Kritik an der Markt-Macht: Papst Franziskus ist unbequemer Mahner
Anne Preckel - Vatikanstadt
Es war im Jahr 2008, als sich die US-Immobilien-Krise zu einer handfesten Finanzkrise im globalen Maßstab auswuchs. Ziemlich genau zehn Jahre später hat der Vatikan das Dokument „Oeconomicae et pecuniariae questiones“ (Wirtschafts- und Finanzfragen) veröffentlicht. Der von zwei Vatikan-Behörden in Zusammenarbeit mit externen Fachleuten erarbeitete Text gibt Empfehlungen für mehr Transparenz im Geldwesen und sozialverantwortliches Wirtschaften ab. Die Impulse des Vatikans kämen zum richtigen Zeitpunkt, sagt der Wirtschaftsethiker Johannes Wallacher, Präsident der Hochschule für Philosophie in München, im Interview mit Vatican News.
Vatican News: Das Vatikan-Papier geht auf konkrete Phänomene und Missstände im Bereich der Wirtschaftswelt und des Weltfinanzwesens ein. Die Rede ist etwa von Offshore-Banken und intransparenten Geldgeschäften, von ungerechten Risikolasten und dem Ruin ganzer Länder durch Ausnutzen von Marktvorteilen. Manche Kritiker des Papstes sagen ja, Franziskus solle sich aus Themen wie Wirtschaft und Geldwesen besser raushalten. Was denken Sie: Wie kompetent sind der Papst und seine Berater in diesen Fragen? Und wem treten sie mit ihren Vorschlägen auf die Füße?
Wallacher: Also ich denke, der Papst ist da sehr unbequem. Und ich glaube, dass die vorgeschobene Kritik an einer fehlenden Kompetenz (des Vatikan in diesen Bereichen) Ausdruck davon ist, dass hier jemand (der Vatikan) unbequeme Aussagen gegen bestimmte Praktiken macht. Wenn man Bücher des (international renommierten Finanzfachmanns) Martin Hellweg oder anderen anschaut, findet man ganz ähnliche Analysen und Lösungsvorschläge. Insofern kann man schon sagen, dass die Berater des Papstes, die dieses Papier formuliert haben, auf der Höhe der Zeit in der Analyse und der Problembeschreibung stehen.
Das gleiche gilt im Übrigen auch für die Papst-Enzyklika Laudato si, wo ja manche Leute kritisiert haben, der Papst greife darin zu sehr die Kenntnisse der Klimawissenschaft und die damit verbundenen Machtinteressen auf. Er hat darin ja geschrieben, dass wir bewusst verfälschen und die Wahrheit aus bestimmten Partikularinteressen heraus nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Sich dagegen zu stellen, ist immer unbequem, und damit setzt sich der Papst auch dieser Kritik aus. Ich denke, das nimmt er bewusst in Kauf, weil er es für richtig hält. Und diese Kritik ist nicht in der Sache begründet, sondern es geht dabei um Machtfragen.
Das Wirtschaftspapier des Vatikan ist ein Impuls, der zu einem bestimmten Zeitpunkt kommt: im September jährt sich zum zehnten Mal der Tag, an dem die globale Finanzkrise mit dem Zusammenbruch der US-amerikanischen Großbank Lehman Brothers ihren ersten Höhepunkt erreichte. Das Vatikan-Papier ist ganz bewusst zu diesem Zeitpunkt veröffentlicht worden, um zu zeigen, dass wir eigentlich viel zu wenig aus diesen Problemen gelernt haben. Und dass wir die Probleme weiter verdrängen und dass es nicht so weit ging, dass wir die richtigen Lehren daraus gezogen haben. Wenn sich die Zivilgesellschaft, wenn sich die politische Öffentlichkeit, auf die Impulse des Vatikan bezieht, könnte das ein weiterer Impuls sein, damit wir uns momentan auch wirklich mit diesen Fragen beschäftigen und vor lauter anderen Fragen der Auseinandersetzung - mit Populismus, mit der Flüchtlingsfrage – diese anderen, entscheidenden Fragen nicht vergessen. Denn sonst droht uns möglicherweise die nächste Finanzkrise...
