Die Päpste und der 11. September - Aufruf zu Versöhnung
Nur wenige Daten in der Geschichte haben sich ähnlich unauslöschlich in das kollektive Gedächtnis gegraben wie der 11. September 2001. Wohl jeder von uns weiß noch, wie er diesen Tag erlebte. Über die Ereignisse zu sprechen bedeutet, die Bürger aller Nationen an einen Terroranschlag zu erinnern, der die Geschichte des 21. Jahrhunderts in wenigen Stunden neu geschrieben hat. Zwanzig Jahre sind seit diesem Tag vergangen, der auch in Bezug auf die Medienberichterstattung außergewöhnlich war: Auf allen Kontinenten konnte man live die verschiedenen Phasen des Anschlags verfolgen, der im Einsturz der New Yorker Zwillingstürme gipfelte. Bei dem Terror-Attentat kamen fast 3.000 Menschen ums Leben, einschließlich der 19 Entführer bei den vier Selbstmordattentaten mit den Flugzeugen.
Einige der Opfer konnten erst kürzlich - in der Woche des 20. Jahrestages der Attentate - identifiziert werden. Dies ist Teil eines Anerkennungsprozesses, der in diesen zwei Jahrzehnten nie unterbrochen wurde und den Barbara Sampson, leitende Gerichtsmedizinerin in New York, jüngst als „heilige Verpflichtung" bezeichnete.
Die Bestürzung Johannes Pauls: „jenseits aller Schmerzen"
Die Bilder der einstürzenden Zwillingstürme gingen seinerzeit um die Welt. Auch im Vatikan kamen Live-Bilder des Terroranschlags an. Papst Johannes Paul II. war am 9. September 2001 in Castel Gandolfo. Joaquín Navarro-Valls, seit mehr als 20 Jahren Direktor des Presseamtes des Heiligen Stuhls, informierte ihn. „Ich habe angerufen und direkt mit ihm gesprochen. Ich erzählte ihm, was passiert war. Ich erzählte ihm von den schrecklichen Bildern, die CNN live ausstrahlte", berichtete der enge Mitarbeiter des Papstes in einem Interview mit Andrea Tornielli zum zehnten Jahrestag des Anschlags.
„Der Papst" - so lesen wir - „war tief erschüttert und betrübt. Aber ich erinnere mich, dass er sich fragte, wie ein solch abscheulicher Anschlag geschehen konnte. Seine Bestürzung angesichts dieser Bilder ging über den Schmerz hinaus. Er blieb noch kurz vor dem Fernseher sitzen und zog sich dann in die kleine Kapelle zurück, die nur wenige Schritte vom Fernsehzimmer entfernt war. Er verweilte lange Zeit im Gebet. Er wollte sich auch mit George Bush in Verbindung setzen, um ihm seine Nähe, seine Trauer und sein Gebet mitzuteilen. Es war jedoch nicht möglich, den Präsidenten zu erreichen, der aus Sicherheitsgründen mit der Air Force One unterwegs war. Daher beschloss der Papst, sofort ein Telegramm zu schicken. Am nächsten Morgen widmete er die Messe den Opfern des Anschlags und bat Gott, den vielen Opfern die ewige Ruhe zu schenken und den Familien Mut und Trost zu spenden".
