Papst an Volksbewegungen: Es ist Zeit zu handeln
Gudrun Sailer - Vatikanstadt
Jede Person, jede Organisation und jedes Land der Welt müsse sich einbringen, „denn wenn wir zu den alten Mustern zurückkehren, wäre das selbstmörderisch“, unterstrich der Papst. Und wie immer seien es die Armen, die nach der Coronakrise die schwerste Last trügen; der Papst nannte Migranten, Menschen ohne Papiere, Arbeitende im informellen Sektor wie Tagelöhner, die ohne jede staatliche Hilfsleistung überleben müssten. Für diese Menschen macht der Papst sich mit eindringlichen Worten zum Bittsteller.
Bittsteller im Namen Gottes
Er bat „im Namen Gottes“ die Pharmakonzerne, Patente für Corona-Impfstoffe freizugeben, er bat Finanzgruppen und internationale Organisationen um Kredit für arme Länder, er bat Bergbau-, Erdöl- und Immobilien- und Agrarkonzerne, Abholzung und Umweltzerstörung zu stoppen, er bat Waffenhersteller und -Händler, ihre Aktivität komplett einzustellen. Technologie-Giganten – in den Sinn kommen Facebook und andere Betreiber sozialer Medien – bat der Papst, damit aufzuhören, „die menschliche Zerbrechlichkeit auszunutzen, um Gewinn zu erzielen, ohne darüber nachzudenken, wie sehr Hassreden, grooming, Fake News, Verschwörungstheorien und politische Manipulation zunehmen“. Medienkonzerne wiederum bat der Papst „im Namen Gottes“, aufzuhören „mit der Logik der Desinformation“ und der Verleumdung.
Mächtige Staaten bat Franziskus, Sanktionen „gegen welches Land und welche Region der Erde auch immer“ aufzuheben; „Konflikte müssen in multilateralen Instanzen wie den Vereinten Nationen gelöst werden“. Franziskus bat Regierungen und Politiker aller Parteien, ehrlich für das Gemeinwohl zu arbeiten und den Mut zu haben, den Menschen ihrer Völker in die Augen zu schauen. „Hüten Sie sich davor, nur auf die wirtschaftlichen Eliten zu hören“, sagte ihnen der Papst, „seien Sie Diener der Völker, die Ackerboden, ein Dach über dem Kopf und Arbeit verlangen“ – die drei „t“, auf Spanisch tierra, techo, trabajo, die den Volksbewegungen eingeschrieben sind. Das gute Leben, das diese einfachen Menschen verlangten, brauche man nicht mit dem „dolce vita“ zu verwechseln, unterstrich der Papst: Im Unterschied zum selbstbezogenen „süßen Leben“ nämlich setze das gute Leben „uns in Harmonie mit der ganzen Menschheit, der ganzen Schöpfung“. Zusammen müsse man auch „die populistischen Reden von Intoleranz, Xenophobie und Aporophobie - Hass auf Arme – überwinden“.
Black Lives Matter-Aktivisten: „Kollektive Samariter“
Mit einem überraschenden Vergleich zum Barmherzigen Samariter wartete der Papst ebenfalls auf: Er setzte die biblische Figur der Barmherzigkeit in direkten Bezug zu Protestbewegungen wie „MeToo" und „Black Lives Matter". Die Demonstrierenden, die nach dem gewaltsamen, rassistisch motivierten Tod des Schwarzen George Floyd in den USA viele Wochen lang auf die Straße gingen, nannte Franziskus „kollektive Samariter“. Zwar könne „diese Art der Reaktion gegen soziale, rassistische oder sexistische Ungerechtigkeit manipuliert oder für politische Machenschaften und Ähnliches instrumentalisiert werden“, räumte der Papst ein; wesentlich sei aber das Hinsehen und Handeln der Menschen, die da protestierten. „Diese Bewegung ist nicht einfach weitergegangen, als sie sah, wie sehr die Menschenwürde durch einen solchen Machtmissbrauch verletzt wurde“, sagte Franziskus. In diesem Sinn seien auch die Volksbewegungen „kollektive Samariter".