Vatican News: Die Welt habe aus der Finanzkrise von 2008 kaum was gelernt, sagt der Vatikan. Ausbeutung und Spekulationen auf Kosten der Schwächsten seien heute weiter Realität. Die Weltpolitik stehe dem ohnmächtig gegenüber, könne das Gemeinwohl kaum schützen, ja lasse sich in einigen Fällen selbst korrumpieren. Ist das Schwarzmalerei oder würden Sie dem zustimmen?
Wallacher: Ich denke, dass die Analyse durchaus treffend ist. Bemerkenswert an diesem Papier ist, dass es ja nicht allgemein um das Verhältnis von Wirtschaft und Ethik oder die Frage der Soziallehre geht, sondern erstmals eine ganz konkrete einzelne Wirtschaftsbranche in den Blick genommen wird und auf dieser Basis eine ethische Reflektion vorgenommen wird, die in der Tradition der Soziallehre steht, und dass von da aus auch durchaus sehr konkrete Forderungen formuliert werden, die ich bemerkenswert finde.
Vatican News: Hauptgrund für diese Finanzkrise ist laut Vatikananalyse das „unmoralische Verhalten von Exponenten der Finanzwelt“ gewesen, denen es möglich war, die Regeln der einzelnen Länder zu umgehen. Der Heilige Stuhl fordert hier mehr Kontrolle und allgemein mehr Regulierung des globalen Marktes. Wie realistisch ist es, dass es hier tatsächlich internationale Zusammenarbeit geben kann? Und welche Schritte gibt es bereits in diese Richtung, die funktionieren?
Wallacher: Zunächst muss man einmal sagen, dass der Finanzbereich von sich aus dringend eine Regulierung braucht, und das Vatikan-Papier geht darauf sehr stark ein: Es gibt ein systematisches Marktversagen, das in der Asymmetrie der vorhandenen Informationen besteht. Das heißt, Kreditgeber und Kreditnehmer haben immer unterschiedliche Informationen. Und je komplexer das System wird, umso stärker werden diese Ungleichgewichte in der Transparenz der Informationen. Von daher ist Regulierung an sich notwendig, um das auszugleichen. Die Frage nach der Realisierbarkeit ist berechtigt – aber zunächst einmal stellt sich die strikte Notwendigkeit davon, und da kann man sich fragen: Muss das immer sofort global abgestimmt sein oder reicht es nicht, wenn einzelne Länder sich abstimmen, wie zum Beispiel im Fall der Initiativen der EU zur Finanztransaktionssteuer zeigen: Dass das auch durchaus geht, wenn einzelne Staaten willig zusammenarbeiten und vorangehen. Man muss nicht immer darauf warten, dass es einen globalen Konsens in allen Fragen gibt, dann würde man ewig warten.
Vatican News: Der Vatikan fordert eine Trendwende in der Unternehmens- und Finanzkultur in Richtung eines stärker sozial verantwortlichen Wirtschaftens. An die Banken wendet er sich mit dem Aufruf zu mehr Transparenz bei Geldgeschäften. Wird dieser Appell von den Entscheidungsträgern in diesen Bereichen überhaupt gehört?
Wallacher: Da würde ich unterscheiden. Es gibt vielleicht einzelne, die ihn hören. Der Großteil ist aber natürlich interessiert daran, möglichst wenig Regularien in Kauf zu nehmen und dadurch eigene Gewinne zu steigern. Das trifft sich durchaus mit Analysen von Martin Hellweg, dem großen Finanzwissenschaftler, der vor einigen Jahren das Buch „Des Bankers neue Kleider“ veröffentlichte und der genau in diese Richtung geht und sagt: Im Grunde wehren sich die Banken im Großen und Ganzen gegen die Regulierung, weil es ihre Gewinnperspektive untergräbt. Und hier setzt das Vatikanpapier durchaus richtig an, indem es sagt, dass Staaten viel zu langsam sind in der Regulierung, um diesen sogenannten Finanzinnovationen hinterherzukommen. Und insofern ist es wichtig, dass man diesen Wettlauf von Regulierungsversuchen des Staates und immer neuen Finanzprodukten, die diese Regulierung unterlaufen grundlegend überdenkt – und auch dazu macht das Vatikanpapier ja Vorschläge, indem es zum Beispiel so etwas wie einen Finanzmarkt-TÜV für Finanzprodukte vorschlägt.
