Wortlaut: Predigt von Papst Franziskus in Brüssel

Hier lesen Sie die Predigt, die Papst Franziskus an diesem Sonntag bei seiner Messfeier in der belgischen Hauptstadt gehalten hat, in vollem Wortlaut.

Spontane Hinzufügungen wurden in den offiziellen Predigttext eingearbeitet. Sämtliche Wortmeldungen des Papstes in ihrer amtlichen Fassung werden auf der Internetseite des Heiligen Stuhls veröffentlicht.


APOSTOLISCHE REISE NACH LUXEMBURG UND BELGIEN
HOMILIE DES HEILIGEN VATERS
Heilige Messe und Seligsprechung
der ehrwürdigen Dienerin Gottes Anne de Jésus
Brüssel, König-Baudouin-Stadion, 29. September 2024

»Wer einem von diesen Kleinen, die an mich glauben, Ärgernis gibt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde« (Mk 9,42). Und mit diesen Worten, die an die Jünger gerichtet sind, warnt Jesus vor der Gefahr des Ärgernisses, also davor, den Weg der „Kleinen“ zu behindern und ihr Leben zu verletzen. Es ist eine starke, strenge Mahnung, ... über die wir nachdenken müssen. Ich möchte dies, auch im Licht der anderen Lesungen, mit euch tun anhand von drei Schlüsselwörtern: Offenheit, Gemeinschaft und Zeugnis.

Am Anfang steht die Offenheit. Die erste Lesung und das Evangelium sprechen davon und führen uns das freie Wirken des Heiligen Geistes vor Augen, der in der Exodus-Erzählung nicht nur die Ältesten, die mit Mose zum Zelt der Begegnung gegangen waren, mit der Gabe der Weissagung erfüllt, sondern auch zwei Männer, die im Lager geblieben waren.

Und das gibt zu denken, denn wenn es zunächst ein Ärgernis war, dass sie nicht mit der Gruppe der Auserwählten mitgegangen waren, so ist es nach der Gabe des Geistes ein Ärgernis, ihnen zu verbieten, die Sendung, die sie dennoch empfangen hatten, auszuüben. Das hat Mose als demütiger und weiser Mann richtig verstanden, als er mit offenem Geist und offenem Herzen sagte: »Wenn nur das ganze Volk des Herrn zu Propheten würde, wenn nur der Herr seinen Geist auf sie alle legte« (Num 11,29). Ein wunderbarer Wunsch!

Und das sind weise Worte, die bereits auf das hindeuten, was Jesus im Evangelium sagt (vgl. Mk 9,38-43.45.47-48). Hier spielt sich die Szene in Kafarnaum ab, und die Jünger wollen einen Mann daran hindern, im Namen des Meisters Dämonen auszutreiben, weil ̶ so behaupten sie ̶ »er uns nicht nachgefolgt« (Mk 9,38)... Sie denken so: „Wer uns nicht nachfolgt, wer nicht ‚einer von uns‘ ist, kann keine Wunder tun, hat kein Recht dazu“. Aber Jesus überrascht sie - wie immer - ... und weist sie zurecht, indem er sie auffordert, ihre gewohnten Denkmuster zu verlassen und nicht an der Freiheit Gottes „Anstoß“ zu nehmen. Er sagt ihnen: »Hindert ihn nicht […] wer nicht gegen uns ist, der ist für uns« (Mk 9,39-40).

Betrachten wir diese beiden Szenen, die von Mose und die von Jesus, genau, denn sie betreffen auch uns und unser christliches Leben. Wir alle haben nämlich mit der Taufe einen Auftrag in der Kirche erhalten. Aber diese Mission ist ein Geschenk und nicht ein Grund sich zu rühmen. Die Gemeinschaft der Gläubigen ist kein Kreis von Privilegierten, sondern eine Familie Geretteter, und wir sind nicht aufgrund unserer eigenen Verdienste gesandt, das Evangelium in die Welt zu tragen, sondern aufgrund der Gnade Gottes, seiner Barmherzigkeit und seines Vertrauens, dass er in seiner väterlichen Liebe trotz all unserer Grenzen und Sünden weiter in uns hat. Er sieht in uns, was wir selbst nicht sehen können. Deshalb ruft er uns, sendet er uns und begleitet er uns geduldig Tag für Tag.

