Parolin: Papst wird Europa mahnen, sich seiner Werte zu erinnern
Das Interview führte Massimiliano Menichetti, Übersetzung Stefanie Stahlhofen
Nach der längsten Reise seines Pontifikats, die ihn vor wenigen Tagen nach Asien und Ozeanien geführt hat, bricht Papst Franziskus erneut auf. Als unermüdlicher Zeuge Christi wird er ein vom Krieg verwundetes, oft gespaltenes Europa besuchen, das mit der Realität eines demografischen Winters konfrontiert ist. Am ersten Reisetag, dem 26. September, wird Papst Franziskus in Luxemburg und in Belgien sein. In Brüssel wird er bis zum 29. September bleiben. Aus Sicht von Kardinal Pietro Parolin, Staatssekretär des Heiligen Stuhls, ist in „Europa die Erinnerung an die immensen Katastrophen der Vergangenheit etwas verloren gegangen, und deshalb steigt das Risiko, in die tragischen Fehler der Vergangenheit zurückzufallen“. Für den Kardinal, der sich vom 22. bis 30. September zur 79. UN-Generalversammlung in New York aufhält, bringt der Besuch des Papstes Weitblick, Solidarität und Mut, sich der Zukunft zu öffnen.
Eminenz, wie kam diese Reise zustande, die mit einem kurzen Zwischenstopp in Luxemburg beginnt?
Es handelt sich um einen Pastoralbesuch, bei dem es vor allem um die Feierlichkeiten zum 600-jährigen Bestehen der Katholischen Universität (KULeuven/UCLouvain) in Belgien geht, der aber auch einen Aufenthalt in Luxemburg einschließt. Franziskus besucht zwei Länder, die Gründer der Europäischen Union und Sitz ihrer Institutionen sind, in denen der Katholizismus, auch wenn er formal noch in der Mehrheit ist, oft nicht mehr als Lebenshorizont angesehen wird und fast an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden scheint.
Die Bischöfe Belgiens haben „Überraschung“ und ‚große Freude‘ angesichts des Besuchs von Papst Franziskus geäußert, der anlässlich des 600-jährigen Jubiläums der Katholischen Universität stattfindet. Wird dieses Jubiläum eine Gelegenheit sein, die enge Verbindung zwischen Wissenschaft und Glaube hervorzuheben?
Der Dialog zwischen Glaube und Wissenschaft ist von grundlegender Bedeutung. Im Laufe der Geschichte hat es sowohl lange Phasen des Verständnisses und der Zusammenarbeit als auch Momente des gegenseitigen Missverständnisses gegeben. Missverständnise entstanden durch die unzulässige Überschneidung der Methoden, als man einerseits den Fehler beging, die Bibel nicht nur als heiligen Text, sondern auch als wissenschaftliches Buch zu betrachten, während man andererseits die wissenschaftlichen Erkenntnisse als die einzigen wirklich wissenschaftlichen Erkenntnisse ansah und damit die Reichweite der Vernunft unterschätzte und einschränkte. Die Reise des Heiligen Vaters nach Belgien anlässlich des 600. Jahrestages der Gründung der Universität Leuven wird sicherlich dazu beitragen, die enge Verbindung zwischen Glaube und Wissenschaft in ihren jeweiligen Tätigkeitsbereichen und mit ihren jeweiligen Methoden wieder zu entdecken.
Der Papst kehrt in ein Europa zurück, das in Fragen des Lebens, der Migranten oft gespalten ist und vom Krieg gezeichnet. Wird dieser Besuch die Kraft haben, zu den Wurzeln der Gründerväter Schuman, De Gasperi und Adenauer zurückzukehren, zu einem politischen Projekt, das die Entwicklung auf der Grundlage von Frieden, Brüderlichkeit und Solidarität fördert?
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Völker Europas am Ende. Die vorangegangenen dreißig Jahre waren so reich an Unglück und Leid gewesen, dass sie entschlossen und kühn eine neue Ordnung aufbauten, die in der Lage war, das Wiederaufleben der übertriebenen Nationalismen, die die Konflikte verursacht hatten, zu vermeiden. Heute hingegen ist die Erinnerung an die gewaltigen Katastrophen der Vergangenheit in Europa etwas verloren gegangen, und so wächst die Gefahr, in die tragischen Irrtümer der Vergangenheit zurückzufallen. Ich hoffe, dass der Besuch des Heiligen Vaters eine wertvolle Gelegenheit für Europa sein wird, seine Grundwerte wieder zu entdecken. Während sich die Völker Europas 1945 auf die Zukunft stürzten, die sie sich nur als besser als die Vergangenheit vorstellen konnten, scheinen sie heute die Zukunft als völlig unbekannt oder sogar als schlimmer als die jüngste Vergangenheit zu betrachten. Diese Denkweise beeinträchtigt die Fähigkeit zur Offenheit gegenüber dem Leben und verbreitet ein Klima der Resignation, in dem die Hoffnung keinen Platz hat. Der Heilige Vater hingegen ist ein Pilger der Hoffnung. Er möchte, dass Europa die Gründe für seinen Aufbau wiederentdeckt, damit es alle Fragen, auch die der Wirtschaft oder der Migration, in einem weitsichtigen Geist der Solidarität angehen kann und den Mut wiederentdeckt, sich der Zukunft zu öffnen und den „demografischen Winter“ zu besiegen.
