Die Papstpredigt zum Bibelsonntag im Wortlaut
In der ersten Lesung und im Evangelium finden wir zwei parallele Gesten: Der Priester Esra hält das Buch des Gesetzes Gottes in die Höhe, er öffnet es und verkündet es dem ganzen Volk; Jesus öffnet in der Synagoge von Nazaret die Rolle der Heiligen Schrift und liest allen einen Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jesaja vor. Diese beiden Szenen vermitteln uns etwas Grundlegendes: Im Mittelpunkt des Lebens des heiligen Gottesvolkes und des Glaubensweges stehen nicht wir mit unseren Worten. Im Mittelpunkt steht Gott mit seinem Wort.
Alles begann mit dem Wort, das Gott an uns gerichtet hat. In Christus, seinem ewigen Wort, hat uns der Vater »erwählt vor der Grundlegung der Welt« (Eph 1,4). Mit seinem Wort schuf er das Universum: »Er sprach und es geschah« (Ps 33,9). Von alters her hat er zu uns durch die Propheten gesprochen (vgl. Hebr 1,1); schließlich, als die Zeit erfüllt war (vgl. Gal 4,4), hat er uns sein eigenes Wort, seinen einzigen Sohn, gesandt. Deshalb verkündet Jesus im Evangelium am Ende seiner Lesung aus dem Buch Jesaja etwas ganz Neues: Heute hat sich dieses Schriftwort erfüllt (vgl. Lk 4,21). Es hat sich erfüllt: Das Wort Gottes ist nicht mehr eine Verheißung, sondern hat sich erfüllt. In Jesus ist es Fleisch geworden. Durch die Kraft des Heiligen Geistes ist es gekommen, um unter uns zu wohnen. Und es will auch in uns wohnen und unsere Erwartungen erfüllen und unsere Wunden heilen.
Schwestern und Brüer, richten wir unseren Blick auf Jesus wie die Menschen in der Synagoge von Nazaret (vgl. V. 20) (...) und nehmen wir sein Wort an. Wir wollen heute über zwei miteinander verbundene Aspekte nachdenken: Das Wort offenbart Gott und das Wort führt uns zum Menschen. Es ist im Zentrum. Es offenbart Gott und führt uns zum Menschen.
Vor allem offenbart das Wort Gott. Jesus kündigt zu Beginn seiner Mission in seinem Kommentar zu diesem Abschnitt des Propheten Jesaja eine klare Entscheidung an: Er ist gekommen, um die Armen und Unterdrückten zu befreien (vgl. V. 18). So offenbart er uns durch die Heilige Schrift das Antlitz Gottes, der sich um unsere Not kümmert und dem unser Schicksal am Herzen liegt. Er thront nicht herrschaftlich im Himmel, dieses häßliche Gottesbild, nein, so ist er nicht, sondern er ist ein Vater, der unseren Weg begleitet. Er ist kein kalter, distanzierter und teilnahmsloser Beobachter, ein mathematischer Gott, nein! Er ist der Gott-mit-uns, dem unser Leben am Herzen liegt und der uns so nahe ist, dass er unsere Tränen weint. Er ist kein neutraler und gleichgültiger Gott, sondern der die Menschen liebende Geist, der uns verteidigt, der uns berät, der für uns einsteht, der sich für uns einsetzt und sich unserer Schmerzen annimmt. Er ist immer da. Dies ist die »frohe Botschaft« (V. 18), die Jesus vor den staunenden Mienen aller verkündet: Gott ist nahe und will sich meiner, deiner und aller annehmen. Und das ist die Eigenschaft Gottes; Nähe. (...) Mit dieser Nähe, die mitfühlend und zärtlich ist, will er dich von den Lasten befreien, die dich erdrücken, er will die Kälte deiner Winter wärmen, er will deine dunklen Tage erhellen, er will deine unsicheren Schritte unterstützen. Und er tut dies mit seinem Wort, mit dem er zu dir spricht, um die Hoffnung in der Asche deiner Ängste neu zu entfachen, um dich in den Labyrinthen deiner Traurigkeit Freude finden zu lassen, um die Bitterkeit deiner Einsamkeit mit Hoffnung zu erfüllen. Er lässt dich gehen, aber nicht in ein Labyrinth. Er lässt dich gehen, um ihn jeden Tag mehr zu finden.
