Papst Franziskus bei seiner Ansprache in der Katholischen Universität Löwen Papst Franziskus bei seiner Ansprache in der Katholischen Universität Löwen

Wortlaut: Rede von Papst Franziskus, Katholische Uni Löwen

Radio Vatikan/Vatican News dokumentiert hier die Ansprache von Papst Franziskus bei seinem Besuch der Katholischen Universität Löwen in Belgien am 27. September 2024 im Wortlaut gemäß der offiziellen deutschen Übersetzung, in die freie Einschübe in einer Arbeitsübersetzung eingebaut sind. Alle Wortmeldungen des Papstes in ihrer offiziellen Übersetzung finden Sie auf der Internetseite www.vatican.va.

Apostolische Reise nach Luxemburg und Belgien

ANSPRACHE DES HEILIGEN VATERS

Treffen mit Universitätsdozenten

Katholische Universität Löwen, 27. September 2024

Sehr geehrter Herr Rektor,

verehrte Professoren,

liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!

Ich freue mich, hier unter euch zu sein, und ich danke dem Rektor für seine Begrüßungsworte, mit denen er an die Geschichte und die Tradition erinnert hat, in der diese Universität verwurzelt ist, sowie an einige der wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit, die uns alle angehen. Dies ist die erste Aufgabe der Universität: eine ganzheitliche Bildung anzubieten, damit die Menschen die nötigen Werkzeuge erhalten, um die Gegenwart zu deuten und die Zukunft zu gestalten.

Kulturelle Bildung ist in der Tat niemals ein Selbstzweck, und die Universitäten dürfen nicht das Risiko eingehen, zu „Kathedralen in der Wüste“ zu werden; sie sind ihrem Wesen nach Orte, die Ideen hervorbringen und neue Impulse für das menschliche Leben und Denken und für die Herausforderungen der Gesellschaft liefern, also generative Räume. Es ist schön sich vorzustellen, dass die Universität Kultur hervorbringt und Ideen entwickelt, aber vor allem fördert sie – und das im Dienst des menschlichen Fortschritts – die Leidenschaft für die Suche nach der Wahrheit. Insbesondere die katholischen Hochschulen, wie diese, sind dazu aufgerufen, „als entscheidenden Beitrag den Sauerteig, das Salz und das Licht des Evangeliums Jesu Christi und der lebendigen Tradition der Kirche – immer offen für neue Situationen und Vorschläge – einzubringen“ (Apostolische Konstitution Veritatis gaudium, 3).

Ich möchte daher eine einfache Einladung an euch richten: Erweitert die Grenzen des Wissens! Es geht nicht darum, die Begriffe und Theorien zu vervielfachen, sondern darum, die akademische und kulturelle Bildung zu einem lebendigen Raum zu machen, der das Leben begreift und zum Leben spricht.

Es gibt eine kurze biblische Geschichte aus dem Buch der Chronik, die ich hier in Erinnerung rufen möchte. Der Protagonist ist Jabez, der sich mit folgender Bitte an Gott wendet: „Möchtest du mich segnen und mein Gebiet erweitern“ (1 Chr 4,10). Jabez bedeutet „Schmerz“, und er wurde so genannt, weil seine Mutter bei seiner Geburt viel gelitten hatte. Doch nun will Jabez nicht in seinem eigenen Schmerz verschlossen bleiben und sich in Klagen, in Beschwerden verstricken, sondern er bittet den Herrn, „das Gebiet“ seines Lebens zu erweitern, um in einen gesegneten, größeren und einladenderen Raum einzutreten. Das Gegenteil davon sind Schließungen. 

Die Grenzen zu erweitern und ein offener Raum für Mensch und Gesellschaft zu werden, das ist der bedeutende Auftrag der Universität.

In unserem Kontext stehen wir in der Tat vor einer ambivalenten Situation mit engen Grenzen. Einerseits befinden wir uns in einer Kultur, die durch den Verzicht auf die Suche nach der Wahrheit gekennzeichnet ist. Wir haben die unruhige Leidenschaft des Suchens verloren, um uns in die Bequemlichkeit eines schwachen Denkens - in das Drama des schwachen Denkens - zu flüchten , in der Überzeugung, alles sei gleich, eine Sache sei so viel wert wie die andere, alles sei relativ. Auf der anderen Seite verfällt man, wenn im universitären Kontext und anderswo über Wahrheit gesprochen wird, oft in eine rationalistische Haltung, nach der nur das als wahr gelten kann, was messbar und experimentell nachweisbar ist, so als ob sich das Leben nur auf die Materie und das Sichtbare beschränken würde. In beiden Fällen sind die Grenzen zu eng gezogen.