Die Generalaudienz am 12. September 2001
Johannes Paul II. sprach bei der Generalaudienz am Mittwoch, 12. September 2001, über die Messe, die für die Opfer des Anschlags gefeiert wurde. Der Papst bezeichnete das, was wenige Stunden zuvor geschehen war, als „dunklen Tag in der Geschichte der Menschheit." Es habe sich ein „schrecklicher Angriff auf die Würde des Menschen" ereignet. Er sprach auch von „bestialischer Grausamkeit" und drückte den Familien der Toten und Verwundeten seine geistige Nähe aus. Dies sagte Papst Johannes Paul II. damals wörtlich:
„Gestern war ein dunkler Tag in der Geschichte der Menschheit, es ereignete sich ein schrecklicher Angriff auf die Würde des Menschen. Seit dem Moment, als ich die Nachricht erhielt, habe ich die Entwicklung der Lage mit großer Sorge weiterverfolgt, und ich habe mein inniges Gebet zum Herrn erhoben. Wie ist es nur möglich, daß solche Taten bestialischer Grausamkeit geschehen können? Das menschliche Herz hat Abgründe, die gelegentlich Pläne unerhörter Ruchlosigkeit hervorbringen können. Diese führen dann dazu, in wenigen Augenblicken das friedliche Alltagsleben eines Volkes zu zerstören. Wenn in solchen Momenten jedes Wort unangemessen scheint, kommt uns der Glaube zu Hilfe.
Allein das Wort Christi kann uns helfen
Allein das Wort Christi kann uns helfen, eine Antwort auf die Fragen zu geben, die unser Gemüt quälen. Alle, die an Gott glauben, wissen, daß auch dann das Böse und der Tod nicht das letzte Wort haben, wenn die Mächte der Finsternis zu triumphieren scheinen. Auf dieser Wahrheit gründet die christliche Hoffnung; in diesen Stunden bezieht unser im Gebet verankertes Vertrauen daraus seine Kraft.
Mit tief empfundener Anteilnahme wende ich mich in diesem Augenblick der Angst und Fassungslosigkeit, in dem die Tapferkeit so vieler Männer und Frauen guten Willens auf eine harte Probe gestellt wird, an das geliebte Volk der Vereinigten Staaten. In ganz besonderer Weise umarme ich die Angehörigen der Toten und der Verletzten und versichere sie meiner geistlichen Nähe. "
Schon vor der Ankunft des Papstes auf dem Petersplatz hatte ein Sprecher den anwesenden Gläubigen eine besondere Bitte von Johannes Paul II. aufgrund der „dramatischen Ereignisse" des Vortages mitgeeilt: „Gerade um eine Atmosphäre der Besinnung und des Gebets zu schaffen" - so war es auf dem Platz zu hören - „wünscht der Heilige Vater, dass es keinen Beifall gibt".
Möge Frieden in der Welt herrschen
Elf Tage später, während seiner apostolischen Reise nach Armenien und Kasachstan, hielt Johannes Paul II. am Ende des Angelus in Astana einen eindringlichen Appell für den Weltfrieden. Der Papst forderte die Gläubigen aller Religionen auf, „gemeinsam eine Welt ohne Gewalt aufzubauen" und nicht zuzulassen, dass die Ereignisse in den Vereinigten Staaten Spaltungen noch vertiefe, denn „Religion kann niemals eine Quelle von Konflikten sein", so Johannes Paul II. Wörtlich sagte er:
„Von dieser Stadt aus, von Kasachstan aus, einem Land, das ein Beispiel für die Harmonie zwischen Männern und Frauen unterschiedlicher Herkunft und Konfessionen ist, möchte ich einen aufrichtigen Appell an alle richten, an Christen und Angehörige anderer Religionen, gemeinsam eine Welt ohne Gewalt aufzubauen, eine Welt, die das Leben liebt und in Gerechtigkeit und Solidarität voranschreitet. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Geschehene die Spaltung weiter vertieft. Religion kann niemals eine Quelle von Konflikten sein. Von diesem Ort aus lade ich sowohl Christen als auch Muslime ein, ein großes Gebet zu dem einen und allmächtigen Gott zu sprechen, dessen Kinder wir alle sind, damit das große Geschenk des Friedens in der Welt herrschen möge. Mögen alle Völker, getragen von göttlicher Weisheit, überall daran arbeiten, eine Zivilisation der Liebe aufzubauen, in der es keinen Platz für Hass, Diskriminierung und Gewalt gibt. Ich bete von ganzem Herzen zu Gott, dass die Welt in Frieden lebt. Amen."
