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Wortlaut: Papst Franziskus bei seiner Generalaudienz

Hier finden Sie die Ansprache, die Papst Franziskus an diesem Mittwoch bei seiner Generalaudienz gehalten hat, in einer Arbeitsübersetzung von Radio Vatikan.

Sämtliche Wortmeldungen des Papstes in ihrer amtlichen Fassung werden auf der Internetseite des Vatikan publiziert.

Liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!

In diesen Katechesen befassen wir uns mit den Elementen der sogenannten ‚Unterscheidung‘. Nach Gebet und Selbsterkenntnis möchte ich heute über eine weitere unverzichtbare Zutat sprechen: die Sehnsucht. Unterscheidung ist in der Tat eine Form des Suchens, und das Suchen geht immer von etwas aus, das uns fehlt, von dem wir aber irgendwie wissen.

Welcher Art ist dieses Wissen? Spirituelle Lehrer bezeichnen es als Sehnsucht, die an der Wurzel eine Suche nach Fülle ist, die nie ganz erfüllt wird, und die das Zeichen der Gegenwart Gottes in uns ist. Sehnsucht richtet sich nicht auf den Augenblick. Das italienische Wort stammt von einem sehr schönen lateinischen Begriff, de-sidus, wörtlich ‚das Fehlen des Sterns‘, das Fehlen des Bezugspunkts, an dem sich der Lebensweg orientiert; es erinnert an ein Leiden, einen Mangel und gleichzeitig an die Spannung, das Gute zu erreichen, das fehlt. Die Sehnsucht ist also der Kompass, um zu verstehen, wo ich bin und wohin ich gehe. Es ist der Kompass, der mir sagt, ob ich stehenbleibe oder vorankomme. Ein Mensch ohne Sehnsucht ist ein Mensch, der stehengeblieben, krank ist, fast schon tot. Die Sehnsucht ist der Kompass, der mir zeigt, ob ich weitegehe oder stehenbleibe. Aber wie ist es möglich, sie zu erkennen?

„Es ist wie mit dem Durst: Wenn wir nichts zu trinken finden, geben wir nicht auf, im Gegenteil“

Denken wir darüber nach: eine wirkliche Sehnsucht weiß die Akkorde unseres Wesens tief zu berühren, weshalb sie auch angesichts von Schwierigkeiten oder Rückschlägen nicht erlischt. Es ist wie mit dem Durst: Wenn wir nichts zu trinken finden, geben wir nicht auf, im Gegenteil, die Suche beschäftigt unser Denken und Handeln immer mehr, bis wir bereit sind, fast schon wie besessen jedes Opfer zu bringen, um diesen Durst zu stillen. Hindernisse und Misserfolge ersticken den Wunsch nicht, im Gegenteil, sie machen ihn in uns noch lebendiger.

Im Gegensatz zu einem momentanen Verlangen oder Gefühl hält die Sehnsucht über einen längeren Zeitraum an und neigt dazu, konkret zu werden. Wenn zum Beispiel ein junger Mann Arzt werden will, muss er ein Studium und eine Arbeit aufnehmen, die mehrere Jahre seines Lebens in Anspruch nehmen werden, und er muss Grenzen setzen, Nein sagen, vor allem zu anderen Studiengängen, aber auch zu möglichen Ablenkungen und Zerstreuungen, vor allem während der intensivsten Studienmomente. Der Wunsch, seinem Leben eine Richtung zu geben und dieses Ziel zu erreichen - zum Beispiel das, Arzt zu werden - ermöglicht es ihm aber, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Sehnsucht macht dich stark, sie macht dich mutig. Sie lässt dich vorankommen, weil du etwas erreichen willst: das ist es, was ich mir wünsche.

„Wichtiger als gut zu sein ist es, den Wunsch zu haben, gut zu werden“

Ein Wert wird in der Tat schöner und leichter zu realisieren, wenn er attraktiv ist. Wie jemand einmal formuliert hat: ‚Wichtiger als gut zu sein ist es, den Wunsch zu haben, gut zu werden‘. Gutsein ist etwas Anziehendes, wir alle wollen gut sein. Aber haben wir auch tatsächlich den Wunsch, gut zu sein?

Es ist auffallend, dass Jesus, bevor er ein Wunder vollbringt, den Menschen oft fragt, was er sich wünscht: "Willst du geheilt werden?" Und manchmal scheint diese Frage fehl am Platz zu sein, aber man sieht, dass dieser Mensch krank ist! Nein... Zum Beispiel, als er am Teich von Bethesda dem Gelähmten begegnet, der schon seit vielen Jahren dort liegt und nie den richtigen Moment ergreifen konnte, um ins Wasser zu steigen. Jesus fragt ihn: ‚Willst du geheilt werden?‘ (Joh 5,6). Wie kommt das? Tatsächlich offenbart die Antwort des Gelähmten eine Reihe seltsamer Widerstände gegen die Heilung, die nicht nur ihn betreffen. Die Frage Jesu war eine Aufforderung, Klarheit in seinem Herzen zu schaffen und einen möglichen Sprung nach vorn zu wagen: sich und sein Leben nicht mehr als ‚Gelähmten‘ zu betrachten, der von anderen getragen werden muss. Aber der Mann auf der Pritsche scheint nicht so überzeugt zu sein. Durch den Dialog mit dem Herrn lernen wir zu verstehen, was wir wirklich von unserem Leben wollen.

