Botschafterin: Papst würdigt die vielen Deutschen, die sich um Flüchtlinge sorgen
Überdies formulierte er den Wunsch, dass die Schwierigkeiten, die mit dieser großzügigen Aufnahme verbunden sind, Europa nicht zur Abschottung führen sollten, sondern vielmehr dazu, sein eigenes kulturelles und religiöses Erbe wiederzuentdecken. Gudrun Sailer fragte Deutschlands Botschafterin beim Heiligen Stuhl, Annette Schavan, ob dieses Anliegen in Deutschland selbst schon erkannt und als Weg eingeschlagen worden ist.
Schavan: Zunächst einmal habe ich mich natürlich gefreut, dass der Papst Deutschland dankt – er dankt damit den Tausenden Menschen in Deutschland, die sich um Flüchtlinge sorgen. Das ist nicht selbstverständlich. Natürlich kommen dann – wie der Papst auch angesprochen hat, er ist ja kein Phantast –viele Schwierigkeiten, Ängste, Unsicherheiten. Die gibt es auch in Deutschland, sie sind jetzt auch Gegenstand der Gespräche zwischen den politischen Parteien im Zug der Regierungsbildung; und da habe ich das, was der Papst sagt, als Ermutigung erfahren. Fühlt euch nicht immer verunsichert oder ängstlich im Blick auf das, was aus anderen Kulturen und Religionen auf euch zukommt, sondern lasst euch befragen über das, wovon ihr überzeugt seid, woran ihr euch gebunden fühlt, wovon ihr euch provozieren lasst, besinnt euch auf die Substanz dessen, was eine Gesellschaft in Deutschland zusammenhält. Und da haben ja gerade viele gezeigt, dass sie enorme Bereitschaft haben, Integrationskräfte mit anzustoßen, von daher glaube ich, das ist tragfähig, was da entstanden ist. Da mag mancher sich echauffieren, da mögen manche sich lustig machen über Willkommenskultur, da mögen Dritte denken, wenn sie besonders scharf auftreten, können sie besonders überzeugen – was der Papst gesagt hat, geht in die andere Richtung, die es in Deutschland auch gibt, und dazu haben wie gesagt viele Bürgerinnen und Bürger beigetragen.
Frage: Sorgt der Wunsch des Papstes, dass die reichen aufnehmenden Länder das eigene religiöse und kulturelle Erbe wiederentdecken mögen, nicht eher für einen Abwehrreflex in Deutschland?
Schavan: „Das glaube ich nicht, denn wir haben in Deutschland zum einen die klassische Organisation der Kirchen und auch viele große geistliche Traditionen, Klöster, die in ihren Regionen einen spirituellen und intellektuellen Mittelpunkt darstellen, denken Sie an die großen Abteien in Deutschland, auch an die geistlichen Bewegungen. Da mag es manchen geben, der auch öffentlich sagt, meine Religion geht euch gar nichts an, und die hat auch mit dem Flüchtlingsthema nichts zu tun, aber es gibt auch die vielen anderen, die verzweifeln, wenn sie so etwas hören, und die sagen, es hat sehr wohl etwas mit meiner Religion zu tun – es ist ja etwas wie der Prüfstein für unsere christliche Überzeugung. Also: Deutschland ist vielfältig, Deutschland ist längst eine multireligiöse Gesellschaft, und gerade aus dieser Erfahrung heraus ist es hilfreich, uns jetzt zu ermutigen, besinnt euch auf das, wovon ihr überzeugt seid, und dann sieht auch der Dialog mit anderen Überzeugungen anders aus, dann fällt er euch leichter, und dann wirkt ihr in diesem Dialog überzeugender.
