Wissenschaftsdiplomatie im Vatikan: Heute schon Probleme von morgen angehen
Christine Seuss - Vatikanstadt
Wissenschaftsdiplomatie bedeutet, dass kritische, länderübergreifende Problematiken wissenschaftlich untersucht und Lösungsansätze dafür vorgeschlagen werden – doch die Debatte soll dabei eben nicht auf der rein intellektuellen Ebene bleiben, sondern Regierungen und Entscheidungsträger gezielt bei der Verarbeitung und Umsetzung der Ergebnisse einbeziehen. Was hinter diesem Ansatz steckt und was die Päpstlichen Akademie der Wissenschaften damit zu tun hat, das hat der deutsche Agrarwissenschaftler Joachim von Braun, seit 2017 Präsident der Akademie, am Donnerstagabend bei einem Vortrag an der Deutschen Botschaft beim Heiligen Stuhl erläutert. Wir sprachen im Anschluss mit ihm.
Radio Vatikan: Warum gewinnt die Wissenschaftsdiplomatie derzeit so an Gewicht, auch in der diplomatischen Ausrichtung der einzelnen Staaten selbst?
Joachim v. Braun, Präsident der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften: „Die Wissenschaftsdiplomatie, die wir auf Englisch ,Science Diplomacy‘ nennen, ist deswegen so stark im Kommen, weil wir zum Einen eine rasante Entwicklung wissenschaftlicher Einsichten haben und zum anderen hochkomplexe Herausforderungen an die Menschheit in Sachen Klimawandel, Pandemie, Konflikte. Das erfordert wissenschaftliche, evidenzbasierte Politik, und das ist die Schnittstelle der Science Diplomacy.“
Radio Vatikan: Und wo reiht sich da die Päpstliche Akademie der Wissenschaften ein? Wo liegen auf diesem Feld ihre Stärken?
J. v. Braun: „Die Päpstliche Akademie der Wissenschaften hat sich auf Kernthemen internationaler Probleme konzentriert, insbesondere auf den Klimawandel, die Pandemie, die Hunger- und Landwirtschafts-Thematik, die gerade jetzt mit dem Krieg in der Ukraine so virulent geworden ist, ebenso wie auf Themen künstlicher Intelligenz und Robotik.
Alles dies sind Felder, wo die Wissenschaft Grundlagen geschaffen hat, auf die die Politik reagieren kann und muss, und wo es um Kooperation zwischen Wissenschaft und Politik geht.“
Radio Vatikan: Inwieweit gibt Ihnen Papst Franziskus eine Linie bei den Themen vor?
J. v. Braun: „Papst Franziskus ruft uns stets dazu auf, die gerade genannten Themen im Bezug zu den Ärmsten der Armen der Welt zu sehen, im Bezug zu Migration und Flüchtlingsthemen - und diese Themen, wie zum Beispiel Klimawandel, Klimastress, Klimaflüchtlinge: das ist Teil derselben Gleichung. Diesem Aufruf von Papst Franziskus folgen wir gerne.
Wir sehen da aber auch eine zweiseitige Beziehung. Dinge, die wir aufgegriffen haben, wie zum Beispiel das Thema Künstliche Intelligenz, wird auch vom Vatikan, ebenso wie vom Papst, mit Interesse aufgenommen.“
Radio Vatikan: Könnten Sie ein Beispiel nennen, in dem Sie konkret mit Ihrer Arbeit auch in die Regierungen hinein etwas bewirkt haben?
J. v. Braun: „Wir haben im Nachgang zu unseren wissenschaftlichen Arbeiten zum Umgang mit dem Klimawandel Treffen mit den führenden Finanzministern und Finanzorganisationen wie dem Währungsfonds und der Weltbank gehabt und in diesem Bereich unsere Forschungsergebnisse eingespeist und damit die Thematik, wie wir die Klimaanpassungsfinanzierung und die Finanzierung zur Bekämpfung von Klimawandel konkret gestalten können. Und davon ist eine Menge aufgenommen worden von diesen wichtigen Organisationen, international und auf nationaler Ebene - und auch von der deutschen Bundesregierung.“
Radio Vatikan: Ein weiteres wichtiges Themenfeld für Sie ist ja auch die Forschung zum Menschenhandel, und dem damit zusammenhängenden Organhandel...
