Wortlaut: Franziskus an katholische Indigene Kanadas
Liebe Brüder und Schwestern, guten Abend!
Mir ist es eine Freude, unter euch zu sein und die Gesichter mehrerer indigener Vertreter wieder zu sehen, die mich vor einigen Monaten in Rom besucht haben. Dieser Besuch hat mir viel bedeutet: Jetzt bin ich bei euch zu Hause, als Freund und Pilger in eurem Land, in dem Gotteshaus, in dem ihr euch einfindet, um Gott als Brüder und Schwestern zu loben. Nachdem ich euch zugehört hatte, sagte ich in Rom zu euch, dass »ein wirksamer Heilungsprozess konkrete Maßnahmen erfordert« (Ansprache an die Delegationen der indigenen Völker Kanadas, 1. April 2022). Ich freue mich zu sehen, dass in dieser Pfarrgemeinde, in der Menschen aus verschiedenen Gemeinschaften der First Nations, Métis und Inuit gemeinsam mit Menschen nicht-indigener Bevölkerungen aus den lokalen Stadtteilen und einigen immigrierten Brüdern und Schwestern zusammenkommen, diese Arbeit bereits begonnen hat. Das ist ein Haus für alle, offen und inklusiv, so wie es auch die Kirche sein muss, eine Familie der Kinder Gottes, in der Gastfreundschaft und Annahme, typische Werte der indigenen Kultur, von wesentlicher Bedeutung sind: Hier muss sich jeder willkommen fühlen, unabhängig von der Vorgeschichte und den individuellen Lebensumständen. Und ich möchte euch danken für eure konkrete Nähe durch die Nächstenliebe zu so vielen Armen - sie sind auch in diesem reichen Land zahlreich: Das ist es, was Jesus wünscht, der uns gesagt hat und uns im Evangelium immer wieder sagt: »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40).
Gleichzeitig muss gesagt werden, dass sich auch in der Kirche das Unkraut unter den guten Weizen mischt. Und genau aufgrund dieses Unkrauts wollte ich diese Pilgerfahrt der Buße unternehmen und sie heute Morgen beginnen, indem ich an das Böse erinnere, das den indigenen Bevölkerungen von so vielen Christen angetan wurde, und sie mit großem Kummer um Vergebung bitte. Es verletzt mich, wenn ich daran denke, dass Katholiken zu einer Politik der Assimilation und Entrechtung beitragen haben, die ein Gefühl der Minderwertigkeit vermittelte, indem es Gemeinschaften und Menschen ihrer kulturellen und spirituellen Identität beraubte, ihre Wurzeln abschnitt und vorurteilsbehaftete und diskriminierende Haltungen nährte, und dass dies auch im Namen einer Erziehung geschah, von der man annahm, dass sie christlich sei. Erziehung muss immer von der Achtung und Förderung der in den Personen bereits vorhandenen Talente ausgehen. Sie ist nicht und kann nie etwas Vorgefertigtes sein, das man aufzwingt, denn die Erziehung ist das Abenteuer, das Geheimnis des Lebens gemeinsam zu erkunden und zu entdecken. Gott sei Dank werden in Pfarreien wie dieser durch die Begegnung Tag für Tag die Grundlagen für Heilung und Versöhnung geschaffen.
Versöhnung: Zu diesem Wort möchte ich heute Abend einige Überlegungen teilen. Was rät uns Jesus diesbezüglich, was bedeutet das für uns heute? Liebe Freunde, die Versöhnung, die Christus herbeigeführt hat, war kein äußeres Friedensabkommen, eine Art Kompromiss, um die Parteien zufrieden zu stellen. Es war auch kein vom Himmel gefallener Friede, der gekommen ist, weil er von oben auferlegt wurde oder andere absorbiert wurden. Der Apostel Paulus erklärt, dass Jesus versöhnt, indem zusammenführt, indem er aus zwei entfernte Wirklichkeiten eine einzige Wirklichkeit, ein einziges Volk macht. Und wie vollbringt er das? Durch das Kreuz (vgl. Eph 2,14). Jesus ist es, der uns miteinander am Kreuz versöhnt, an diesem Baum des Lebens, wie die frühen Christen ihn gerne nannten.