Wird dieser Besuch in einem der Herzen der europäischen Politik dazu beitragen, Ängsten, Polarisierungen und Populismen entgegenzuwirken?
Populismen, Polarisierungen und Ängste sind oft das Ergebnis einer geistigen und Denkmüdigkeit und der daraus resultierenden Behauptung, dass fast magische Vereinfachungen möglich sind, die komplizierte oder sogar epochale Probleme mit einfachen und schnell wirksamen Entscheidungen lösen können. Diese Müdigkeit der Menschen führt dazu, dass sie bereit sind, radikale Vorschläge zu akzeptieren, die Unmögliches versprechen, nur um später festzustellen, dass diese Versprechungen nicht realisierbar sind, mit dem Ergebnis, dass sie sich anderen Vorschlägen zuwenden, die inhaltlich entgegengesetzt sind, aber in der Aussagekraft der Sprache sehr ähnlich. Die Kirche als „Expertin für Menschlichkeit“ und damit auch der Heilige Vater haben eine Sprache der Verantwortung, der Mäßigung, der Warnung vor den Risiken, die man eingehen kann, wenn man gefährliche Wege einschlägt, mit der Verurteilung der gefährlichsten Fehler. Deshalb lässt sich eine solche Sprache nicht einfach vereinfachen und bietet nicht immer sofortige Lösungen. Die Worte des Heiligen Vaters entstammen jedoch dem Evangelium und sind immer Worte der Weisheit. Sie sind realistisch, so wie das Evangelium realistisch ist, dass das Paradies nicht ohne Kreuz verspricht. Die Stimme des Papstes lehrt uns daher, wachsam zu sein und unseren kritischen Sinn gegenüber jenen hochzuhalten, die den aus den unterschiedlichsten Gründen müden Völkern sofort vereinfachte Erlösungsrezepte anbieten. Sie entpuppen sich meist als Rezepte für Katastrophen.
Der alte Kontinent scheint seine Identität, seine Wurzeln verloren zu haben. Was braucht er Ihrer Meinung nach, und wo ist der Heilige Stuhl angesichts dieser Herausforderungen gefragt?
Es besteht kein Zweifel, dass die europäische Zivilisation ihre Wurzeln in der griechisch-römischen Kultur hat und ihre Werte der jüdisch-christlichen Tradition verdankt. Insbesondere das Christentum hat die europäische Landschaft im Laufe der Jahrhunderte tiefgreifend umgestaltet. Davon zeugen die Kathedralen, die Universitäten, die Kunst, die Entwicklung der Institutionen und tausend andere Aspekte, die sozusagen das Europa, wie wir es kennen, geschaffen haben. In Anbetracht all dessen hat man es in der europäischen Verfassung vorgezogen, diese starken Verbindungen zum kulturellen und religiösen Erbe der Vergangenheit nicht ausdrücklich zu erwähnen, weil man der Meinung war, dass sie auf jeden Fall trennend wirken oder dass diese Wurzeln durch eine solche Anerkennung schwerfällig werden und neue Entwicklungen behindern könnten. Das Ergebnis dieser Entscheidung ist die Verschärfung einer gewissen Verwirrung, die der europäischen Integration nicht zuträglich ist. In der Tat muss Europa dringend seine Wurzeln wiederentdecken, um die Kraft für einen neuen Impuls zu finden, der es ermöglicht, neue und wichtige Ziele zu erreichen und den immer stärker werdenden Egoismus zu überwinden. Wenn Europa in der heutigen Welt eine hörbare und maßgebliche Stimme sein will und wenn es mühsame Sackgassen überwinden will, muss es die Größe der Werte wiederentdecken, die es inspiriert haben, Werte, die den Gründern des modernen Europas sehr wohl gegenwärtig waren. Der Heilige Stuhl kann die Völker Europas in dieser heiklen Phase begleiten, indem er sie auffordert, ihren Weg mit Zuversicht fortzusetzen und sich nicht zu scheuen, eine starke Bindung an die Werte aufrechtzuerhalten, die das Leben und die Gesellschaft Europas inspiriert haben. Auf diese Weise wird Europa einen neuen ideellen Impuls finden, der es ihm ermöglicht, die komplizierten Herausforderungen dieser Jahre zu bewältigen.
Was ist Ihr Wunsch für diese Reise?
Ich hoffe, dass diese Reise des Papstes nach Luxemburg und Belgien wie ein Funke sein wird, der ein größeres Licht entzündet. Ein Funke, der dazu beiträgt, das ganze Potenzial des Guten, das in der Kirche und der Gesellschaft vorhanden ist, zum Vorschein zu bringen, ein Licht, das denen Mut macht, die sich mit der Dekadenz abzufinden scheinen. Ich hoffe und wünsche mir, dass der Besuch des Papstes Gelegenheit zu einer eingehenden Reflexion über Europa und über die Art und Weise des Kircheseins im heutigen Europa gibt. Ich hoffe, dass es ein Moment sein wird, in dem Gläubige und Nicht-Gläubige gleichermaßen die Gelegenheit haben werden, auf das Wort des Nachfolgers des heiligen Petrus zu hören und ihre Art, in der Welt zu sein und zu handeln, mit dem Vorschlag zu vergleichen, der aus dem Evangelium kommt.
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