Im Übrigen wundere er sich immer, so der Papst in seiner sehr frei gehaltenen Videoansprache, wenn ihm sogar aus seiner eigenen katholischen Kirche Widerstand entgegenschlage, sowie er soziale Probleme anspreche und Lösungen vorschlage. Der Papst würde da „mit einer Reihe von Beinamen bedacht“, die nur der Abwertung dienten. „Es macht mich nicht wütend, es macht mich traurig“, erklärte Franziskus. Das alles sei Teil eines „Post-Wahrheits-Komplotts“, das zur Wegwerfkultur und zum technokratischen Paradigma gehöre und jede Suche nach Alternativen zur kapitalistischen Globalisierung ausschalten wolle.
Katholische Soziallehre: eine traditionelle Doktrin der Kirche
Der Papst warb an diesem Punkt für die katholische Soziallehre, die er als „traditionelle Doktrin der Kirche“ vorstellte; das Kompendium der Soziallehre sei von Papst Johannes Paul II. in Auftrag gegeben worden, Franziskus empfahl es allen Verantwortlichen in Gewerkschaften, Religionen, Politik und Unternehmensführung zur Lektüre. Er nannte das in der Soziallehre verankerte Prinzip der Solidarität: „Solidarität nicht nur als moralische Tugend, sondern auch als soziales Prinzip, ein Prinzip, das darauf abzielt, ungerechten Systemen entgegenzutreten“ und nach dem Gemeinwohl zu streben. Zudem benannte der Papst die Grundsätze der Teilhabe und der Subsidiarität: Beide seien dazu gedacht, Autoritarismus und staatszentriertes Denken in Schach zu halten. „Das Gemeinwohl darf nicht als Vorwand dienen, um Privatinitiative, lokale Identität oder Gemeinschaftsprojekte zu unterdrücken“, stelle der Papst klar. Genau deshalb förderten diese Grundsätze aus der katholischen Soziallehre eine Wirtschaft und eine Politik, die die Rolle der Volksbewegungen, aber auch der Vereine und der Familien anerkenne und damit ein breites soziales Wachstum ermöglichen. Das seien „fest verankerte Grundsätze in der Soziallehre der Kirche“, und damit könne man zur Tat schreiten: „Denn es ist Zeit zu handeln“, so der Papst.
Grundeinkommen und verminderte Arbeitszeiten
Zwei konkrete politische Maßnahmen schlug Franziskus vor, um das Los von prekär arbeitenden Menschen zu bessern: ein bedingungsloses Grundeinkommen und geringere Arbeitszeiten. Ein Grundeinkommen würde sicherstellen, dass jeder Mensch Zugang zu den grundlegendsten Lebensbedürfnissen habe, argumentierte der Papst. Es sei „die Aufgabe der Regierungen, Steuer- und Umverteilungssysteme einzuführen, damit der Reichtum eines Teils gerecht verteilt wird, ohne dass dies zu einer unerträglichen Belastung wird, insbesondere für die Mittelschicht“. Heute erreichter Wohlstand sei das Ergebnis von Arbeit, Forschung und Innovation über Generationen hinweg. Doch auch die Verkürzung der Arbeitszeit müsse ernsthaft in Betracht gezogen werden, „um mehr Menschen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen“, sagte der Papst. „Es kann nicht sein, dass es so viele Menschen gibt, die durch Überarbeitung belastet sind, und so viele andere, die durch Arbeitsmangel belastet sind.“ Grundeinkommen und verminderte Arbeitszeiten seien beide „nötig, aber trotzdem nicht ausreichend“, und sie seien auch keine Lösung für „die enorme ökologische Herausforderung“, erklärte Franziskus. Sie seien aber „mögliche Maßnahmen“ und würden einen positiven Orientierungspunkt setzen.
Ihm sei bewusst, „dass man die Welt von den Peripherien her klarer sieht“, wiederholte der Papst eine Grundüberzeugung, die er auch auf die Kirche bezogen öfter geäußert hat. „Das Leiden der Welt lässt sich am besten mit den Leidenden verstehen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen, Männer und Frauen, die unter Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Machtmissbrauch, Entbehrungen und Fremdenfeindlichkeit gelitten haben, viel besser verstehen, was andere durchmachen, und in der Lage sind, ihnen zu helfen, Wege der Hoffnung zu eröffnen.“ Deshalb ermutigte Franziskus die Angehörigen der Volksbewegungen, überall dort, wo Entscheidungen getroffen werden, ihre Zusammenarbeit anzubieten. Zuletzt erinnerte der Papst an die Zusage Jesu: „ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20).
(vatican news)
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