Wortlaut: Papst Franziskus bei seiner Generalaudienz

Hier finden Sie die Ansprache, die der Papst an diesem Mittwoch bei seiner Generalaudienz gehalten hat, in einer Arbeitsübersetzung von Radio Vatikan.

Sämtliche Wortmeldungen des Heiligen Vaters im offiziellen Wortlaut finden Sie auf der Internetseite des Heiligen Stuhls.

Liebe Brüder und Schwestern, guten Morgen!

Der biblische Bericht erzählt uns - in der symbolischen Sprache der Zeit, in der er geschrieben wurde - etwas Erstaunliches: Gott war nach dieser Darstellung so verbittert über die weitverbreitete Schlechtigkeit der Menschen, die zu einer normalen Lebensweise geworden war, dass er dachte, er habe mit ihrer Erschaffung Unrecht getan, und beschloss, sie zu beseitigen. Eine radikale Lösung. Sie könnte paradoxerweise sogar eine barmherzige Seite haben: Keine Menschen mehr, keine Geschichte mehr – und damit auch kein Urteil mehr, keine Verurteilung. Und viele mögliche Opfer von Verderbnis, Gewalt und Ungerechtigkeit würden davor für immer verschont bleiben.

Denken wir nicht manchmal - überwältigt von einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber dem Bösen oder demoralisiert durch die ‚Untergangspropheten‘ -, dass es besser gewesen wäre, nicht geboren zu werden? Sollten wir bestimmten neueren Theorien Glauben schenken, die die menschliche Spezies als evolutionären Schaden für das Leben auf unserem Planeten anprangern? Alles negativ, nicht wahr?

„Unsere Vorstellungskraft scheint sich zunehmend auf die Darstellung einer letzten Katastrophe zu konzentrieren, die uns auslöschen wird“

Tatsächlich stehen wir unter Druck, sind gegensätzlichen Belastungen ausgesetzt, die uns verwirren. Auf der einen Seite haben wir den Optimismus der ewigen Jugend, angefacht durch den außerordentlichen Fortschritt der Technologie, der uns eine Zukunft voller Maschinen malt, die effizienter und intelligenter sind als wir, die unsere Krankheiten heilen und die besten Lösungen finden werden, damit wir nicht sterben. Die Welt der Robot. Andererseits scheint sich unsere Vorstellungskraft zunehmend auf die Darstellung einer letzten Katastrophe zu konzentrieren, die uns auslöschen wird. So, wie es bei einem eventuellen Atomkrieg der Fall wäre, nicht wahr? Am ‚Tag danach‘ - wenn es dann noch Tage und Menschen gibt - müssen wir wieder bei null anfangen. Alles zerstören, um wieder bei Null anzufangen.

Ich möchte das Thema Fortschritt natürlich nicht trivialisieren. Aber es scheint, dass das Symbol der Flut in unserem Unterbewusstsein immer mehr an Bedeutung gewinnt. Die aktuelle Pandemie bedeutet eine nicht unerhebliche Hypothek für unsere sorglose Sicht der Dinge, die für das Leben und sein Schicksal wichtig sind.

„Was ist der Horizont? Leben nach dem Tod – oder nur Überleben bis zur Sintflut?“

Als es in der Bibel darum geht, das Leben auf der Erde vor dem Verderben und der Sintflut zu retten, vertraut Gott diese Aufgabe der Treue des ältesten von allen an, des ‚gerechten‘ Noach. Wird also das Alter die Welt retten, frage ich mich? In welchem Sinne? Und wie rettet das Alter die Welt? Und was ist der Horizont? Leben nach dem Tod – oder nur Überleben bis zur Sintflut?

Ein Wort Jesu, das an die ‚Tage Noachs‘ erinnert, hilft uns, die Bedeutung der soeben gehörten biblischen Seite zu vertiefen. Jesus sagt über die Endzeit: „Und wie es zur Zeit des Noach war, so wird es auch in den Tagen des Menschensohnes sein. Die Menschen aßen und tranken und heirateten bis zu dem Tag, an dem Noach in die Arche ging; dann kam die Flut und vernichtete alle.“ (Lk 17,26-27). Essen und Trinken, Heiraten – das sind ganz normale Dinge und scheinen keine Beispiele für Verderbnis zu sein. Wo ist denn da die Verderbnis? Wo war da die Verderbnis?