Ihr, liebe indigene Brüder und Schwestern, habt viel zu lehren über die lebenswichtige Bedeutung des Baumes, der durch seine Wurzeln mit der Erde verbunden ist, durch seine Blätter Sauerstoff spendet und uns mit seinen Früchten ernährt. Und es ist schön, die Symbolik des Baumes in der Physiognomie dieser Kirche dargestellt zu sehen, wo ein Stamm den Boden mit einem Altar verbindet, auf dem Jesus uns in der Eucharistie versöhnt, ein »Akt der kosmischen Liebe«, der »Himmel und Erde vereint, die ganze Schöpfung umarmt und durchdringt« (Enzyklika Laudato si', 236). Diese liturgische Symbolik erinnert mich an eine wunderbare Passage, die der heilige Johannes Paul II. in diesem Land formuliert hat: »Christus beseelt das Zentrum jeder Kultur, so dass das Christentum nicht nur alle indianischen Völker betrifft, sondern Christus in den Gliedern seines Leibes selbst indianisch ist« (Wortgottesdienst mit den Ureinwohnern Kanadas, 15. September 1984). Und er ist es, der am Kreuz versöhnt, der wieder zusammenfügt, was undenkbar und unverzeihlich schien, der alle und alles umarmt. Alle und alles: Die indigenen Bevölkerungen schreiben den Himmelsrichtungen eine starke kosmische Bedeutung zu, die nicht nur als geografische Bezugspunkte verstanden werden, sondern als Dimensionen, die die gesamte Realität umfassen und den Weg zu ihrer Heilung weisen, dargestellt durch das sogenannte „Medizinrad“. Dieses Gotteshaus greift die Symbolik der Himmelsrichtungen auf und gibt ihr eine christologische Bedeutung. Jesus hat durch die äußersten Enden seines Kreuzes die Himmelsrichtungen umarmt und die entferntesten Völker zusammengeführt, alles geheilt und Frieden stiftet (vgl. Eph 2,14). Dort hat er den Plan Gottes erfüllt, „alles zu versöhnen“ (vgl. Kol 1,20).
Brüder und Schwestern, was bedeutet das für diejenigen, die solch schmerzhafte Wunden in sich tragen? Ich kann mir die Mühe derer vorstellen, jegliche Aussicht auf Versöhnung zu sehen, die wegen der Männer und Frauen, die ein Zeugnis christlichen Lebens geben sollten, so sehr gelitten haben. Nichts kann die verletzte Würde, den erlittenen Schmerz und das verratene Vertrauen auslöschen. Auch sollte die Scham von uns Glaubenden niemals ausgelöscht werden. Aber es ist notwendig, wieder zu beginnen, und Jesus schlägt nicht Worte und gute Vorsätze vor, sondern das Kreuz, diese anstoßerregende Liebe, die sich von Nägeln in Füßen und Handgelenken und von Dornen in den Kopf durchbohren lässt. Das ist die Richtung, die wir einschlagen müssen: gemeinsam auf Christus schauen, die Liebe, die für uns verraten und gekreuzigt wurde; auf Jesus schauen, der in so vielen Schülern der Internatsschulen gekreuzigt wurde. Wenn wir uns untereinander und in uns selbst mit der Vergangenheit versöhnen wollen, mit erlittenem Unrecht und verletzten Erinnerungen, mit traumatischen Ereignissen, die kein menschlicher Trost heilen kann, müssen wir unseren Blick zum gekreuzigten Jesus erheben und den Frieden von seinem Altar erlangen. Denn am Baum des Kreuzes verwandelt sich der Schmerz in Liebe, der Tod in Leben, die Enttäuschung in Hoffnung, die Verlassenheit in Gemeinschaft, die Distanz in Einheit. Die Versöhnung ist nicht so sehr unser Werk, sie ist ein Geschenk, das aus dem Gekreuzigten hervorströmt, sie ist Frieden, der aus dem Herzen Jesu kommt, sie ist eine Gnade, die erbeten werden muss.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt der Versöhnung, über den ich zu euch sprechen möchte. Der Apostel Paulus erklärt, dass Jesus uns durch das Kreuz in einem einzigen Leib versöhnt hat (vgl. Eph 2,14). Von welchem Leib spricht er? Von der Kirche: Die Kirche ist der lebendige Leib der Versöhnung. Aber wenn wir an den unauslöschlichen Schmerz denken, den so viele Menschen an diesen Orten innerhalb von kirchlichen Einrichtungen erfahren haben, kann man nur Wut und Scham empfinden. Dies geschah, als die Gläubigen sich verweltlichen ließen und, anstatt die Versöhnung zu fördern, ihr kulturelles Modell aufgezwängt haben. Diese Haltung ist hartnäckig, auch vom religiösen Standpunkt aus. In der Tat scheint es bequemer zu sein, Gott den Menschen einzuprägen, als den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich Gott zu nähern. Aber das funktioniert nie, denn der Herr geht nicht so vor: Er zwingt nicht, er erstickt nicht und er unterdrückt nicht; sondern er liebt immer, er befreit und lässt frei. Er unterstützt mit seinem Geist nicht diejenigen, die andere unterdrücken, die das Evangelium der Versöhnung mit Proselytismus verwechseln. Denn man kann Gott nicht auf eine Weise verkünden, die im Widerspruch zu Gott steht. Doch wie oft ist das in der Geschichte schon passiert! Während Gott sich einfach und demütig anbietet, sind wir immer versucht, ihn aufzuerlegen und uns in seinem Namen aufzudrängen. Es ist die weltliche Versuchung, ihn vom Kreuz herunterzuholen, um ihn mit Macht und äußerem Glanz kundzutun. Aber Jesus versöhnt am Kreuz, nicht indem er vom Kreuz herabsteigt. Dort unten, um das Kreuz herum, waren diejenigen, die an sich selbst dachten und Christus in Versuchung führten, indem sie ihm sagten, er solle sich selbst retten (vgl. Lk 23,35.36), ohne an die anderen zu denken. Im Namen Jesu, dies möge in der Kirche nicht mehr vorkommen. Jesus soll so verkündet werden, wie er es wünscht, in Freiheit und Nächstenliebe, und möge jeder gekreuzigte Mensch, dem wir begegnen, für uns kein Fall sein, den wir lösen müssen, sondern ein Bruder oder eine Schwester, die wir lieben sollen, Fleisch Christi, das wir lieben sollen. Möge die Kirche, der Leib Christi, ein lebendiger Leib der Versöhnung sein!