Johannes Paul II. ließ zudem im Januar 2002 in Assisi ein neues Treffen der Religionen für den Frieden einberufen, das an das historische erste Treffen von 1986 anknüpfen sollte. In seiner Grußbotschaft an die Vertreter der verschiedenen Religionen der Welt heißt es:
„In den Stunden größter Sorge um das Schicksal der Welt empfinden wir noch stärker die Pflicht, uns persönlich für die Verteidigung und Förderung jenes grundlegenden Guts, das der Friede ist, einzusetzen."
Der erste Jahrestag
Der 11. September 2002 fiel auf einen Mittwoch. Bei der Generalaudienz erinnerte Johannes Paul II. an das, was zwölf Monate zuvor geschehen war. Er tat dies in erster Linie, indem er die Opfer des Anschlags „der Barmherzigkeit Gottes" empfahl. Der Papst bekräftigte nachdrücklich: „Jede menschliche Person hat das Recht auf Achtung des eigenen Lebens und der eigenen Würde, weil sie unantastbare Güter sind. Das sagt Gott, das ist vom internationalen Recht festgelegt, das wird vom menschlichen Gewissen verkündet, das wird vom bürgerlichen Zusammenleben gefordert. "
An dem laut Johannes Paul II. „traurigen Gedenktag" wurde bei der Generalaudienz darum zu Gott gebetet, dass „die Liebe den Haß verdränge und die Eintracht und Solidarität sich durch den Einsatz aller gutwilligen Personen auf der ganzen Welt festigen." Bereits am 1. Januar desselben Jahres hatte Papst Johannes Paul II. übrigens in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag an das erinnert, was einige Monate zuvor geschehen war. In seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 2002 betonte er die Bedeutung von Gerechtigkeit und Vergebung für den Frieden:
„Die blutigen Geschehnisse der jüngsten Vergangenheit haben mich dazu bewegt, einen Gedanken wieder aufzunehmen, der mir in der Erinnerung an die geschichtlichen Ereignisse, die mein Leben, besonders in meinen Jugendjahren, gezeichnet haben, aus tiefstem Herzen kommt.
Die unermeßlichen Leiden der Völker und der Einzelnen, darunter auch nicht wenige meiner Freunde und Bekannten, verursacht durch die totalitären Regime des Nationalsozialismus und des Kommunismus, haben stets meine Seele bedrängt und mich zum Gebet angeregt. Oftmals habe ich innegehalten, um über die Frage nachzudenken: Welcher Weg führt zur vollen Wiederherstellung der so grausam verletzten sittlichen und sozialen Ordnung? Durch Nachdenken und in der persönlichen Beschäftigung mit der biblischen Offenbarung bin ich zu der Überzeugung gelangt, daß sich die zerbrochene Ordnung nicht voll wiederherstellen läßt, außer indem man Gerechtigkeit und Vergebung miteinder verbindet. Die Stützpfeiler des wahren Friedens sind die Gerechtigkeit und jene besondere Form der Liebe, wie sie die Vergebung darstellt."
Benedikt XVI. und Franziskus an der Gedenkstätte
Die beiden Nachfolger Johannes Paul II. waren auch an der Gedenkstätte in New York, um der Opfer der Anschläge zu gedenken. Benedikt XVI. kam siebeneinhalb Jahre nach dem verheerenden Anschlag, am 20. April 2008, und verweilte am Ground Zero im Gebet:
O Gott der Liebe, des Mitleids und der Versöhnung,
schau auf uns, Menschen vieler verschiedener Glaubensrichtungen und Traditionen,
die wir heute versammelt sind an diesem Ort,
dem Schauplatz unglaublicher Gewalt und unvorstellbaren Leides.
