Kanada: Wenn ein Papst die Säkularisierung lobt
Stefan von Kempis – Vatikanstadt
„Oh Gott, komm mir zu Hilfe“: Diese Anrufung hatte ausnahmsweise mal nichts mit dem ausdrücklichen Bußcharakter dieser 37. Auslandsreise von Franziskus zu tun. Vielmehr steht sie immer am Anfang der Vesper, überall in der Welt.
Der Papst ist seit Mittwochmorgen (Ortszeit) an einem Ursprung der Kolonialisierung und (damit einhergehend) der Evangelisierung in der „Neuen Welt“ angelangt; vom damaligen „Neufrankreich“ strömten Missionare in alle Richtungen aus. Der erste katholische Bischof Nordamerikas, St. Francois de Montmorency-Laval (1623-1708), ist in der Kathedrale beigesetzt; Franziskus betete kurz vor seinem Grab.
„Alte-Welt-Charme“
Priester, Bischöfe, Diakone, Ordensleute, Seminaristen und pastorale Mitarbeitende nahmen am Abendgebet mit dem Papst teil. Etwa drei Viertel der Menschen in Québec, Kanadas ältestem Bistum, sind katholisch – das ist deutlich mehr als in der Provinz Alberta, in der der Papstbesuch gestartet war.
Mit ihrer ummauerten Altstadt, die von der Unesco als Weltkulturerbe geführt wird, hat die 400 Jahre alte Hafenstadt Québec einen gewissen „Alte-Welt-Charme“, und auch die Vesper mit Franziskus wirkte fast ein bisschen europäisch… auch weil diesmal keine Gesänge der „First Nations“ angestimmt wurden und keine Trommeln zu hören waren.
Ein besonderer Diakon
Etwas Besonderes hatte es mit dem Diakon auf sich, der die Lesung vortrug und dem Papst liturgisch assistierte: Es war ein 90jähriger, der nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil als einer der ersten Männer weltweit die Weihe zum Ständigen Diakon erhalten hat. Er steht schon seit über einem halben Jahrhundert im Dienst des Erzbistums Québec.
In seiner Predigt rief der Papst seine Zuhörerinnen und Zuhörer zu „Großzügigkeit beim Hüten der Herde“ auf, „damit die Sorge Jesu für alle und sein Mitgefühl für die Wunden eines jeden sichtbar werden können“. Er sprach von der „Freude am Dienst und noch davor von der Freude am Glauben“. Christliche Freude habe etwas mit der „Erfahrung des Friedens“ zu tun, weil Gott auch in schwierigen Momenten an unserer Seite stehe.
Raue See, ruhige Tiefe
„Wie wenn die See rau ist: An der Oberfläche ist es stürmisch, aber in der Tiefe bleibt es ruhig und friedlich… Und so können wir uns fragen: Wie steht es um unsere Freude? Bringt unsere Kirche die Freude des Evangeliums zum Ausdruck? Gibt es in unseren Gemeinschaften einen Glauben, der durch die Freude, die er vermittelt, anziehend wirkt?“
Der Papst warnte vor einem allzu negativen Blick auf die Welt: Ein solcher Blick rühre „oft von einem Glauben her, der sich angegriffen fühlt“. „Hüten wir uns davor, denn das ist nicht christlich, das ist nicht der Weg Gottes…“ Gott selbst habe nämlich „einen positiven Blick auf die Welt“. „Wenn wir bei einer negativen Sichtweise stehen bleiben, werden wir am Ende die Inkarnation verleugnen, weil wir vor der Realität fliehen, anstatt Teil von ihr zu werden.“
Der unterscheidende Blick
Stattdessen rate er – ganz Jesuit – zu einem „unterscheidenden Blick“: Den habe zum Beispiel sein Vorgänger Paul VI. gehabt, als er die Säkularisierung als „ein in sich richtiges, berechtigtes und niemals im Widerspruch zum Glauben und zur Religion stehendes Bestreben“ bezeichnet habe. Ganz ähnlich hat einst Benedikt XVI. 2011 in seiner berühmten Konzerthausrede in Freiburg die Kirche zur „Entweltlichung“ aufgerufen. Etwas anderes sei, so fuhr Franziskus fort, der „Säkularismus“, der Gott als „überflüssig“, ja als „Störfaktor“ darstelle.
„Hier ist es an uns als Kirche, besonders als Hirten des Volkes Gottes und als pastorale Mitarbeiter, diese Distinktionen zu treffen, zu unterscheiden. Wenn wir einer negativen Sichtweise nachgeben und oberflächlich urteilen, laufen wir Gefahr, eine falsche Botschaft auszusenden, als ob hinter der Kritik an der Säkularisierung die Sehnsucht nach einer sakralisierten Welt stünde, nach einer Gesellschaft vergangener Zeiten, in der die Kirche und ihre Amtsträger mehr Macht und gesellschaftliche Bedeutung hatten. Dies ist eine falsche Perspektive.“
Neue sprachliche Formen suchen
Das Problem an der Säkularisierung dürfe für Christen nicht darin bestehen, dass die Kirche an gesellschaftlicher Bedeutung verliere oder Reichtum und Privilegien einbüße. Nicht der Glaube sei eigentlich in der Krise, „sondern gewisse Formen und Weisen, durch die wir ihn verkünden“. Darum sei die Säkularisierung eigentlich „eine Herausforderung an unsere pastorale Vorstellungskraft“. „Der unterscheidende Blick regt uns also an, während er uns die Schwierigkeiten vor Augen führt, die wir bei der Weitergabe der Glaubensfreude haben, eine neue Leidenschaft für die Evangelisierung wiederzufinden, neue sprachliche Formen zu suchen, einige pastorale Prioritäten zu ändern und zum Wesentlichen zu gehen.“
Zu neuem Elan bei der Verkündigung rief der Papst auf, zu „pastoraler Kreativität“ –und zu Glaubwürdigkeit. „Das Evangelium wird wirksam verkündet, wenn es das Leben ist, das spricht…“. Und damit kam er schließlich auf das Thema zu sprechen, das das grundlegende seiner ganzen Kanada-Reise ist, nämlich Buße und Reue.
Schmerz und die Beschämung über Missbrauchsfälle
„Die Kirche in Kanada hat sich auf einen neuen Weg begeben, nachdem sie durch das Böse, das einige ihrer Kinder begangen haben, verwundet und erschüttert wurde. Ich denke dabei insbesondere an den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen und schutzbedürftigen Personen, Ärgernisse, die ein entschlossenes Handeln und eine unwiderrufliche Bekämpfung erfordern. Ich möchte gemeinsam mit euch alle Opfer erneut um Vergebung bitten. Der Schmerz und die Beschämung, die wir empfinden, müssen zu einer Gelegenheit zur Umkehr werden: Nie wieder!“
Die Vesper in Québec war die letzte liturgische Handlung von Papst Franziskus auf kanadischem Boden; am Freitag endet seine Visite.
(vatican news – sk)
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