Die Apostolische Konstitution Pascite Gregem Dei im Wortlaut
FRANZISKUS
Apostolische Konstitution
PASCITE GREGEM DEI
Mit der das Buch VI des Codex des kanonischen Rechtes erneuert wird
«Weidet die euch anvertraute Herde Gottes, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie Gott es will» (vgl. 1 Petr 5, 2). Diese inspirierten Worte des Apostels Petrus klingen im Ritus der Bischofsweihe nach: „Wie der Vater unseren Herrn Jesus Christus gesandt hat, um die Menschen zu erlösen, so hat dieser die Apostel gesandt. Er hat ihnen aufgetragen, in der Kraft des Heiligen Geistes das Evangelium zu predigen und alle Völker zu sammeln, sie zu heiligen und sie zu leiten. (…) [Jesus Christus selbst] führt euch durch den Bischof in Weisheit auf dem Weg durch die Zeit zur ewigen Freude“ (vgl. Die Weihe des Bischofs, der Priester und der Diakone, Nr. 42). Der Hirte aber ist dazu berufen, seine Aufgabe auszuüben «durch Rat, Zuspruch, Beispiel, aber auch in Autorität und heiliger Vollmacht» (Lumen gentium, Nr. 27), da es die Liebe und die Barmherzigkeit erforderlich machen, dass ein Vater sich auch bemüht, das wieder geradezubiegen, was manchmal krumm wird.
Seit den Zeiten der Apostel hat sich die auf ihrem irdischen Pilgerweg fortschreitende Kirche Verhaltensregeln gegeben, die im Laufe der Jahrhunderte einen zusammenhängenden Corpus verbindlicher sozialer Normen formten, welche das Volk Gottes einen und für deren Einhaltung die Bischöfe verantwortlich sind. Diese Normen spiegeln den Glauben wider, den wir alle bekennen. Von ihm erhalten sie ihre verpflichtende Kraft. Auf ihm gegründet bringen sie die mütterliche Barmherzigkeit der Kirche zum Ausdruck, die sich dessen bewusst ist, dass ihr Ziel immer im Heil der Seelen besteht. Da sie das Leben der Gemeinschaft im Dahingleiten der Zeit organisieren sollen, müssen diese Normen beständig im Austausch mit den Veränderungen in der Gesellschaft und den neuen Erfordernissen des Volkes Gottes stehen. Das macht es manchmal erforderlich, sie zu überarbeiten und an die veränderten Bedingungen anzupassen.
Im Zusammenhang mit den schnellen sozialen Veränderungen, die wir erleben und dessen bewusst, dass „die Epoche, in der wir leben, nicht nur eine Epoche der Veränderungen ist, sondern die eines Epochenwandels ” (Audienz für die Römische Kurie beim traditionellen Weihnachtsempfang, 21.12.2019), bestand die offensichtliche Notwendigkeit, auch die vom Hl. Johannes Paul II. am 25. Januar 1983 mit dem Codex des kanonischen Rechts promulgierte Strafgesetzgebung zu überarbeiten, um in entsprechender Weise auf die Erfordernisse der Kirche in aller Welt antworten zu können. Es war nötig, sie auf eine Weise zu verändern, die es den Hirten erlaubt, sie als flexibleres therapeutisches und korrigierendes Instrument zu benutzen, das zeitgerecht und mit pastoraler Liebe eingesetzt werden kann, um größerem Übel zuvorzukommen und die durch menschliche Schwäche geschlagenen Wunden zu heilen.