Wenn wir also mit offener und aufmerksamer Liebe am freien Wirken des Geistes mitwirken wollen, ohne mit unserer Anmaßung und unserer Starrheit Ärgernis zu erregen, ohne ein Hindernis für irgendjemanden zu sein, müssen wir unseren Auftrag mit Demut, Dankbarkeit und Freude erfüllen. Wir dürfen also keinen Groll hegen, sondern müssen uns freuen, dass auch andere das tun können, was wir tun, auf dass das Reich Gottes wachse und wir alle eines Tages in den Armen des Vaters vereint sind.

Und das führt uns zu dem zweiten Wort: Gemeinschaft. Jakobus spricht zu uns davon in der zweiten Lesung (vgl. Jak 5,1-6) mit zwei starken Bildern: der Reichtum, der verfault (vgl. V. 3), und die Klagerufe der Erntearbeiter, die an die Ohren des Herrn dringen (vgl. V. 4). So erinnert er uns daran, dass der einzige Weg des Lebens der des Gebens ist, der Liebe, die im Miteinanderteilen vereint. Der Weg des Egoismus führt – indem er uns an Dinge kettet und uns von Gott und unseren Brüdern und Schwestern entfernt – nur zu Verschlossenheit, Mauern und Hindernissen ̶ zu „Ärgernissen“ also.

Der Egoismus ist, wie alles, was die Liebe verhindert, ein „Ärgernis“, weil er die Kleinen erdrückt, die Würde der Menschen erniedrigt und den Schrei der Armen erstickt (vgl. Ps 9,13). Das galt zur Zeit des heiligen Paulus genauso wie für uns heute. Wenn man dem Leben der Einzelnen und der Gemeinschaften allein die Prinzipien des Eigennutzes und allein die Gesetzmäßigkeiten des Marktes zugrundelegt (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 54-58), entsteht eine Welt, in der es keinen Platz mehr gibt für die, die in Schwierigkeiten sind, keine Barmherzigkeit für die, die Fehler machen, kein Mitgefühl für die, die leiden und nicht zurechtkommen... Denken wir an das, was passiert, wenn kleine Kinder von denen, die sich um sie kümmern sollten, skandalisiert, verletzt, missbraucht werden, an die Wunden des Schmerzes und der Hilflosigkeit vor allem bei den Opfern, aber auch in ihren Familien und in der Gemeinschaft. Mit meinem Geist und meinem Herzen gehe ich zurück zu den Geschichten einiger dieser Kleinen, die ich vorgestern getroffen habe. Ich habe ihnen zugehört, ich habe ihr Leid als Misshandelte gespürt, und ich wiederhole es hier: In der Kirche ist Platz für alle, für jeden, aber jeder wird verurteilt werden, und es gibt keinen Platz für Missbrauch, keinen Platz für das Vertuschen von Missbrauch! Ich bitte alle: Vertuscht keinen Missbrauch! Ich bitte die Bischöfe: Vertuschen Sie den Missbrauch nicht! Verurteilen Sie die Missbrauchstäter und helfen Sie ihnen, sich von der Krankheit des Missbrauchs zu heilen. Das Böse kann nicht versteckt werden: Das Böse muss an die Öffentlichkeit gebracht werden, es muss bekannt werden, wie es einige Missbrauchsopfer getan haben, und zwar mit Mut. Es muss bekanntwerden! Und der Missbrauchstäter muss verurteilt werden. Der Missbrauchstäter muss verurteilt werden, ob Laie, Priester oder Bischof: er muss verurteilt werden!

Das Wort Gottes ist eindeutig: Es sagt, dass man die „Klagerufe der Erntearbeiter“ und den „Schrei der Armen“ nicht ignorieren darf, nicht auslöschen kann, als wären sie ein falscher Ton im perfekten Konzert der Welt des Wohlstands. Auch können sie nicht gedämpft werden durch Formen einer oberflächlichen Scheinwohltätigkeit. Im Gegenteil, sie sind die lebendige Stimme des Geistes, sie erinnern uns daran, wer wir sind - wir sind alle arme Sünder, alle, alle!, und ich zuallererst, und die Missbrauchsopfer sind ein Klageschrei, der zum Himmel aufsteigt, der die Seele anrührt und mit Scham erfüllt - und rufen uns zur Umkehr auf. Behindern wir nicht ihr prophetisches Rufen, indem wir sie durch unsere Gleichgültigkeit zum Schweigen bringen. Hören wir auf das, was Jesus im Evangelium sagt: Weg mit dem Auge, das Ärgernis gibt, da es den Elenden sieht und sich abwendet! Weg mit der Hand, die Anstoß erregt, da sie sich zur Faust ballt, um ihre Schätze zu verbergen, und sich gierig zu ihren Taschen bewegt! Meine Großmutter pflegte zu sagen: „Der Teufel kommt durch die Taschen“. Diese Hand, die zuschlägt, um sexuellen Missbrauch zu begehen, einen Missbrauch der Macht, einen Missbrauch des Gewissens gegenüber den Schwächeren: und wie viele Fälle von Missbrauch haben wir in unserer Geschichte, in unserer Gesellschaft! Weg mit dem Fuß, der Anstoß erregt, da er schnell läuft, aber nicht auf die Leidenden zu, um ihnen nahe zu sein, sondern um an ihnen vorbeizugehen und Abstand zu halten! All das muss weg: weit weg von uns! Denn nichts Gutes und Festes kann so entstehen! ...