„Solange das normale Leben mit ‚Wohlstand‘ gefüllt werden kann, wollen wir nicht darüber nachdenken, was es so leer an Gerechtigkeit und Liebe macht“

Tatsächlich betont Jesus, dass Menschen, die sich darauf beschränken, das Leben zu genießen, schließlich den Sinn für die Verderbnis verlieren, was ihre Würde abstumpft und ihren Sinn vergiftet. Wenn man den Sinn für Verderbnis verliert und die Verderbnis normal wurde. Alles hat seinen Preis, alles kauft oder verkauft man, Meinungen, Urteile, in der Geschäftswelt, in vielen Gewerben, ist es normal. Diese Menschen leben auch die Verderbnis auf sorglose Weise, als gehöre sie zur Normalität des menschlichen Wohlbefindens. Wenn ein Prozess mal etwas langsam vorangeht, wie oft hört man sagen, wenn du mir ein Trinkgeld gibst, dann beschleunige ich das ein bisschen... das wissen wir alle sehr gut, sehr oft. Gib mir etwas und ich mache voran... Und die Welt der Verderbnis scheint Teil der Normalität des Menschen. Und das ist schlecht. Heute Morgen habe ich mit jemandem über dieses Problem in seiner Heimat gesprochen... Die Güter des Lebens werden konsumiert und genossen – ohne Rücksicht auf die geistige Qualität des Lebens, ohne Rücksicht auf den Lebensraum des gemeinsamen Hauses. Alles wird ausgebeutet. Ohne Rücksicht auf die Schwierigkeiten und die Entmutigung, unter der viele leiden, noch auf das Böse, das die Gemeinschaft vergiftet. Solange das normale Leben mit ‚Wohlstand‘ gefüllt werden kann, wollen wir nicht darüber nachdenken, was es so leer an Gerechtigkeit und Liebe macht. Aber mir geht es gut! Warum soll ich an die Probleme denken, an die Kriege, an die Miseren der Menschheit, so viel Armut, so viel Böses? Nein, mir geht es gut! Die anderen kümmern mich nicht. Das ist der unbewusste Gedanke, der uns dazu bringt, in einem Zustand der Verderbnis zu leben.

Kann Verderbnis normal werden, frage ich mich? Brüder und Schwestern, leider ja. Man kann die Luft der Verderbnis einatmen, so wie man Sauerstoff einatmet. Aber das ist normal! Wenn Sie wollen, dass ich das schneller erledige, wieviel geben sie mir? Das ist normal, aber es ist schlecht, nicht gut. Und was ebnet den Weg dafür? Eine Sache: Die Sorglosigkeit, die sich nur der Selbstfürsorge zuwendet: Das ist das Tor, das die Tür zur Verderbnis öffnet, die das Leben eines jeden verschlingt. Die Verderbnis macht sich diese gottlose Sorglosigkeit zunutze: Wenn alles gut geht, man sich nicht um den anderen schert: Diese Sorglosigkeit weicht unsere Abwehrkräfte auf, stumpft unser Gewissen ab und macht uns - wenn auch unwissentlich - zu Komplizen. Denn die Verderbnis kommt nie allein, eine Person: sie hat immer Komplizen. und sie breitet sich immer aus.