Vatican News: Ethik und Wirtschaft darf man nicht trennen, sagt der Papst, ja er sagt: Wenn ein Wirtschaftssystem funktioniert, hat es eine Ethik. Zahlt sich sozial verantwortliches Wirtschaften in diesem Sinne aus? Ist es langfristig erfolgreicher als ein Wirtschaften, das allein die Profitsteigerung ins Zentrum stellt?
Wallacher: Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt. Das Vatikan-Papier bringt das Bild eines großen Organismus, also ein altes Bild, der Wirtschaftskreislauf als Organismus, wo es in den Venen Lebenssaft gibt, in denen gewaltige Mengen von Kapital fließen, heißt es im 19. Abschnitt. Es heißt da aber auch weiter, dass dieser Organismus gesund sein muss, dass alle Teile davon entsprechend auch profitieren müssen und dass nicht einzelne als Parasiten auftreten und die Gesamtfunktionsweise dieses Organismus aushöhlen. Insofern ist es wichtig, dass dieser Organismus, und da würde man den Begriff des Gemeinwohls einsetzen, wirklich langfristig denkt und dazu braucht es entsprechende Regulierungsmechanismen und natürlich auch ein Bewusstsein der Finanzmarktakteure, dass sie ihre Partikularinteressen auf Dauer nicht über das Gemeinwohl stellen dürfen.
Vatican News: Auch das Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft wird im Vatikan-Papier thematisiert. Politiker sollten ihrer Aufgabe stärker nachkommen, das Gemeinwohl zu schützen und die Beteiligung aller Bürger an Fortschritt und Wachstum zu garantieren statt Interessen der Wirtschaft den Vorrang zu geben, findet der Vatikan. Auch von unguten Verstrickungen ist hier die Rede… Was für ein Bild der Politik wird da gezeichnet?
Wallacher: Zunächst einmal das Bild einer Politik, die zu langsam reagiert auf die hohen Innovationspotentiale in diesem Bereich. Und deswegen ist es wichtig, dass es entschiedenere Maßnahmen gibt, die im Grunde zum einen die Geschwindigkeit der sogenannten Innovation herausnehmen und dann wirklich auch die Transparenz der Aktionen sichern – das ist, glaube ich, ein wichtiger Punkt. Hier wird man in einer nachholenden Regulierung, und wir haben im Grunde seit den 70er, 80er Jahren eine totale Deregulierung der Finanzmarktbeziehungen gehabt unter dem Stichwort: „Wir wollen die Effizienz der Märkte steigern.“ Und wir merken, dass diese Effizienz schon im Hinblick auf ein Gemeinwohl nicht existiert und zu Risiken führt, die vor allem für die Schwächeren, die Gemeinschaft, kaum tragbar sind. Insofern muss der Staat hier sehr viel stärker Verantwortung übernehmen, indem man zum Beispiel auch die Steuerumgehung oder die Geldwäsche auf Offshore-Märkten auch reguliert. Das könnten einzelne Länder durchaus machen, indem deren Jurisdiktion solche Offshore-Märkte sehr viel stärker kontrolliert. Dann würden diese Mechanismen verlangsamt werden.
Vatican News: Hart ins Gericht geht das Vatikan-Dokument mit Praktiken, die „ganze Länder“ und „Millionen von Familien“ in den Ruin stürzen. „Das Ausnutzen von Asymmetrie zu eigenen Gunsten, um beträchtliche Profite zum Schaden anderer anzuhäufen“, sei moralisch verwerflich. Wie verstehen Sie diese Kritik?
Wallacher: Die Asymmetrie bezieht sich eben nicht nur auf die Informationen, sondern auch auf den Einfluss und die Macht, bestimmte Praktiken zu eigenen Gunsten zu tätigen. Und wenn wir heute zum Beispiel über die Frage des Abziehens von Geldern aus korrupten Regimen sprechen, dann bilden die Kehrseite dieser Medaille immer diese Möglichkeiten der Geldwäsche auf solchen Offshore-Märkten. Insofern muss man die dringend schließen, um die Korruptionspraktiken in vielen Ländern auch abstellen zu können. Ich denke, dass das Vatikan-Papier (mit dem Verweis auf den Ruin ganzer Länder) vor allem daran ansetzt.
Die Fragen stellte Anne Preckel.
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