Dieser Gelähmte ist das typische Beispiel für Leute, die immer sagen: Ja, ja, ich will, ich will, die aber in Wahrheit nicht wollen und auch nichts tun. Das Wollen wird zu einer Illusion und der nötige Schritt dazu wird nicht getan: Diese Menschen, die etwas wollen, aber doch nicht wollen. Und dieser Gelähmte lag 38 Jahre lang da, aber immer mit Klagen: Nein, Herr, denn weißt du: jedes Mal, wenn das Wasser bewegt wird - im Moment des Wunders - kommt einer, der kräftiger ist als ich, steigt hinein - und ich komme wieder zu spät.  Und er klagt und klagt.  Aber aufgepasst: diese Klagen sind ein Gift, ein Gift für die Seele, ein Gift für das Leben, weil sie in dir nicht den Wunsch aufkommen lassen, voranzukommen. Und dabei brauchen wir die Sehnsucht, um wirklich einen Schritt zu tun. Vorsicht mit dem Klagen! Wenn in der Familie geklagt wird, wenn sich Eheleute beklagen, einer über den anderen; die Kinder über den Vater oder die Priester über die Bischöfe, und die Bischöfe über viele andere Dinge... Und wenn ihr merkt, dass ihr in dieses Gejammere verfallt, dann passt auf: es ist fast eine Sünde, weil es die Sehnsucht nicht wachsen lässt.

„Wir werden mit tausend Vorschlägen, Projekten und Möglichkeiten bombardiert, die uns nicht erlauben, in Ruhe zu überlegen, was wir wirklich wollen.“

Oft ist es gerade die Sehnsucht, die den Unterschied zwischen einem erfolgreichen, kohärenten und dauerhaften Projekt und den Tausenden von Wünschen und guten Absichten ausmacht, mit denen, wie man sagt, ‚die Hölle gepflastert ist‘. Ich würde gerne, ich würde gerne, aber ich tue es nicht. Das Zeitalter, in dem wir leben, scheint ein Höchstmaß an Wahlfreiheit zu begünstigen, aber gleichzeitig verkümmert die Sehnsucht, die meist auf das Verlangen des Augenblicks reduziert wird. Wir müssen aufpassen, dass unsere Sehnsucht nicht erstickt wird. Wir werden mit tausend Vorschlägen, Projekten und Möglichkeiten bombardiert, die uns abzulenken drohen und uns nicht erlauben, in Ruhe zu überlegen, was wir wirklich wollen. Die jungen Leute zum Beispiel: immer mit dem Handy in der Hand, immer damit zugange, die Augen immer auf dem Handy... Aber hältst du auch einen Moment inne, um nachzudenken? So kann keine Sehnsucht aufkommen! Du lebst den Augenblick, bist vom Augenblick gesättigt, und die Sehnsucht wächst nicht.

Viele Menschen leiden, weil sie nicht wissen, was sie von ihrem Leben wollen; sie sind wahrscheinlich nie in Kontakt mit ihrer tiefsten Sehnsucht gekommen. Sie haben nie so richtig gewusst, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Da besteht die Gefahr, dass man sein Dasein zwischen Versuchen und Anläufen verschiedener Art verbringt, nie etwas erreicht und wertvolle Gelegenheiten vergeudet. Und so werden bestimmte Änderungen, die zwar theoretisch erwünscht sind, nie umgesetzt, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Da fehlt die starke Sehnsucht, etwas voranzubringen.

„Wenn der Herr uns heute die Frage stellen würde, die er dem Blinden von Jericho stellte...“

Wenn der Herr uns, irgendeinem von uns, heute die Frage stellen würde, die er dem Blinden von Jericho stellte: ‚Was willst du, dass ich für dich tue?‘ (Mk 10,51) - denken wir darüber nach: was würden wir antworten? Vielleicht können wir ihn letztendlich bitten, uns zu helfen, die tiefe Sehnsucht nach ihm zu erkennen, die Gott selbst in unser Herz gelegt hat. Herr, lass micht die Sehnsucht erkennen, gib, dass ich eine Frau, ein Mann der großen Sehnsüchte werde. Und der Herr wird uns vielleicht die Kraft geben, die Sehnsucht konkret werden zu lassen. Es ist eine unermessliche Gnade, die Grundlage aller anderen: zuzulassen, dass der Herr, wie im Evangelium, Wunder an uns tut: ‚Schenke uns die Sehnsucht, Herr, und lass sie wachsen.‘

Denn auch er hat eine große Sehnsucht, was uns betrifft: uns an der Fülle seines Lebens teilhaben zu lassen. Danke.

(vaticannews- sk)
 

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12. Oktober 2022, 10:20