„Noach predigt nicht, er klagt nicht, er macht keine Vorwürfe, sondern er kümmert sich um die Zukunft der Generation, die in Gefahr ist“

Das Alter ist in der Lage, die Täuschung dieser Normalisierung eines genussbesessenen und von Innerlichkeit leeren Lebens zu begreifen: ein Leben ohne Gedanken, ohne Opfer, ohne Innerlichkeit, ohne Schönheit, ohne Wahrheit, ohne Gerechtigkeit, ohne Liebe: das ist Verderbnis. Die besondere Sensibilität der älteren Menschen für die Pflege, die Gedanken und die Zuneigung, die uns zu Menschen machen, sollte für viele wieder zur Berufung werden. Und es wird eine Entscheidung der Liebe älterer Menschen zu den neuen Generationen sein. Und wir werden es sein, die Alarm schlagen: Seid vorsichtig, das ist Verderbnis, das bringt dir nichts... Es braucht die Weisheit der Alten heute stark, um gegen die Verderbnis anzugehen. Die neuen Generationen erwarten sich von uns Älteren ein Wort, das eine Prophezeiung ist, das die Türen zu neuen Persüektiven öffnet, die sich außerhalb dieser sorglosen Welt der Verderbnis befinden, außerhalb der Gewöhnung an die verderbten Dinge  Der Segen Gottes wählt das Alter für dieses sehr menschliche und humanisierende Charisma. 

„Wir Älteren müssen Propheten gegen die Verderbnis sein, so wie Noach Prophet gegen die Verderbnis seiner Zeit war“

Welchen Sinn hat mein Alter? Jeder von uns Senioren kann sich das fragen. Das ist es: Propheten der Verderbnis sein und den anderen sagen: ,Haltet ein, ich habe diese Straße genommen und sie bringt dich nirgendwo hin. Jetzt erzähle ich dir meine Erfahrungen'. Wir Älteren müssen Propheten gegen die Verderbnis sein, so wie Noach Prophet gegen die Verderbnis seiner Zeit war, denn er war der einzige, dem Gott vertraute. Ich frage euch alle, und ich frage auch mich: Ist mein Herz offen dafür, Prophet gegen die heutige Verderbnis zu sein? Es ist häßlich, wenn die Älteren nicht gereift sind und man alt wird mit denselben verderbten Gewohnheiten der Jungen. Denken wir an die Richter der Susanna, zum Beispiel: ein verderbtes Alter. Und mit einem derartigen Alter wären wir nicht in der Lage, Propheten für die jungen Generationen zu sein.

„Wir Alten müssen uns um die jungen Leute kümmern, um die Kinder, die in Gefahr sind“

Und Noach ist das Beispiel für dieses fruchtbare Alter: Es ist nicht verderbt, sondern fruchtbar. Noach predigt nicht, er klagt nicht, er macht keine Vorwürfe, sondern er kümmert sich um die Zukunft der Generation, die in Gefahr ist. Wir Alten müssen uns um die jungen Leute kümmern, um die Kinder, die in Gefahr sind. Er baut die Arche des Willkommens und lässt Menschen und Tiere hinein. Indem er sich um das Leben in all seinen Formen kümmert, erfüllt Noach das Gebot Gottes, indem er die zärtliche und großzügige Geste der Schöpfung wiederholt, die in Wirklichkeit der Gedanke ist, der das Gebot Gottes inspiriert: ein neuer Segen, eine neue Schöpfung (vgl. Gen 8,15-9,17). Die Berufung Noachs bleibt immer aktuell: Der heilige Patriarch muss immer noch für uns eintreten.

Und wir, Männer und Frauen eines gewissen Alters - um nicht ,Alte zu sagen, denn einige kränkt das: eines gewissen Alters - dürfen nicht vergessen, dass wir die Möglichkeit der Weisheit haben, den andren zu sagen: ,Schau mal, diese Straße der Verderbnis führt zu nichts.' Wir müssen wie der gute Wein sein, der am Ende, als Senior, eine gute Botschaft und nicht eine schlechte geben kann.

Ich appelliere heute an alle Menschen, die ein ,gewisses Alter' haben, um nicht ,Alte' zu sagen. Seid wachsam: ihr habt die Verantwortung, die menschliche Verderbnis anzuzeigen, in der man lebt und in der diese Art weitergeht, den Relativismus zu leben, den totalen Relativismus, als wäre alles erlaubt. Gehen wir weiter. Die Welt braucht starke Junge, die vorwärts gehen, und weise Alte. Bitten wir den Herrn um die Gnade der Weisheit. Danke.

(vatican news – sk)
 

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16. März 2022, 10:12