Welttag der Großeltern: Die Predigt im Wortlaut
Jesus saß, um zu lehren; als er »aufblickte und sah, dass so viele Menschen zu ihm kamen, fragte er Philippus: Wo sollen wir Brot kaufen, damit diese Leute zu essen haben?« (Joh 6,5). Jesus begnügt sich nicht damit zu lehren, sondern stellt sich der Anfrage durch den Hunger, der im Leben der Menschen beständig da ist. Und so speist er die Menge, indem er die fünf Gerstenbrote und die zwei Fische verteilt, die er von einem kleinen Jungen erhalten hat. Da einige Brotstücke übrig geblieben sind, befiehlt er am Ende seinen Jüngern, sie einzusammeln, »damit nichts verdirbt« (V. 12).
An diesem Tag, der den Großeltern und älteren Menschen gewidmet ist, möchte ich mich genau auf diese drei Momente konzentrieren: Jesus sieht den Hunger der Menge; Jesus teilt das Brot; Jesus fordert dazu auf, die übrig gebliebenen Stücke einzusammeln. Drei Momente, die sich in drei Verben zusammenfassen lassen: sehen, teilen, behüten.
Das erste, sehen. Der Evangelist Johannes hebt zu Beginn der Erzählung dieses Detail hervor: Jesus blickt auf und sieht die vielen Menschen, die hungrig sind, nachdem sie weit gelaufen sind, um ihm zu begegnen. So beginnt das Wunder, mit dem Blick Jesu, der nicht gleichgültig oder zu beschäftigt ist, sondern den quälenden Hunger spürt, der die müde Menschheit plagt. Er macht sich Sorgen um uns, er sorgt für uns, er will unseren Hunger nach Leben, nach Liebe und nach Glück stillen. In den Augen Jesu finden wir den Blick Gottes: Es ist ein aufmerksamer Blick, der uns wahrnimmt, der die Erwartungen, die wir im Herzen tragen, erforscht, der die Mühen, die Müdigkeit und die Hoffnung sieht, mit der wir weitermachen. Ein Blick, der die Not jedes einzelnen Menschen zu erfassen weiß: In Gottes Augen gibt es keine anonyme Masse, sondern jeden einzelnen Menschen mit seinem eigenen Hunger. Jesus hat einen tiefer schauenden Blick, der nämlich in der Lage ist, vor dem Leben eines anderen Menschen stehen zu bleiben und darin zu lesen.
Dies ist auch der Blick, den die Großeltern und älteren Menschen auf unser Leben geworfen haben. Es ist die Art und Weise, wie sie sich seit unserer Kindheit um uns gekümmert haben. Nach einem Leben, das oft aus Opfern bestanden hat, sind sie nicht gleichgültig gegenüber uns gewesen oder zu beschäftigt ohne uns. Sie hatten einen wachen Blick, voll von Zärtlichkeit. Als wir aufwuchsen und uns unverstanden fühlten, oder wenn wir Angst vor den Herausforderungen des Lebens hatten, bemerkten sie uns und was sich in unseren Herzen veränderte, unsere heimlichen Tränen und die Träume, die wir in uns trugen. Wir sind alle auf den Knien unserer Großeltern gesessen, die uns in ihren Armen hielten. Und auch dieser Liebe ist es zu verdanken, dass wir erwachsen geworden sind.
Und wir: Welchen Blick haben wir für die Großeltern und älteren Menschen? Wann haben wir das letzte Mal einem älteren Menschen Gesellschaft geleistet oder ihn angerufen, um ihm zu sagen, dass wir ihm nahe sind, und um uns von seinen Worten segnen zu lassen? Ich leide, wenn ich eine Gesellschaft sehe, die umherhetzt, die sehr beschäftigt und gleichgültig ist, von zu vielen Dingen in Beschlag genommen und unfähig, für einen Blick, einen Gruß, eine Liebkosung innezuhalten. Ich habe Angst vor einer Gesellschaft, in der wir alle eine anonyme Masse bilden und nicht mehr fähig sind, aufzublicken und uns gegenseitig zu erkennen. Die Großeltern, die unser Leben genährt haben, sind jetzt hungrig nach uns: nach unserer Aufmerksamkeit, nach unserer Zärtlichkeit; danach, unsere Nähe zu spüren. Richten wir unseren Blick auf sie, so wie es Jesus mit uns tut.
Das zweite Verb: teilen. Nachdem Jesus den Hunger dieser Menschen gesehen hat, möchte er sie speisen. Dies aber geschieht dank der Gabe eines kleinen Jungen, der seine fünf Brote und zwei Fische anbietet. Es ist schön, dass im Zentrum dieses Wunders, von dem so viele Erwachsene – etwa fünftausend Menschen – profitiert haben, ein Junge steht, ein Jugendlicher, der teilt, was er hat.