Aus diesem Grund hat mein verehrter Vorgänger Benedikt XVI. im Jahr 2007 dem Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte den Auftrag gegeben, mit der Arbeit für eine Überarbeitung der im Codex von 1983 enthaltenen Strafnormen zu beginnen. Kraft dieses Auftrags hat sich das Dikasterium bemüht, die neuen Erfordernisse konkret zu analysieren, die Grenzen und die Mängel der geltenden Rechtsordnung festzustellen, und mögliche, klare und einfache Lösungen dafür zu finden. Diese Arbeit wurde im Geist der Kollegialität und der Zusammenarbeit umgesetzt. Es wurden Beiträge von Experten und Hirten erbeten und die möglichen Lösungen mit den Erfordernissen und der Kultur der verschiedenen Ortskirchen verglichen.
Nachdem ein erster Entwurf des neuen Buches VI des Codex des kanonischen Rechtes fertig war, wurde er an alle Bischofskonferenzen, die Dikasterien der Römischen Kurie, die Generalobern der Ordensinstitute, die kirchenrechtlichen Fakultäten und andere kirchliche Institutionen verschickt, um ihre Bemerkungen zusammenzutragen. Gleichzeitig wurden auch zahlreiche Kirchenrechtler und Strafrechtsexperten aus aller Welt befragt. Die entsprechend geordneten Ergebnisse dieser ersten Konsultation wurden dann von einer speziellen Expertengruppe geprüft, welche den Entwurf entsprechend den eingegangenen Vorschlägen überarbeitete, um ihn danach nochmals dem Urteil der Konsultoren zu unterbreiten. Schließlich wurde nach weiteren Veränderungen und weiterem Austausch der endgültige Entwurf von der Plenarversammlung der Mitglieder des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte im Februar 2020 geprüft. Nachdem die von der Plenaria gewünschten Korrekturen eingearbeitet worden waren, wurde der Entwurf dem Papst vorgelegt.
Die Beachtung und Respektierung der Strafdisziplin der Kirche ist Aufgabe des ganzen Volkes Gottes, aber die Verantwortung für ihre korrekte Anwendung ist – wie oben gesagt – in besonderer Weise den Hirten und den Oberen der einzelnen Gemeinschaften aufgetragen. Es ist eine Aufgabe, die in untrennbarer Weise mit dem munus pastoraleverbunden ist, das ihnen anvertraut wird. Sie soll als konkretes und unverzichtbares Erfordernis der Liebe gegenüber der Kirche, der christlichen Gemeinschaft und der eventuellen Opfer ausgeübt werden, aber auch gegenüber demjenigen, der eine Straftat begangen hat und der, zusammen mit der Barmherzigkeit, auch der Korrektur von Seiten der Kirche bedarf.
Das Unverständnis für den engen Zusammenhang, der in der Kirche zwischen der Ausübung der Liebe und der Umsetzung der Strafdisziplin besteht – immer, wenn es die Umstände und die Gerechtigkeit erforderlich machen –, haben in der Vergangenheit viel Schaden verursacht. Diese Art des Denkens – die Erfahrung lehrt uns das – steht in der Gefahr, dahin zu führen, dass man mit Gewohnheiten lebt, die der Rechtsordnung entgegenstehen und denen nicht nur durch Ermahnungen und mit Ratschläge begegnet werden kann. Eine solche Situation bringt oft die Gefahr mit sich, dass sich eine bestimmte Lebensweise im Laufe der Zeit verfestigt, eine Korrektur schwieriger macht und in vielen Fällen Ärgernis und Verwirrung unter den Gläubigen hervorruft. Aus diesem Grund ist die Anwendung der Strafen von Seiten der Hirten und der Oberen notwendig. Die Nachlässigkeit eines Hirtenbei der Anwendung des Strafrechts macht deutlich, dass er seine Aufgabe nicht recht und treu ausübt, worauf ich deutlich in Dokumenten aus der jüngeren Zeit hingewiesen habe, zum Beispiel in den Apostolischen Schreiben in Form eines «Motu Proprio» Come una Madre amorevole (4. Juni 2016) und Vos estis lux mundi (7. Mai 2019).