Frage: Das Thema Flüchtlinge scheint das Kernthema zu sein, das sich Franziskus für 2018 vorgeknöpft hat. Die Botschaft zum Weltfriedenstag hat er dem Thema Flüchtlinge und Migranten gewidmet, ein Novum in den gut 50 Jahren, in denen es dieses Format gibt. Der Papst hat von den vier Punkten, die er dabei nannte – aufnehmen, schützen, fördern und integrieren – den letzten heute herausgearbeitet, „integrieren“. Integration ist gegenseitig, sagt der Papst, die angenommenen Menschen müssten sich „unbedingt anpassen und die Identitätsprinzipien“ des aufnehmenden Landes respektieren. Der Papst hat aber auch auf das Prinzip Menschlichkeit und Brüderlichkeit hingewiesen, das die aufnehmenden Länder leiten muss. Heruntergebrochen auf Deutschland, was genau meint der Papst damit?
Schavan: Er hat die zwei Seiten der einen Medaille genannt. Es gilt der alte Satz, wie ich in den Wald hineinrufe, so schallt es zurück – das gilt für die aufnehmenden Länder. Wer glaubt, er müsse sich besonders schäbig und aggressiv Flüchtlingen gegenüber verhalten, wird ebendiese Aggression ernten. So ist es im Leben immer. Für diejenigen, die in ein Land kommen, also konkret die nach Deutschland kommen, gilt dasselbe: Wie ich in den Wald hineinrufe, so schallt es zurück. Das zeigt, wie sehr der Papst eben auch realitätsbezogen spricht, dass er nicht ignoriert, dass es Probleme gibt und Integrationsunwilligkeit. Das ist auch hilfreich für die politischen Debatten und für die Zivilgesellschaft, zu sehen, da hängt keiner die Latte so, dass wir eigentlich die Realität nicht wieder erkennen. Da spricht keiner über unsere Gesellschaft so, dass wir den Eindruck gewinnen, der weiß gar nicht, wie es bei uns zugeht. Seine Überzeugungskraft hat ja auch damit zu tun, dass die Menschen spüren, er weiß, wie schwierig manches ist, und das große Wort Integration, das wir so leicht daherreden und dann glauben, mit Sprachkursen sei die Integration erreicht, ist so anspruchsvoll wie weniges in einer Gesellschaft – und wird immer mehr zum Herzstück der Gesellschaftspolitik, in allen modernen Gesellschaften. Also: Wieder so eine Beziehung, die der Papst herstellt, mit dem Begriff der Pflicht – es ist nicht ins Belieben gestellt, es kann sich keiner überlegen, ob er das jetzt will oder nicht, ob er sich absondert, ob er eine Parallelgesellschaft aufbauen will oder nicht, nein: Integration ist die einzige Möglichkeit, wie dann auch eine Atmosphäre der Menschlichkeit erhalten werden kann. Ansonsten gerät eine moderne Gesellschaft in Zorn.
Frage: Sehen Sie die Gefahr, dass solche päpstlichen Stellungnahmen pro Flüchtlinge und Migranten die alteingesessene Bevölkerung in den reichen Staaten zunehmend kalt lassen?
Schavan: Das ist ja nicht erst seit Franziskus so. Seit Papst Paul VI. in der Endphase des Konzils 1965 vor den Vereinten Nationen gesprochen hat, lassen sich diese Themen, die Würde des Menschen, die Frage, wie Wege zum Frieden sind, wie wir mit den Menschen umgehen, wie ein roter Faden aufzeigen. Papst Franziskus spitzt das zu, natürlich auch vor dem Hintergrund dass heute oft gesagt wird, wir leben jetzt in einer neuen Debatte über den Wettbewerb der Ordnungen, es gibt eben auch anderes als das, was wir gewohnt sind, es gibt keinen unaufhörlichen Siegeszug der Freiheit, es wird Autoritäres zunehmen, und manche sind ganz begeistert davon, weil sie sich sicherer fühlen im Kontext von Autoritärem; dass ein Papst da so klar und immer wieder Stellung bezieht, da gilt das alte Prinzip des öffentlichen Lebens, einmal gesagt ist keinmal gesagt. Es muss immer wieder gesagt werden. Nicht zuletzt bezieht er sich damit auf den Kern des Christentums. Was anderes ist denn der Kern des Christentums, und unseres Glaubens als Christen, als dass Gott Mensch geworden ist, Gott seither nicht mehr zu denken ist ohne, wie der Papst gerade zu Weihnachten gesagt hat, ohne menschliches Fleisch, und dass damit der Mensch für uns eine ganz besondere Stellung hat, wie es in Psalm 8 steht.