Heute braucht es eine neue Allianz zwischen Jungen und Alten, um den gemeinsamen Schatz des Lebens zu teilen, es ist nötig, gemeinsam zu träumen, die Konflikte zwischen den Generationen zu überwinden und die Zukunft für alle vorzubereiten. Ohne diese Allianz des Lebens, der Träume und der Zukunft laufen wir Gefahr zu verhungern, weil die abgebrochenen Beziehungen, die Einsamkeit, der Egoismus und die Auflösungskräfte zunehmen. Oft haben wir in unserer Gesellschaft das Leben der Idee gewidmet: „Jeder denkt an sich selbst“. Aber das ist tödlich! Das Evangelium ermahnt uns, zu teilen, was wir sind und was wir haben – nur so wird unser Hunger gestillt werden. Oft habe ich daran erinnert, was der Prophet Joël dazu sagt (vgl. Joël 3,1): Junge und Alte zusammen. Die jungen Menschen, Propheten der Zukunft, die die Geschichte, von der sie herkommen, nicht vergessen; die älteren Menschen, nimmermüde Träumer, die ihre Erfahrung an die Jungen weitergeben, ohne ihnen den Weg zu versperren. Junge und Alte, der Schatz der Tradition und die Frische des Geistes. Junge Menschen und ältere Menschen zusammen. In Gesellschaft und Kirche: gemeinsam.
Das dritte Verb, behüten. Nachdem sie gegessen hatten, so merkt das Evangelium an, waren viele Brotstücke übrig geblieben. Und Jesus mahnt: »Sammelt die übrig gebliebenen Brocken, damit nichts verdirbt« (Joh 6,12). So ist das Herz Gottes: Er gibt uns nicht nur mehr, als wir brauchen, sondern er ist auch darauf bedacht, dass nichts verloren geht, nicht einmal ein Bruchstück. Ein kleines Stück Brot mag wenig erscheinen, aber in Gottes Augen darf nichts weggeworfen werden. Umso mehr ist niemand auszusondern. Es ist ein prophetischer Aufruf, den wir heute in uns selbst und in der Welt wieder neu erschallen lassen müssen: sammelt, bewahrt sorgfältig und behütet. Die Großeltern und älteren Menschen sind keine wegzuwerfenden Reste des Lebens. Sie sind jene kostbaren Brotstücke auf dem Tisch unseres Lebens, die uns immer noch mit einem Duft nähren können, den wir verloren haben, „dem Duft der Barmherzigkeit und der Erinnerung“. Verlieren wir nicht die Erinnerung, deren Träger die Älteren sind. Wir sind Kinder dieser Geschichte und ohne Wurzeln werden wir verdorren. Sie haben uns auf dem Weg des Wachstums behütet, jetzt ist es an uns, ihr Leben zu behüten, ihre Schwierigkeiten zu lindern, auf ihre Bedürfnisse zu hören, die Bedingungen zu schaffen, damit ihnen bei ihren täglichen Aufgaben geholfen werden kann und sie sich nicht allein fühlen. Fragen wir uns: „Habe ich meine Großeltern besucht? Die älteren Menschen in meiner Familie oder Nachbarschaft? Habe ich ihnen zugehört? Habe ich ihnen etwas Zeit geschenkt?“ Kümmern wir uns um sie, damit nichts verloren geht: nichts von ihrem Leben und ihren Träumen. Es liegt an uns, heute vorzubeugen, um morgen nicht zu bedauern, dass wir denen, die uns geliebt und uns das Leben geschenkt haben, nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet haben.
Brüder und Schwestern, die Großeltern und älteren Menschen sind das Brot, das unser Leben nährt. Wir wollen dankbar sein für ihren wachen Blick, der uns wahrgenommen hat, für ihren Schoß, auf dem wir sitzen durften, wenn sie uns in den Arm genommen haben, für ihre Hände, die uns begleitet und aufgerichtet haben, für die Spiele, die sie mit uns gespielt haben, und für die Liebkosungen, mit denen sie uns getröstet haben. Bitte, vergessen wir sie nicht. Verbünden wir uns mit ihnen. Lernen wir, innezuhalten, sie anzuerkennen und ihnen zuzuhören. Sondern wir sie niemals aus. Lasst sie uns in Liebe behüten. Und lernen wir, Zeit mit ihnen zu verbringen. Dadurch werden wir zu besseren Menschen. Und gemeinsam, junge Menschen und ältere Menschen, werden wir satt am Tisch des Teilens, der von Gott gesegnet ist.
Alle Texte des Papstes finden Sie wie üblich in der offiziellen deutschen Übersetzung auf der Internetseite des Vatikans www.vatican.va!
(vaticannews - skr)
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