Auf der einen Seite haben wir die Müdigkeit des Geistes, die uns einer ständigen Ungewissheit und Leidenschaftslosigkeit aussetzt, so als wäre es vergeblich, in einer unverständlich bleibenden Wirklichkeit nach einem Sinn zu suchen. Dieses Gefühl taucht häufig bei einigen Figuren in den Werken von Franz Kafka auf, der den tragischen und beklemmenden Zustand des Menschen im 20. Jahrhundert beschrieben hat. In einem Dialog zwischen zwei Figuren in einer seiner Kurzgeschichten heißt es: „Ich glaube, Sie geben sich nur deshalb nicht mit der Wahrheit ab, weil sie zu anstrengend ist„ (Beschreibung eines Kampfes, II, 3: „Geschichte eines Beters“). Die Suche nach der Wahrheit ist anstrengend, das ist richtig, weil sie uns zwingt, aus uns selbst herauszugehen, Risiken einzugehen, uns Fragen zu stellen. Und so werden wir in der Müdigkeit des Geistes mehr von einem oberflächlichen Leben angezogen, das nicht zu viele Fragen stellt; genauso wie wir mehr von einem einfachen, leichten, bequemen „Glauben“ angezogen werden, der nie etwas in Frage stellt.

Auf der anderen Seite hingegen haben wir den seelenlosen Rationalismus, in den wir heute, konditioniert durch die technokratische Kultur, wieder zu verfallen drohen. Wenn der Mensch auf die bloße Materie reduziert wird, wenn die Wirklichkeit in die Grenzen des Sichtbaren gezwängt wird, wenn die Vernunft nur noch eine mathematische „Labor“-Vernunft ist, dann geht das Staunen verloren - und wenn das Staunen verloren geht, kann man nicht denken; das Staunen ist der Beginn der Philosophie, der Beginn des Nachdenkens -, dann verschwindet jene innere Fähigkeit sich zu wundern, die uns antreibt, weiterzusuchen, zum Himmel aufzublicken, jene verborgene Wahrheit zu ergründen, welche die fundamentalen Fragen betrifft: Warum lebe ich? Welchen Sinn hat mein Leben? Was ist der letzte Zweck und das letzte Ziel dieser Reise? Romano Guardini fragte sich: „Warum ist aber der Mensch trotz all des Fortschritts sich selbst so unbekannt und wird es immer mehr? Weil er weithin den Schlüssel zum Wesen des Menschen verloren hat. Das Gesetz unserer Wahrheit sagt, dass der Mensch sich nur von über ihm herab erkennt, von Gott her, weil er nur von Ihm her existiert“ (Gebet und Wahrheit, Mainz/Paderborn 1988, 49).

Liebe Professorinnen und Professoren, gegen die Müdigkeit des Geistes und den seelenlosen Rationalismus wollen auch wir lernen, wie Jabez zu beten: „Herr weite unsere Grenzen“. Bitten wir Gott, dass er unsere Arbeit segne, die beitragen möge zu einer Kultur, die in der Lage ist, auf die Herausforderungen der heutigen Zeit zu antworten. Der Heilige Geist, den wir als Gabe empfangen haben, drängt uns dazu, die Räume unseres Denkens und Handelns zu öffnen, bis er uns zur ganzen Wahrheit führt (vgl. Joh 16,13). Wie der Rektor zu Beginn sagte, sind wir uns bewusst, „dass wir noch nicht alles wissen“. Zugleich aber muss euch gerade diese Grenze immer weiter antreiben und euch helfen, die Flamme des Suchens am Brennen zu halten und ein offenes Fenster zur Welt von heute zu bleiben.

Und in diesem Sinne möchte ich euch aufrichtig danken! Ich danke euch, weil ihr durch eine Weitung der Grenzen viele Flüchtlinge aufgenommen habt, die gezwungen sind, unter vielfachen Unsicherheiten, enormen Entbehrungen und manchmal grausamen Leiden, aus ihren Ländern zu fliehen. Danke! Wir haben soeben in dem Video ein sehr bewegendes Zeugnis gesehen. Und während einige nach einer Befestigung der Grenzen rufen, habt ihr als Universitätsgemeinschaft die Grenzen weiter gemacht. Danke! Ihr habt eure Arme ausgebreitet, um diese von Leid gezeichneten Menschen aufzunehmen, um ihnen zu helfen, zu studieren und zu wachsen. Danke!

Das brauchen wir: eine Kultur, die die Grenzen weit macht, die weder „sektiererisch“ ist - und ihr seid nicht sektiererisch, danke! - noch sich über andere erhebt, sondern im Gegenteil, in den Teig der Welt einen guten Sauerteig einbringt, der zum Wohl der Menschheit beiträgt. Diese Aufgabe, diese „größere Hoffnung“, ist euch anvertraut!

Ein Theologe dieses Landes, auch ein ehemaliger Student und Professor an dieser Universität, hat gesagt: „Wir sind der brennende Dornbusch, der Gott erlaubt, sich zu offenbaren“ (A. Gesché, Dio per pensare. Il Cristo, Cinisello Balsamo 2003, 276). Haltet die Flamme dieses Feuers am Brennen; weitet die Grenzen! Seid unruhig, bitte, seid mit der Unruhe des Lebens auf der Suche nach der Wahrheit und lasst eure Leidenschaft nie erlöschen, damit ihr nicht der Trägheit des Denkens erliegt. Dies ist eine schreckliche Krankheit. Seid Protagonisten bei der Schaffung einer Kultur der Integration, des Mitgefühls und der Aufmerksamkeit gegenüber den Schwächsten und gegenüber den großen Herausforderungen der Welt, in der wir leben.

Und bitte vergesst nicht, für mich zu beten. Danke!

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27. September 2024, 18:37