Brüder und Schwestern, fragen wir uns: Tragen wir dieses befreiende Gottesbild in unserem Herzen, den nahen Gott, den mitfühlenden Gott, den zärtlichen Gott? Oder sehen wir ihn als strengen Richter, als rigiden Zöllner unseres Lebens? Ist unser Glaube ein Glaube, der Hoffnung und Freude auslöst, oder - das frage ich mich, unter uns - ist er immer noch von Angst belastet, ein ängstlicher Glaube? Welches Gesicht Gottes verkünden wir in der Kirche? Den Retter, der befreit und heilt, oder der furchteinflößende Gott, der uns mit Schuldgefühlen erdrückt? Um uns zum wahren Gott zu bekehren, zeigt uns Jesus, wo wir anfangen müssen: beim Wort Gottes. Das Wort, das uns die Geschichte der Liebe Gottes zu uns erzählt, befreit uns von Ängsten und Vorurteilen über ihn, die die Freude des Glaubens auslöschen. Dieses Wort zerschlägt falsche Götzen, entlarvt unsere Projektionen, zerstört allzu menschliche Vorstellungen von Gott und bringt uns zurück zu seinem wahren Antlitz, zu seiner Barmherzigkeit. Das Wort Gottes nährt und erneuert den Glauben. Stellen wir es wieder ins Zentrum unseres Gebets und unseres geistlichen Lebens! Im Zentru, das Wort, das uns offenbart, wie Gott ist. Das Wort, das uns Gott nahe bringt.
Kommen wir nun zum zweiten Aspekt: Das Wort führt uns zum Menschen. Es führt uns zu Gott uns es führt uns zum Menschen. Gerade wenn wir entdecken, dass Gott barmherzige Liebe ist, überwinden wir die Versuchung, uns in einer sakralen Religiosität zu verschließen, die sich auf einen äußeren Kult reduziert, der das Leben nicht berührt und verändert. Das ist Götzendienst. Versteckter Götzendienst, raffinierter Götzendienst, aber es ist Götzendienst. Das Wort drängt uns, aus uns herauszugehen und unseren Brüdern und Schwestern allein mit der sanften Kraft der befreienden Liebe Gottes zu begegnen. In der Synagoge von Nazaret offenbart uns Jesus genau dies: Er ist gesandt, um den Armen – das sind wir alle – zu begegnen und sie zu befreien. Er ist nicht gekommen, eine Liste von Regeln zu verteilen oder die ein oder andere religiöse Zeremonie abzuhalten, sondern er hat sich auf die Straßen der Welt hinabbegeben, um der verwundeten Menschheit zu begegnen, um die vom Leid gezeichneten Gesichter zu streicheln, um zerbrochene Herzen zu heilen, um uns von den Ketten zu befreien, die unsere Seelen gefangen halten. Auf diese Weise zeigt er uns, welcher Gottesdienst Gott am meisten gefällt: die Sorge für den Nächsten. Und darauf müssen wir zurückkommen. In dem Moment, in dem es in der Kirche die Versuchungen der Starrheit gibt, die eine Perversion ist, und man meint, Gott zu finden bedeute, starrer zu werden, immer starrer, mit mehr Normen, die richtigen Dinge, die klaren Dinge... Das ist nicht so. Wenn uns Starrheit vorgeschlagen wird, denken wir sofort: Das ist ein Götze, das ist nicht Gott. Unser Gott ist nicht so.
Schwestern und Brüder, das Wort Gottes verwandelt uns. Die Starrheit verwandelt uns nicht, sie versteckt uns. Und das Wort Gottes verändert uns, indem es die Seele wie ein Schwert durchdringt (vgl. Hebr 4,12). Denn einerseits tröstet es uns, indem es uns das Antlitz Gottes offenbart, andererseits provoziert und erschüttert es uns, indem es uns auf unsere Widersprüche aufmerksam macht. Es verursacht in uns eine Krise. Es lässt uns nicht zur Ruhe kommen, wenn der Preis für diese Ruhe eine von Ungerechtigkeit und Hunger zerrissene Welt ist und immer die Schwächsten dafür bezahlen müssen. Immer bezahlen die Schwächsten. Das Wort Gottes stellt unsere Rechtfertigungen infrage, die bei allem, was verkehrt läuft, immer etwas anderes und andere dafür verantwortlich machen. Wie viel Schmerz spüren wir, wenn wir so viele Brüder und Schwestern sehen, die auf dem Meer festsitzen, weil sie nicht an Land gelassen werden. Und manchmal geschieht dies im Namen Gottes... Das Wort Gottes lädt uns ein, aus der Deckung zu kommen und uns nicht hinter der Komplexität der Probleme zu verstecken, hinter einem „Da kann man nichts machen“, „Das ist ihr Problem“ oder einem „Was kann ich da schon ausrichten?“, „Lassen wir sie dort“. Es mahnt uns zu handeln und den Gottesdienst und den Dienst am Menschen als Einheit zu sehen.