Es ist tatsächlich die Liebe, die es erforderlich macht, dass die Hirten das Strafsystem immer dann anwenden, wenn es erforderlich ist, und dabei die drei Ziele beachten, die es notwendig machen, nämlich die Wiederherstellung der Erfordernisse der Gerechtigkeit, die Besserung des Straftäters und die Beseitigung von Ärgernissen.
Wie ich kürzlich gesagt habe, hat die kirchliche Strafe auch eine Funktion der Wiedergutmachung und einer heilsamen Medizin und ist vor allem auf das Wohl des Gläubigen gerichtet. «Sie stellt letztlich ein positives Mittel zur Verwirklichung des Reiches Gottes dar, um die Gerechtigkeit in der Gemeinschaft der Gläubigen, die zur persönlichen und gemeinschaftlichen Heiligung berufen sind, wiederherzustellen» (An die Teilnehmer der Plenarversammlung des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte, 21. Februar 2020).
Durchaus in Kontinuität mit der allgemeinen Ordnung, die einer Tradition der Kirche folgt, welche sich mit der Zeit gefestigt hat, bringt der neue Text Veränderungen verschiedener Art gegenüber dem bisher geltenden Recht mit sich und belegt auch einige neue Straftatbestände mit Strafen. Viele der eingeführten Neuheiten, die im Text zu finden sind, antworten in besonderer Weise auf das innerhalb der Gemeinschaften immer mehr verbreitete Erfordernis, Gerechtigkeit und Ordnung wiederhergestellt zu sehen, die durch die Straftat verletzt wurden.
Der Text ist auch in technischer Hinsicht verbessert worden, besonders was grundlegende Aspekte des Strafrechts wie z.B. das Verteidigungsrecht, die Verjährung der Strafklage und eine bessere Umschreibung der Strafen betrifft. Dies entspricht einem Erfordernis des Strafrechts und erlaubt es, den Ordinarien und den Richtern objektive Kriterien anzubieten, wenn es darum geht, die angemessenste Strafe im konkreten Fall zu finden.
Bei der Überarbeitung wurde auch das Prinzip angewandt, die Fälle zu beschränken, in denen die Möglichkeit zur Verhängung einer Strafe dem Ermessen der zuständigen Autorität überlassen wird. Dadurch soll, servatis de iure servandis, die kirchliche Einheit bei der Verhängung von Strafen gefördert werden, besonders wenn es um Straftaten geht, die in der Gemeinschaft größeren Schaden anrichten und größeres Ärgernis verursachen.
All das vorausgesetzt, promulgieren wir mit dieser Apostolischen Konstitution den erneuerten Text des Buches VI des Codex des kanonischen Rechtes, so wie er geordnet und überarbeitet wurde, in der Hoffnung, dass er zu einem Instrument für das Heil der Seelen wird und dass seine Vorschriften, wenn es erforderlich ist, von den Hirten in Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in die Praxis umgesetzt werden, im Bewusstsein, dass es zu ihrem Dienst gehört, als Pflicht der Gerechtigkeit – einer herausragenden Kardinaltugend – Strafen dann zu verhängen, wenn es das Wohl der Gläubigen erforderlich macht.
Damit sich ferner alle leicht informieren und die Verordnungen, um die es sich handelt, gründlich kennenlernen können, bestimmen wir, dass all das, was hier festgelegt wurde, am 8. Dezember in Kraft tritt und im L’Osservatore Romano veröffentlicht sowie später in die Acta Apostolicae Sedis aufgenommen wird.
Darüber hinaus bestimmen wir, dass mit dem Inkrafttreten des neuen Buch VI das derzeit geltende Buch VI des Codex des kanonischen Rechtes abrogiert ist, ungeachtet jeder entgegenstehenden Sache, auch wenn sie noch so beachtenswert ist.
Gegeben zu Rom, bei Sankt Peter, am Hohen Pfingstfest, 23. Mai 2021, im neunten Jahr unseres Pontifikates.
FRANZISKUS
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