Papst beim Treffen mit Flüchtlingen: Die Ansprache im Wortlaut
Liebe Freunde, guten Tag und herzlich willkommen!
Ich möchte all jenen danken, die sich zu Wort gemeldet haben, um die Initiative zu erläutern und ihre Erfahrungen zu schildern. Ich freue mich, so viele Flüchtlinge und ihre Familien zu treffen, die über die humanitären Korridore nach Italien, Frankreich, Belgien und Andorra gekommen sind. Dass diese Korridore möglich wurden, ist sowohl der großzügigen Kreativität der Gemeinschaft Sant'Egidio, der Union der evangelischen Kirchen Italiens und der Waldenser-Tafel zu verdanken als auch dem Willkommensnetz der italienischen Kirche, insbesondere der Caritas, sowie dem Engagement der italienischen Regierung und der Regierungen, die euch aufgenommen haben.
Die Mauer der Gleichgültigkeit überwinden
Die humanitären Korridore wurden 2016 als Reaktion auf die zunehmend dramatische Lage auf der Mittelmeerroute eingerichtet. Heute müssen wir sagen, dass diese Initiative tragischerweise aktueller, ja notwendiger denn je ist; das jüngste Bootsunglück in Cutro ist leider auch ein Beweis dafür. Dieses Bootsunglück hätte nicht passieren dürfen, und es muss alles getan werden, damit es sich nicht wiederholt. Die Korridore sind Brücken, über die so viele Kinder, Frauen, Männer und ältere Menschen, die aus sehr prekären Situationen und ernsten Gefahren kommen, auf sicherem und legalem Weg und in Würde in ihre Aufnahmeländer gelangt sind. Sie überwinden Grenzen und vor allem die Mauern der Gleichgültigkeit, an denen die Hoffnung so vieler Menschen, die jahrelang in schmerzlichen und unerträglichen Situationen ausharren müssen, so oft zerbrochen ist.
Humanitäre Korridore: ein Weg, um die Tragödien und Gefahren des Menschenhandels zu vermeiden
Jeder Einzelne von euch verdient Aufmerksamkeit für die tragische Geschichte, die ihr erlebt habt. Insbesondere möchte ich an jene denken, die in Libyen in Internierungslagern festgehalten wurden; mehrmals habe ich ihre Erfahrungsberichte gehört, die gezeichnet sind von Schmerz, Demütigung und Gewalt. Humanitäre Korridore sind ein gangbarer Weg, um die Tragödien und Gefahren des Menschenhandels zu vermeiden. Es bedarf jedoch noch großer Anstrengungen, um dieses Modell auszuweiten und noch mehr legale Wege für die Migration zu öffnen. Wo der politische Wille fehlt, bieten wirksame Modelle wie dieses, neue und gangbare Wege. Schließlich liegt eine sichere, geordnete und nachhaltige Migration im Interesse aller Länder. Wenn man nicht hilft, das zu erkennen, besteht die Gefahr, dass die Angst die Zukunft auslöscht und die Barrieren rechtfertigt, an denen Leben zunichte gemacht werden.
Mit eurer Arbeit, die darauf abzielt, gefährdete Menschen zu identifizieren und aufzunehmen, versucht ihr, angemessen auf die Zeichen der Zeit zu reagieren. Und das weist Europa einen Weg nach vorn, damit es nicht in einer Sackgasse steckenbleibt, voller Angst und ohne Zukunftsperspektive. In der Tat: „Sich in sich selbst oder in der eigenen Kultur abzuschotten, ist niemals der Weg, um die Hoffnung wiederherzustellen“ (Ansprache an der Universität Roma Tre, 17. Februar 2017). Im Laufe der Jahrhunderte hat sich die europäische Geschichte nämlich durch die Integration verschiedener Völker und Kulturen entwickelt. Lasst uns also keine Angst vor der Zukunft haben!
