“, analysierte Franziskus: „All das hat zu Tod, Zerstörung und Trümmern geführt, die immer noch sichtbar sind – und das nicht nur auf materieller Ebene. Die Schäden sitzen noch tiefer, wenn man an die Wunden in den Herzen so vieler Menschen und Gemeinschaften denkt, die noch Jahre brauchen werden, um zu heilen. Unter den vielen, die gelitten haben, kann ich nicht umhin, die Jesiden zu erwähnen: unschuldige Opfer sinnloser und unmenschlicher Barbarei, die wegen ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt und getötet wurden und deren Identität und Überleben selbst gefährdet war.“
Mitglieder der einen Menschheitsfamilie
Ein wirklicher Wiederaufbau sei nur dann möglich, wenn es gelinge, uns „mit unseren Unterschieden“ als „Mitglieder der einen Menschheitsfamilie“ zu sehen und somit auch den künftigen Generationen eine „bessere, gerechtere und menschlichere Welt“ zu hinterlassen, mahnte Franziskus. Er hob die Jahrtausende lange „religiöse, kulturelle und ethnische Vielfalt“ des Irak als „wertvolle Ressource, die genutzt werden muss, und nicht ein Hindernis, das es zu beseitigen gilt“, hervor: „Heute ist der Irak gerufen, allen, besonders den Menschen im Nahen Osten, zu zeigen, dass Unterschiede im zivilen Leben harmonisch zusammenwirken müssen, anstatt Anlass zu Konflikten zu geben,“ betonte Franziskus.
Dies brauche „geduldigen und aufrichtigen Dialog“, gegenseitige Achtung und Rechtssicherheit sowie den Einsatz aller, um Rivalitäten und Gegensätze zu überwinden. Das sei eine keineswegs einfache Aufgabe, gestand der Papst ein, der gleichzeitig die Bemühungen des Heiligen Stuhls dabei hervorhob, die „zuständigen Verantwortungsträger“ im Irak, aber auch andersorten, dazu aufzurufen, „allen religiösen Gemeinschaften Anerkennung, Achtung, Rechte und Schutz zu gewähren“. Er schätze die Anstrengungen, die in dieser Hinsicht bereits unternommen wurden, war es dem Papst wichtig zu versichern.
Anerkennung, Achtung, Rechte und Schutz für alle religiösen Gemeinschaften
Dabei sei Solidarität mit allen Gesellschaftsmitgliedern gefragt, betonte Franziskus: „Nach einer Krise ist es mit einem Wiederaufbau nicht getan – dieser muss auch gut gemacht sein, und zwar so, dass alle ein würdevolles Leben führen können. Man geht aus einer Krise nicht unverändert hervor – entweder besser oder schlechter,“ wiederholte er eine Prämisse, die er während der Pandemie-Zeit häufiger gebrauchte.
Dann wandte er sich direkt an die Anwesenden, die verantwortliche Positionen in der Politik und im diplomatischen Dienst innehaben: Sie sollten diesen Geist „geschwisterlicher Solidarität“ fördern. „Es ist notwendig, die Geißeln der Korruption, den Machtmissbrauch und die Illegalität zu bekämpfen, aber das ist nicht genug. Gleichzeitig ist es notwendig, Gerechtigkeit aufzubauen, für mehr Ehrlichkeit und Transparenz zu sorgen und die hierfür übergeordneten Institutionen zu stärken. So kann Stabilität wachsen und sich eine gesunde Politik entwickeln, die in der Lage ist, allen, insbesondere den jungen Menschen – so viele in diesem Land –, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu geben“, mahnte Franziskus.