Denn die Heilige Schrift ist uns nicht gegeben worden, um uns zu unterhalten oder uns mit einer engelhaften Spiritualität zu verhätscheln, sondern damit wir hinausgehen und den anderen begegnen und uns ihren Wunden zuwenden. Ich habe von der Starrheit gesprochen, von diesem modernen Pelagianismus, der eine der Versuchungen der Kirche ist, nicht wahr? Und jene andere, das Suchen einer engelhaften Spiritualität, ist ein bisschen die Gegen-Versuchung von heute: gnostisch-geistliche Bewegungen, der Gnostizismus, der dir ein Wort Gottes vorschlägt, das dich in höheren Sphären kreisen lässt, und dich nicht die Realität spüren lässt. Das Wort, das Fleisch geworden ist (vgl. Joh 1,14), will in uns Fleisch werden. Es nimmt uns nicht aus dem Leben heraus, sondern stellt uns ins Leben hinein, in die alltäglichen Situationen, es lässt uns auf die Leiden unserer Brüder und Schwestern hören, auf die Hilferufe der Armen, die Gewalt und die Ungerechtigkeit, die die Gesellschaft und den Planeten verletzen, so dass wir nicht gleichgültige, sondern aktive, Christen, kreative Christen, und prophetische Christen sind.
Heute, sagt Jesus, hat sich dieses Schriftwort erfüllt (vgl. Lk 4,21). Das Wort will heute Fleisch annehmen, in der Zeit, in der wir leben, nicht in einer idealen Zukunft. Eine französische Mystikerin des letzten Jahrhunderts, die sich dafür entschied, das Evangelium an den Peripherien zu leben, schrieb: Das Wort Gottes ist nicht »„toter Buchstabe“, sondern Geist und Leben. […] Die Akustik, die das Wort Gottes von uns verlangt, ist unser „Heute“: die Umstände unseres täglichen Lebens und die Bedürfnisse unseres Nächsten« (vgl. M. Delbrêl, La gioia di credere, Gribaudi, Mailand 1994, 258). Fragen wir uns also: Wollen wir Jesus nachfolgen, um Diener der Befreiung und des Trostes für andere zu werden? Sind wir eine Kirche, die dem Wort Gottes entspricht? Eine Kirche, die zuhört, die sich bemüht unsere Brüder und Schwestern von dem zu befreien, was sie belastet, die Knoten der Angst zu lösen, die Schwächsten aus den Gefängnissen der Armut, der inneren Erschöpfung und der Traurigkeit, die das Leben erstickt, zu befreien?
In dieser Feier werden einige unserer Brüder und Schwestern als Lektoren und Katecheten eingesetzt. Sie sind mit der wichtigen Aufgabe betraut, dem Evangelium Jesu zu dienen und es zu verkünden, damit sein Trost, seine Freude und seine Befreiung alle erreichen. Dies ist auch die Aufgabe eines jeden von uns: glaubwürdige Verkünder und Propheten des Wortes Gottes in der Welt zu sein. Lassen wir uns also von der Heiligen Schrift begeistern, lassen wir uns vom Wort Gottes durchdringen, das die Neuheit Gottes offenbart und uns dazu bringt, die anderen unermüdlich zu lieben. Lasst uns das Wort Gottes wieder ins Zentrum der Pastoral und des kirchlichen Lebens stellen! So werden wir befreit von jeglichem starren Pelagianismus, von aller Starrheit, und werden auch befreit von der Illusion einer Spiritualität, die dich in höheren Sphären kreisen lässt, ohne dich um die Brüder und Schwestern zu kümmern. Lasst uns das Wort Gottes wieder ins Zentrum der Pastoral und des kirchlichen Lebens stellen. Hören wir auf das Wort Gottes, nehmen wir es zum Beten und setzen wir es in die Praxis um.
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