Frage: Genau diese Verbindung zwischen der Botschaft Jesu und dem Einsatz der Kirche für die Menschenrechte hat Papst Franziskus ja heute ausdrücklich angesprochen. Der Papst spricht oft über Menschenrechte, das trägt ihm katholischerseits mitunter auch Kritik ein, die ihm vorwirft, er kümmere sich zu sehr um Menschenrechte und zu wenig um Christenrechte. Ist es ihm heute gelungen, eine solche Kritik zu entkräften?
Schavan: Nun, diese Kritik gibt es ja vor allem bei jenen, die sagen, dieses ganze Zweite Vatikanische Konzil hat uns auf eine schiefe Bahn gebracht, hat in einer Weise den Blick auf den Menschen gerichtet, wie wir das uns eigentlich nicht wirklich als katholisch vorstellen können. Das ist, finde ich, immer deutlicher, nicht vor allem Kritik an Papst Franziskus, sondern es ist Kritik an einer bestimmten Entwicklung der Kirche seit nun über 60 Jahren. Genau dieses Konzil und vieles, worauf das Konzil Bezug nimmt, denken wir nur an Thomas von Aquin und viele große spirituelle Lehrer in der Geschichte des Christentums, die deutlich gemacht haben, ich kann von Gott nicht überzeugend reden, ohne überzeugend am Menschen zu handeln, ich kann nicht Gottesdienst gegen Menschendienst ausspielen: wer das tut, gerät in Gefahr, aus diesem Christentum, aus dem Glauben eine Theorie zu machen, eine abstrakte Idee. Das aber ist nicht Christentum. Das finde ich haben viele Päpste, nicht zuletzt Johannes XXIII., der dieses Konzil wollte, immer wieder den Christen gesagt, das ist eine biblische Kategorie, da wird schon im Lukasevangelium den Jüngern gesagt, alles Mögliche kommt ihr prognostizieren und bestimmen, ihr wisst, wie das Wetter wird, aber ihr findet euch nicht zurecht in Zeiten der Entscheidung, ihr findet nicht zu einem Urteil, wenn Zeichen der Zeit die Welt verändern. Und das glaube ich verkörpert Papst Franziskus nicht nur in der Art, wie er redet, sondern auch, wie er agiert; er sagt: haltet euch nicht fest daran, wie alles war, sondern nehmt in dieser Zeit der Entscheidung wahr, wie es jetzt ist, und dass Christen dem nicht ausweichen können, und dass wir deswegen auch in manchem eine andere Antwort geben müssen. Das passt nicht jedem, aber wie heißt es so schön im öffentlichen Leben: Im Zustand der Harmonie verändert sich nichts. Deshalb darf auch darüber gestritten werden.
Frage: Der Papst sagt, nach den Umbrüchen von 1968 sind viele „neue Rechte“ entstanden, die ebenfalls als Menschenrechte deklariert wurden, die aber unter den Staaten Anlass zu Streit geben, weil sie der Kultur vieler Länder zuwiderlaufen, er benennt Abtreibung, Menschenhandel, systematische Gewalt gegen Frauen – aber nicht z.B. homosexuelle Verbindungen. Ähnlich hat sich bereits Papst Benedikt geäußert, Franziskus benutzt hier auch sein Wort von der „Ideologischen Kolonialisierung“ der armen Länder durch die reichen. Wie sieht man eine solche Argumentation eigentlich heute in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt?
