Papst warnt Europa von Brüssel aus vor Krieg
Stefan von Kempis und Christine Seuss – Vatikanstadt
In Schloss Laeken vor den Toren der belgischen Hauptstadt hielt Franziskus, der auch Träger des Aachener Karlspreises für Verdienste um die europäische Einigung ist, eine Ansprache vor Spitzenvertretern von Staat und Gesellschaft. Dabei lobte er Belgien, das an der Schnittstelle zwischen dem deutschen und französischen Sprachraum, zwischen dem Kontinent und den britischen Inseln, zwischen Nord- und Südeuropa liege, als eine Art „Synthese Europas“ und „Brücke“.
„Ein Ort, an dem man lernt, die eigene Identität nicht zu einem Götzen oder zu einer Barriere zu machen, sondern zu einem gastfreundlichen Raum, von dem aus man aufbricht und zu dem man zurückkehrt, wo wertvolle Begegnungen gefördert werden, wo gemeinsam nach neuem Ausgleich gesucht wird und wo man zu neuen Schlussfolgerungen gelangt. Eine Brücke, die den Handel fördert, die Kulturen miteinander in Austausch bringt und zum Dialog führt. Eine Brücke also, die unverzichtbar ist, um Frieden zu schaffen und Krieg zu vermeiden.“
Auf die teilweise verbrecherische Kolonialvergangenheit Belgiens und den Zank der einzelnen Sprachgruppen ging der Gast aus Rom nicht weiter ein. Stattdessen fokussierte er auf Belgiens Rolle für ein Zusammenwachsen Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Der kleine Staat erinnere daran, wie wertvoll friedlicher Ausgleich und Dialog seien und habe in diesem historischen Moment eine „sehr wichtige Rolle":
„Die Eintracht und der Frieden sind nämlich keine Errungenschaft, die man ein für alle Mal erlangt, sondern eine beständige Aufgabe und Mission… In diesem Sinne ist Belgien für das Gedächtnis des europäischen Kontinents wertvoller denn je. Dieses liefert nämlich unwiderlegbare Argumente für die Entwicklung eines beständigen und prompten kulturellen, sozialen und politischen Handelns, das sowohl mutig als auch umsichtig ist und eine Zukunft ausschließt, in der das Konzept und die Praxis des Krieges wieder zu einer wählbaren Option werden – mit katastrophalen Folgen.“
Neu in die Zukunft investieren
Europa solle aus seiner Geschichte lernen, „neu in die Zukunft investieren“ und sich dem Leben öffnen, „um den demografischen Winter und die Hölle des Krieges zu besiegen“, rief der Papst. Die Kirche helfe gerne bei dieser Aufgabe – auch wenn sie die Botschaft des Evangeliums auch selbst nicht immer gänzlich verstehe und lebe. Damit kam Franziskus auf „schmerzhafte Gegenzeugnisse“ zu sprechen, die Katholiken in Belgien in den letzten Jahrzehnten leider gegeben hätten.
„Ich denke dabei an die dramatischen Ereignisse des Kindesmissbrauchs, einer Geißel, gegen die die Kirche mit Entschiedenheit und Entschlossenheit vorgeht, indem sie den Leidtragenden zuhört und sie begleitet und in der ganzen Welt umfassende Präventionsprogramme realisiert", so Franziskus, der an dieser Stelle direkt auf ein Thema einging, das auch seine Gastgeber in ihren Begrüßungsworten deutlich angesprochen hatten.