Das Wort Versöhnung (riconciliazione) selbst ist praktisch ein Synonym für Kirche. Der Begriff bedeutet in der Tat „wieder eine Versammlung zur Beratung veranstalten“. Die Kirche ist das Haus, in dem wir uns versöhnen, wo wir zusammenkommen, um neu anzufangen und gemeinsam zu wachsen. Sie ist der Ort, an dem wir aufhören, uns als Individuen zu betrachten, um uns als Geschwister zu erkennen, indem wir einander in die Augen schauen, die Geschichten und die Kultur des anderen annehmen und zulassen, dass die Mystik des Miteinanders, die dem Heiligen Geist so wohlgefällig ist, die Heilung der verwundeten Erinnerung voranbringt. Das ist der Weg: nicht für andere zu entscheiden, nicht alle in vorgefertigte Schemata zu stecken, sondern sich vor den Gekreuzigten und vor den Bruder zu stellen, um zu lernen, gemeinsam zu gehen. Das ist die Kirche und das soll sie sein: der Ort, an dem die Wirklichkeit immer über der Idee steht. Das ist die Kirche und das soll sie sein: nicht eine Gesamtheit von Ideen und Vorschriften, die den Menschen eingeschärft werden sollen, sondern ein Haus, das alle aufnimmt! Das ist die Kirche und das soll sie sein: ein Gotteshaus mit Türen, die immer offenstehen, in dem wir uns alle als lebendige Tempel des Geistes treffen, dienen und versöhnen. Liebe Freunde, Gesten und Besuche mögen wichtig sein, aber die meisten Worte und Aktivitäten der Versöhnung finden vor Ort statt, in Gemeinschaften wie dieser, wo Menschen und Familien Tag für Tag Seite an Seite leben. Zusammen zu beten, zusammen zu helfen, Lebensgeschichten, Freuden und gemeinsame Kämpfe auszutauschen, öffnet die Tür zu Gottes versöhnendem Wirken.
Es gibt ein abschließendes Bild, das uns helfen kann. In diesem Gotteshaus sehen wir oberhalb des Altars und des Tabernakels die vier Stangen eines typischen indigenen Zeltes, das, wie ich gelernt habe, Tipì genannt wird. Das Zelt hat eine große biblische Bedeutung. Als Israel durch die Wüste zog, wohnte Gott in einem Zelt, das immer dann aufgestellt wurde, wenn das Volk anhielt: das Zelt des Bundes. Es erinnert uns daran, dass Gott mit uns geht und es liebt, uns gemeinsam zu begegnen, in einer Zusammenkunft, in einer Versammlung zur Beratung. Und als er Mensch wurde, sagt das Evangelium wortwörtlich, dass er »sein Zelt mitten unter uns aufgeschlagen hat« (vgl. Joh 1,14). Gott ist ein Gott der Nähe, in Jesus lehrt er uns die Sprache des Mitgefühls und der Zärtlichkeit. Das müssen wir jedes Mal begreifen, wenn wir in die Kirche kommen, wo er im Tabernakel anwesend ist, ein Wort, das wirklich Zelt bedeutet. Gott schlägt also sein Zelt unter uns auf, begleitet uns in unseren Wüsten: Er wohnt nicht in himmlischen Palästen, sondern in unserer Kirche, die er zu einem Haus der Versöhnung machen will.
Gekreuzigter und auferstandener Jesus, der du unter deinem Volk wohnst, der du durch unsere Gemeinschaften und Kulturen aufleuchten willst, nimm uns an der Hand und lenke auch in den Wüsten der Geschichte unsere Schritte auf dem Weg der Versöhnung. Amen.
(vatican news)
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