J. v. Braun: „Dieses Thema ist eines, das wir ganz konkret in den letzten fünf Jahren bereits gerne auf Anraten von Papst Franziskus in unsere Arbeitsprogramme aufgenommen haben. Das Thema Menschenhandel, moderne Sklaverei, Frauenhandel und Organhandel ist nur im Zusammenhang zu sehen. Da arbeiten wir eng zusammen mit juristischen Initiativen, mit Mobilisierung der Zivilgesellschaft, aber eben auch mit den sozialwissenschaftlichen Forschungen, um zu ergründen, wie kann es sein, dass wir heute immer noch Sklaverei und Menschenhandel haben? Konkret geht es hier um Initiativen wie zum Beispiel auch die sogenannte Santa-Marta-Initiative, die weltweit Wissenschaft, Politik, Kriminalämter und Staatsanwaltschaften zusammenbringt, um diesem Grundübel der Menschheit entgegenzutreten.“
Radio Vatikan: Und was sind die Schwerpunkte, die Sie in den kommenden Jahren noch deutlich vertiefen werden?
J. v. Braun: „Wir werden dem Thema Klimawandel treu bleiben müssen, denn es ist noch längst nicht genug geschehen. Daher werden wir hier neue konkrete Themen aufgreifen. Außerdem nimmt zurzeit der Hunger zu, unter anderem wegen der Nachfolgewirkungen der Corona-Krise und dem Überfall Russlands auf die Ukraine.
Wir werden das Thema Armut und Hunger in diesem Zusammenhang stärker als friedenspolitische Forschung voranbringen und die multiplen Krisen, denen wir ausgesetzt sind, im Zusammenhang sehen müssen. Also nicht singuläre Einzelaktivitäten wissenschaftlich machen, sondern holistisch Wissenschaftsdiplomatie weiterhin forciert betreiben. Die Päpstliche Akademie der Wissenschaften konzentriert sich nicht nur auf die Wissenschaftsdiplomatie bei den großen Themen, die uns allen jetzt schon auf den Nägeln brennen, sondern sie schaut auch nach den Themen, die in den nächsten Jahren auf uns einstürzen werden. Wir müssen uns viel stärker mit der Ethik von Opfern, Biotechnologien und Stammzellen, den Chancen individualisierter Medizin und künstlicher Intelligenz beschäftigen. Diese Wissenschaftsinnovationen sind in rasanter Beschleunigung da und bergen riesige Chancen, aber auch Risiken. Und dieses Thema muss auch die Politik interessieren, nicht nur die Wissenschaft.“
Radio Vatikan: Vielen Dank.
Hintergrund
Die Päpstliche Akademie der Wissenschaften wurde 1603 gegründet und unter Papst Pius XI. in eine unabhängige Akademie modernen Zuschnitts umgewandelt; ihr Sitz ist ein Renaissance-Gebäude in den Vatikanischen Gärten. Zum neuen Kanzler der traditionsreichen Akademie hat Franziskus unlängst den aus Ghana stammenden Kurienkardinal Peter Turkson ernannt. Präsident der Einrichtung ist seit 2017 der deutsche Agrarwissenschaftler Joachim von Braun. Er ist Direktor am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) und Professor für wirtschaftlichen und technologischen Wandel an der Universität Bonn, ebenso wie Vize-Präsident der Welthungerhilfe.
In den letzten Jahrzehnten gehörten der Akademie zahlreiche klingende Namen aus dem Bereich der Wissenschaft an, darunter Stephen Hawking, Max Planck und Otto Hahn. Erst jüngst wurde wieder ein Nobelpreisträger aus dem Bereich der Medizin zum Mitglied ernannt. Religionszugehörigkeit ist kein Kriterium für die Aufnahme, so ist beispielsweise auch der Präsident der Akademie evangelisch-lutherisch. Nicht umsonst versteht sich die Einrichtung bei ihren Forschungen als vollständig unabhängig von äußeren Einflussnahmen.
(Vatican News)
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