Die Schande des Missbrauchs
Wie wichtig ihm dies war, konnte man auch der Tatsache entnehmen, dass Franziskus sein vorbereitetes Redemanuskript beiseitelegte und mit deutlichen Worten forderte, missbräuchliches Handeln mit Demut als Schande anzuerkennen und sich nicht hinter Statistiken zu verstecken, die vielleicht nahelegten, dass der Großteil an Missbrauchsfällen in der Familie oder in Sportvereinen geschehe:
„Aber nur ein Fall reicht aus, um sich zu schämen. In der Kirche müssen wir dafür um Vergebung bitten, andere müssen ihrerseits um Vergebung bitten. Das ist u n s e r e Schande und u n s e r e Demütigung.",
In diesem Zusammenhang ging er auch auf die ‚Zwangsadoptionen‘ der 50er bis 70er Jahre ein, deren Aufdeckung Belgien in den letzten Jahren nachhaltig erschütterte. Dieses Phänomen mache ihn sehr traurig, so Franziskus: „In diesen schwierigen Geschichten vermischte sich die bittere Folge einer Straftat, eines Verbrechens mit dem, was leider das Ergebnis einer Geisteshaltung war, die in allen Gesellschaftsschichten verbreitet war…“
Kirchliche Beihilfe zu Zwangsadoptionen
Um das „negative Stigma“ zu beseitigen, das unverheiratete Mütter in jenen Tagen getroffen habe, seien gesellschaftliche Akteure, „einschließlich der Kirche“, oft der Meinung gewesen, dass es zum Wohl von Mutter und Kind besser sei, das Kind zur Adoption freizugeben, referierte Franziskus.
„Als Nachfolger des Apostels Petrus bitte ich den Herrn, dass die Kirche stets in ihrem Innern die Kraft findet, Klarheit zu schaffen und sich nicht der vorherrschenden Kultur anzupassen, auch wenn diese Kultur – auf manipulative Weise – dazu Werte bemüht, die aus dem Evangelium abgeleitet sind, um daraus jedoch unangemessene Schlüsse zu ziehen, die in schwerwiegender Weise zu Leid und Ausgrenzung führen.“
Mahnende Begrüßungsworte
König Philippe hatte den Papst in seiner Begrüßungsrede auf die Skandale um Missbrauch und Zwangsadoptionen angesprochen. „Wir kennen die Bemühungen der belgischen Kirche, das Irreparable zu ‚reparieren‘; diese Bemühungen müssen entschlossen und unermüdlich fortgesetzt werden.“ Die Bischöfe des Landes hatten erst jüngst erneut für die Praxis von Adoptionen um Vergebung gebeten, bei denen Ordensfrauen anonym durch nichtehelich schwangere Frauen zur Welt gebrachte Kinder an zahlende Eltern vermittelten.
Ansonsten lobte der königliche Gastgeber seinen Besucher als „Pilger, der eine universelle Botschaft des Friedens, der Versöhnung und der Gerechtigkeit mit sich bringt“ und erwähnte den heiligen Missionar Damian de Veuster, der 1889 in Hawaii an den Folgen einer Lepra-Erkrankung starb, die er sich bei seinem unermüdlichen Dienst für die Erkrankten selbst zugezogen hatte. Insgesamt hatte die belgische Kirche - auch wegen der Kolonialvergangenheit des Landes - eine wichtige Rolle in der Mission gespielt.
Vertrauen erschüttert
Nicht sehr samtpfötig verhielt sich hingegen Ministerpräsident Alexander De Croo in seiner Begrüßungsrede an Franziskus. Die Skandale hätten das Vertrauen der Belgier zur katholischen Kirche schwer erschüttert, so der flämische Liberale, der seit vier Jahren die Regierung führt. Vertuschung sei inakzeptabel, Worte reichten heute nicht mehr aus, konkrete Schritte seien nötig.
„Die Opfer müssen gehört werden und einen zentralen Platz einnehmen. Sie haben ein Recht auf die Wahrheit. Es muss Gerechtigkeit herrschen; das ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern auch ein grundlegender Schritt zur Wiederherstellung des Vertrauens. Die Menschenwürde steht an erster Stelle, nicht die Interessen der Institution! Um in die Zukunft blicken zu können, muss die Kirche ihre Vergangenheit klären.“
Und noch etwas gab der Ministerpräsident dem Papst mit auf den Weg: „Die Belgier laden Sie ein, über die Herausforderungen der modernen Gesellschaft nachzudenken.“ Franziskus applaudierte höflich nach dieser Rede. Der Papst hält sich bis Sonntag in Belgien auf, dann wird er nach Rom zurückkehren.
(vatican news)
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