Integration ist der erste Schritt zum Frieden
Die humanitären Korridore zielen nicht nur darauf ab, Flüchtlinge nach Italien und in andere europäische Länder zu bringen und sie aus Situationen der Ungewissheit, der Gefahr und des endlosen Wartens herauszuholen - sie arbeiten auch für die Integration, denn ohne Integration gibt es keine Aufnahme. Gleichzeitig habt ihr bei eurer Arbeit gelernt, dass Integration nicht ohne Schwierigkeiten ist. Nicht jeder, der hier ankommt, ist auf die lange Reise, die ihn erwartet, vorbereitet. Deshalb ist es wichtig, noch mehr Sorgfalt und Kreativität darauf zu verwenden, diejenigen, die die Möglichkeit haben, nach Europa zu kommen, über die Realität zu informieren, die sie erwartet. Und wir sollten nicht vergessen, dass die Menschen vom Anfang bis zum Ende begleitet werden müssen. Eure Arbeit endet, wenn eine Person wirklich in unsere Gesellschaft integriert ist. Die Heilige Schrift lehrt: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten“ (Lev 19,34).
Ich grüße hier die Hunderten von Menschen, Familien und Gemeinschaften, die sich großzügig zur Verfügung gestellt haben, um diesen positiven Prozess zu ermöglichen. Sie haben ihre Herzen und ihre Häuser geöffnet. Sie haben die Integration mit ihren eigenen Mitteln unterstützt und andere mit einbezogen. Ich danke euch von ganzem Herzen: Ihr repräsentiert ein schönes Gesicht Europas, das sich der Zukunft öffnet und sich selbst miteinbringt.
Euch, den Förderern der „Korridore“, den Ordensfrauen und -männern, den Personen und Organisationen, die sich daran beteiligt haben, möchte ich sagen: Ihr seid Vermittler einer Integrationsgeschichte; nicht Vermittler, die aus der Not und dem Leid anderer Profit schlagen. Ja, mehr als Vermittler seid ihr Mediatoren, und ihr zeigt, dass - wenn man ernsthaft daran arbeitet, die Grundlagen zu schaffen - eine wirksame Aufnahme und Integration tatsächlich möglich ist.
Eine ökumenische Initiative
Diese Geschichte der Aufnahme ist ein konkretes Engagement für den Frieden. Unter euch sind viele ukrainische Flüchtlinge: Euch möchte ich sagen, dass der Papst nicht aufgibt, den Frieden zu suchen, auf ihn zu hoffen und für ihn zu beten. Ich tue dies für euer gequältes Land und für andere, die von Kriegen betroffen sind. Es sind viele Menschen hier, die vor anderen Kriegen geflohen sind. Und dieser Dienst an den Armen, an den Flüchtlingen und Vertriebenen ist auch eine starke Erfahrung der Einheit unter den Christen. Die Initiative der humanitären Korridore ist in der Tat ökumenisch. Sie ist ein schönes Zeichen, das Brüder und Schwestern vereint, die den Glauben an Christus teilen.
Ich grüße daher voller Zuneigung all jene unter euch, die über die humanitären Korridore hierhergekommen sind und nun ein neues Leben führen. Ihr habt den festen Willen gezeigt, frei von Angst und Unsicherheit zu leben. Ihr habt Freunde und Unterstützer gefunden, die für euch zu einer zweiten Familie geworden sind. Ihr habt eine neue Sprache gelernt und eine neue Gesellschaft kennengelernt. All dies war schwierig, aber es hat sich gelohnt. Und ich sage das auch als Sohn einer Auswandererfamilie, die selbst diesen Weg gegangen ist. Euer gutes Beispiel und euer Fleiß tragen dazu bei, Ängste und Befürchtungen Ausländern gegenüber zu zerstreuen. Im Gegenteil: eure Anwesenheit kann ein Segen für das Land sein, in dem ihr seid und dessen Gesetze und Kultur ihr zu respektieren gelernt habt. Die Gastfreundschaft, die euch entgegengebracht wurde, ist für euch ein Grund geworden, auch selbst etwas zurückzugeben: Einige von euch engagieren sich sogar im Dienst an anderen, die in Not sind.
So können wir, Brüder und Schwestern, in unserer Versammlung, in der die, die aufnehmen, und die, die aufgenommen werden, vertreten sind - ja sich fast vermischen -, das Wort unseres Herrn Jesus vernehmen: „Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen“ (Mt 25,35). Dieses Wort weist uns den Weg. Einen Weg, den wir gemeinsam und beharrlich beschreiten müssen. Danke, dass ihr diesen Weg geebnet und vorgegeben habt! Macht weiter so! Der Herr segne euch und die Muttergottes, die Mutter des Weges, behüte euch. Auch ich segne euch von Herzen und bitte euch, für mich zu beten.
(vaticannews - übersetzung: silvia kritzenberger)
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