Wir bitten dich um deiner Güte willen,
ewiges Licht und ewigen Frieden zu schenken
all denen, die hier gestorben sind –
den heldenmütigen Helfern:
unserer Feuerwehr, den Polizeibeamten,
den Mitgliedern des Notfall-Kommandos und dem Personal der Hafenleitung
zusammen mit all den unschuldigen Männern und Frauen,
die Opfer dieser Tragödie wurden,
nur weil ihre Arbeit oder ihr Dienst
sie hierher brachte am 11. September 2001.
Wir bitten dich, in deinem Mitleid
Heilung zu schenken all denen,
die an Verletzungen und Krankheit leiden,
weil sie hier zugegen waren an jenem Tag.
Heile auch den Schmerz der Familien, die noch trauern,
und all derer, die geliebte Menschen in dieser Tragödie verloren haben.
Gib ihnen die Kraft, ihr Leben mit Mut und Hoffnung weiterzuführen.
Wir denken auch an diejenigen,
die an demselben Tag im Pentagon und in Shanksville, in Pennsylvania
den Tod, Verletzungen oder den Verlust ihrer Lieben erlitten haben.
Unsere Herzen vereinen sich mit den ihren,
während unser Gebet ihren Schmerz und ihr Leiden einschließt.
Gott des Friedens, bringe deinen Frieden in unsere gewalttätige Welt:
Frieden in die Herzen aller Männer und Frauen
und Frieden unter den Nationen der Erde.
Führe die auf den Weg deiner Liebe zurück,
deren Herz und Geist
sich im Haß verzehren.
Gott des Verstehens,
überwältigt von der Ungeheuerlichkeit dieser Tragödie,
suchen wir angesichts solch schrecklicher Ereignisse
dein Licht und deine Führung.
Gib, daß die, deren Leben verschont wurde,
so leben, daß die hier verlorenen Leben
nicht umsonst verloren seien.
Tröste uns und steh uns bei,
stärke uns in der Hoffnung,
und gib uns die Weisheit und den Mut,
unermüdlich für eine Welt zu arbeiten,
wo wirklicher Friede und echte Liebe herrschen
unter den Nationen und in den Herzen aller.
Papst Franziskus wählte einige Jahre später die Form eines interreligiösen Treffens, um gemeinsam mit den Vertretern der anderen Religionen der schrecklichen Anschläge zu gedenken.
„Unterschiedliche Gedanken und Gefühle steigen in mir auf, während ich hier am Ground Zero stehe, wo Tausende von Menschenleben in einem sinnlosen Zerstörungsakt hingerafft wurden", so Franziskus am 25. September 2015 am Ground Zero, während seiner Apostolischen Reise nach Kuba und in die Vereinigten Staaten. Und weiter: „Hier ist die Trauer geradezu greifbar. Das Wasser, das wir in diese leere Grube fließen sehen, erinnert uns an all die Leben, die dahinsanken unter der Gewalt jener, die meinen, dass Zerstörung der einzige Weg zur Lösung von Konflikten sei. Es ist der lautlose Schrei derer, die Opfer einer Mentalität wurden, die nur Gewalt, Hass und Rache kennt – einer Mentalität, die nur Kummer, Leiden, Zerstörung und Tränen verursachen kann (...)". Abschließend rief Franziskus die Anwesenden zum gemeinsamen Gebet auf:
„Hier an dieser Gedenkstätte möchte ich Ihnen allen vorschlagen, dass wir – jeder und jede in der eigenen Weise, aber gemeinsam – einen Moment im Schweigen und im Gebet verharren. Lassen Sie uns vom Himmel die Gabe erbitten, dass wir uns für die Sache des Friedens engagieren. Für den Frieden in unseren Häusern, unseren Familien, unseren Schulen und unseren Gemeinschaften. Frieden an all den Orten, wo der Krieg nie zu enden scheint. Frieden in den Gesichtern, die nichts anderes als Schmerz erfahren haben. Frieden überall in dieser weiten Welt, die Gott uns geschenkt hat als ein Haus von allen und für alle. Einfach FRIEDEN. Beten wir schweigend."
(vatican news - sst)
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