In diesem Zusammenhang sprach er ein Wort aus, das aufhorchen ließ: „Herr Präsident, werte Verantwortungsträger, liebe Freunde! Ich komme als Büßer und bitte den Himmel und meine Brüder und Schwestern um Vergebung für so viel Zerstörung und Grausamkeit.“ Er komme als „Pilger des Friedens, im Namen Christi, des Friedensfürsten“, betonte Franziskus, der auch an die vergeblichen Bemühungen von Johannes Paul II. (1978-3005), den Irak zu besuchen, und das unablässige Gebet für das Land erinnerte.
„Die Waffen sollen schweigen!“, rief er den Verantwortungsträgern zu. Und weiter: „Ihre Verbreitung möge hier und überall eingeschränkt werden! Die Durchsetzung selbstsüchtiger Eigeninteressen, der von außen kommenden Interessen, die sich nicht um die lokale Bevölkerung kümmern, muss aufhören! Man lasse die Friedensstifter, die Gestalter des Friedens zu Wort kommen! Die Kleinen, die Armen, die einfachen Menschen, die in Frieden leben, arbeiten und beten wollen. Genug der Gewalt, des Extremismus, der Gruppenbildungen und der Intoleranz!“
Der Papst würdigte in diesem Zusammenhang die Bemühungen, die Grundlagen für eine demokratische Gesellschaft im Irak zu schaffen. Dabei müssten jedoch alle gesellschaftlichen, politischen und religiösen Gruppen beteiligt werden; auch die Grundrechte aller Bürger seien zu garantieren, mahnte Franziskus an, auf dem bereits eingeschlagenen Weg weiter zu gehen.
Grundrechte für alle Bürger garantieren
Doch auch der internationalen Gemeinschaft komme eine „entscheidende Rolle“ bei der Förderung des Friedens im Irak und im gesamten Nahen Osten zu, weitete Franziskus den Blick. Der bereits seit zehn Jahren andauernde Konflikt in Syrien habe gezeigt, dass diese Herausforderungen „zunehmend die gesamte Menschheitsfamilie“ beträfen, gab er zu bedenken. „Sie erfordern eine Zusammenarbeit auf globaler Ebene, um auch den wirtschaftlichen Ungleichheiten und regionalen Spannungen begegnen zu können, welche die Stabilität dieser Länder bedrohen“. In diesem Zusammenhang wolle er den Staaten und internationalen Organisationen danken, beim Wiederaufbau im Irak tätig mithülfen und damit auch die Voraussetzungen für eine Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Häuser möglich machten.
Ausdrücklich erwähnte der Papst die „vielen Organisationen, darunter auch katholische“, die sich in dieser Hinsicht mit tätiger Nächstenliebe hervorgetan hätten: „Ich hoffe, dass die Nationen ihre dem irakischen Volk in Freundschaft und im konstruktiven Engagement gereichte Hand nicht zurückziehen, sondern im Geiste gemeinsamer Verantwortung mit den lokalen Verantwortlichen weiter zusammenarbeiten, ohne dabei politische oder ideologische Interessen durchzusetzen“, mahnte der Papst eine andauernde Unterstützung jenseits kurzsichtiger Eigeninteressen an.
Religionen „von ihrer Natur her“ im Dienst des Friedens
Auch die Rolle der Religionen sprach Franziskus in seiner langen und intensiven Rede an. Denn Religionen müssen „von ihrer Natur her“ im Dienst des Friedens und der Geschwisterlichkeit stehen, Gewalt im Namen Gottes sei nie zu rechtfertigen. Auch im Irak wolle die katholische Kirche mit allen Religionen „für die Sache des Friedens zusammenarbeiten“, unterstrich Franziskus, der die Präsenz der Christen im Irak als „reiches Erbe“ hervorhob, das in Form eines gesunden Pluralismus „zum Wohlstand und zur Harmonie des Landes beitragen“ könne.
Der Präsident des Irak hatte Papst Franziskus zuvor förmlich begrüßt und ihm in seiner Ansprache dafür gedankt, dass er trotz der Sicherheitsbedenken und der Pandemie-Lage die Reise nicht verschieben wolle. „Das alles macht diesen Besuch in den Augen der Iraker nur noch wertvoller“, würdigte er die Hartnäckigkeit des Kirchenoberhauptes, dem er bescheinigte, stets am Schicksal des Irak Anteil genommen zu haben.