Wenn wir für die Zukunft säen wollen, auch auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene, dann wird es gut sein, das Evangelium der Barmherzigkeit wieder zur Grundlage unserer Entscheidungen zu machen. Jesus ist die Barmherzigkeit, und wir alle, alle sind Menschen, denen Barmherzigkeit widerfährt. Andernfalls werden die Monumente unseres Überflusses, so imposant sie auch erscheinen mögen, immer Kolosse auf tönernen Füßen sein (vgl. Dan 2,31-45). Machen wir uns nichts vor: Ohne Liebe hat nichts Bestand, löst sich alles auf und zerfällt; werden wir zu Gefangenen eines flüchtigen, leeren und sinnlosen Lebens, einer haltlosen Welt, die jenseits der äußeren Fassade jede Glaubwürdigkeit verloren hat. Warum? Weil sie bei den Kleinen Anstoß erregt hat.

Und damit kommen wir zum dritten Wort: Zeugnis. Die belgische Kirche hat eine Geschichte, die reich ist an Beispielen der Heiligkeit. Denken wir an die heilige Gudula, die Schutzpatronin des Landes (650-712 circa), an den heiligen Guido von Anderlecht, einen Pilger und Freund der Armen (+1012), an den heiligen Damian de Veuster, besser bekannt als Damian von Molokai, den Apostel der Aussätzigen (1840-1889). Und denken wir weiter an die vielen belgischen Missionarinnen und Missionare, die im Laufe der Jahrhunderte das Evangelium in verschiedenen Teilen der Welt verkündet haben, manchmal sogar bis zur Hingabe ihres Lebens.

Auf diesem fruchtbaren Boden konnte auch das Zeugnis der Karmelitin Anna von Jesus/Anna de Lobera, die heute seliggesprochen wird, gedeihen. Diese Frau war in der Kirche ihrer Zeit eine der Protagonistinnen einer großen Reformbewegung, auf den Spuren einer der ganz großen geistlichen Gestalten, Theresia von Ávila, deren Ideale sie in Spanien, Frankreich und auch hier in Brüssel und in den damaligen sogenannten Spanischen Niederlanden verbreitete.

In einer Zeit, die von schmerzhaften Skandalen innerhalb und außerhalb der christlichen Gemeinschaft geprägt war, konnte sie und ihre Gefährtinnen mit ihrem einfachen und armen Leben, das aus Gebet, Arbeit und Nächstenliebe bestand, viele Menschen zum Glauben zurückbringen, so dass jemand ihre Gründung in dieser Stadt einmal als einen „geistlichen Magneten“ bezeichnet hat.

Es war ihr Entschluss, keine Schriften zu hinterlassen. Sie bemühte sich jedoch, das, was sie ihrerseits gelernt hatte, in die Praxis umzusetzen (vgl. 1 Kor 15,3), und trug durch ihre Lebensweise dazu bei, die Kirche in einer Zeit großer Schwierigkeiten wieder aufzurichten.

Seien wir also dankbar für dieses Vorbild des „weiblichen Stils der Heiligkeit“, das sie uns hinterlassen hat (vgl. Apostolisches Schreiben Gaudete et Exsultate, 12), zart und stark zugleich. Ihr Zeugnis und das so vieler Brüder und Schwestern, die uns vorausgegangen sind, unserer Freunde und Weggefährten, ist uns nicht fern: es ist uns nahe, ja es ist uns anvertraut, damit auch wir es uns zu eigen machen und uns neu darum bemühen, gemeinsam in den Spuren des Herrn zu gehen.

(vatican news)
 

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29. September 2024, 11:30