Schavan: Zunächst, der Papst hat sich geäußert mit Blick auf die Menschenrechte 1948, und interessant ist ja, das wird man in Deutschland so erfahren und das erfahren wir viel in internationalen Dialogen, wer sich auf eine Agenda einigen will, der muss sich nach Möglichkeit mit der Quintessenz beschäftigen, die für alle akzeptabel ist. Wenn also jetzt vom Wettbewerb der Ordnungen gesprochen wird und die Empfindung da ist, es gebe neue Wege der Kolonialisierung, dann ist das ein wichtiger Hinweis: überdenkt nochmals die Art, wie ihr in Dialog geht, was ihr von anderen erwartet, was ihr selbst einbringt. Und wo Unterforderung oder Überforderung eine Rolle spielen. Das ist für die internationale Politik eigentlich ein Grundgesetz. Wer international tätig ist, wer in der Diplomatie tätig ist, wer im besten Sinn politische Diplomatie gestalten will, der muss wissen, dass er nicht mit großer Emphase immer nur reden darf über all das, was im eigenen Land wichtig ist, so sehr er das alles als vorbildhaft empfindet, sondern sich auch als aufmerksamer Zuhörer verstehen muss im Blick auf die Emphase des Gesprächspartners. So habe ich den Papst verstanden. Und so agiert er ja übrigens auch selbst. Er ist jemand, der viel zuhört, der ganz verschiedene Begegnungen eingeht, auch riskante Begegnungen, die ihm auch wieder Kritik einbringen, aber die genau davon geprägt sind, nicht immer nur mit Emphase das vertreten, wovon ich selbst überzeugt bin, das zum Beispiel zum Katalog der Menschenrechte gehört. Ich glaube, dieser Umgang miteinander auf Augenhöhe im internationalen Kontext wird an Bedeutung gewinnen.
Frage: Die Sorge um die Umwelt - Franziskus hat da ein sehr schönes Bild entworfen, er sagt, Verantwortliche sollten sich fühlen wie Erbauer der gotischen Kathedralen, die wussten, dass sie den Abschluss ihrer Arbeit nicht mehr erleben würden, trotzdem haben sie alles gegeben…
Schavan: Das ist ein sehr schönes Bild! Sind wir heute noch bereit, Kathedralen zu bauen? Uns an große Dinge heranzuwagen, wohl wissend, dass wir die Vollendung nicht erleben? Dass ein paar Generationen vergehen werden, ehe die Kathedrale tatsächlich in einer Stadt erbaut ist. Ich komme ja aus einer solchen Stadt, Ulm hat den größten Turm der Christenheit, 161 Meter, die Bürger haben damals sich entschieden, dass diese Kathedrale gebaut wird. Ich finde, es ist ein sehr anschauliches Bild, jeder weiß, was eine Kathedrale ist, jeder steht staunend davor, und wenn heutige Generationen diese Kraft nicht mehr haben, dann ist alle Rederei um die Nachhaltigkeit umsonst.
Frage: Für Sie, Frau Schavan, war es in Ihrem Dienst als Botschafterin am Heiligen Stuhl der letzte Neujahrsempfang bei Papst Franziskus, wenn Sie zurückblicken auf dieses zyklische Wiederkehren dieses Empfangs, der ein wichtiger politischer Termin am Heiligen Stuhl ist, wie sieht Ihr Resümee aus?
Schavan: Es ist in jedem Jahr, und es war mein viertes, eine besondere Verbindung. Der Bilderreichtum in den Räumen des Apostolischen Hauses – dabei denke ich vor allem an die Sixtina, die Eindringlichkeit der Worte des Papstes, keinerlei Sprache mit Schnörkel! Keinerlei Sprache, die sich in einem abstrakten oder gar ideologischen Raum bewegt, sondern mit Emphase von dieser Welt spricht. Mit einer Liebenswürdigkeit jenen gegenüber, die Verantwortung tragen. Mit einer Klarheit im Blick auf Zukunft. Alle Erinnerungen an Texte, an Ereignisse der Vergangenheit sind bei Papst Franziskus immer verbunden mit dem Blick nach vorne, mit dem Blick in die Zukunft, eben mit der Aufforderung, seid wieder bereit, Kathedralen zu bauen. Das ist für mich inspirierend gewesen, ermutigend, und das macht diese Zeit in Rom zu einer ganz besonderen Zeit.
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