Das Land sei in den verschiedenen Phasen seiner Geschichte zwar zum Schauplatz von Gewalt, Tyrannei und Totalitarismus geworden, doch die Iraker seien stolz darauf, seit „vielen Jahrhunderten“ Seite an Seite mit Vertretern der verschiedenen Glaubensgemeinschaften zu leben. „Ohne Christen ist der Orient nicht vorstellbar!“, betonte das irakische Staatsoberhaupt, das daran erinnerte, wie muslimische Jugendliche und Soldaten nach Attentaten gegen die christliche Gemeinschaft und nach der Befreiung vom IS dafür gearbeitet hätten, die Christen zu schützen und deren Heiligtümer zu retten.
Es sei „unerlässlich, den Kampf gegen extremistische Ideologien fortzusetzen, die Wurzeln des Terrorismus auszurotten und die Werte des Zusammenlebens und der Vielfalt, an denen unsere Nationen so reich sind, zur Geltung zu bringen und sie in ein Element der Stärke und des Zusammenhalts zu verwandeln“, so Ahmed Salih. „Die Festigung dieser Werte ist in unserer heutigen Welt ein dringendes Erfordernis geworden, und sie ist das beste Geschenk, das wir der Zukunft unserer neuen Generationen machen können.“
Irakisches Volk Opfer unnötiger Kriege
Seit mehr als zwei Jahrzehnten sei das irakische Volk „Opfer unnötiger Kriege und einer Unterdrückungspolitik, wie es sie in der Geschichte noch nie gegeben hat, und in deren Verlauf Hunderttausende von Irakern aller Zugehörigkeiten hingerichtet, ermordet oder verschleppt wurden“, erinnerte das Staatsoberhaupt, das in einem Atemzug auch die Gräuel der Saddam-Diktatur wie die Umweltzerstörung nannte.
Auch er erinnerte in seiner Ansprache an die Leiden der verschiedenen Glaubensgemeinschaften, vor allem der Frauen, die besonders leicht Opfer von unvorstellbaren Gräueltaten werden, und der Gemeinschaft der Jesiden, von denen viele aus dem Land flüchten mussten.
Rückkehr der Christen und Jesiden erhofft
„Ein Erfolg wird sich erst dann einstellen, wenn die Rückwanderung von Vertriebenen und Ausgewanderten aus den Asylländern ohne Zwang beginnt, und dies erfordert einen energischen Einsatz für die wirtschaftliche Entwicklung und die Stabilität der Sicherheit in der gesamten Region, um ein nationales Umfeld zu schaffen, das die eingewanderten und ausgewanderten Söhne und Töchter dieses Landes gleichermaßen anzieht: vor allem Christen und Jesiden“, unterstrich der Präsident.
Insbesondere die Lebensbedingungen in Zeiten der Coronapandemie hätten gezeigt, dass die Welt „Frieden und Solidarität braucht, um Polarisierungen und Konflikte zu überwinden und das kollektive Potential im Interesse des Fortschritts im Dienste des Lebens und des Menschen zu vereinen“, so der Politiker: „Die Iraker haben mehr verdient als die Situation, in der sie derzeit leben, in einem Land, das mit Ressourcen und einer privilegierten Position gesegnet ist, die es ihm erlaubt, ein Gebiet der Sicherheit, der Stabilität und des Friedens zu sein.“
Abschließend wandte sich Salih nochmals eindringlich an den Papst: „Heiliger Vater, wir heilen unsere Wunden, und Sie sind nun hier, um sie mit uns zu heilen. Danke für Ihren großzügigen historischen Besuch und für alles, was Sie für das Wohl der Menschen auf der Erde tun.“
(vatican news)
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