Bei der Krönung von Papst Pius XII. im Jahr 1939 Bei der Krönung von Papst Pius XII. im Jahr 1939 

Historiker: „Zu Pius und dem Holocaust wird man nichts spektakulär Neues finden"

Über die Frage Pius XII. und Holocaust wird sich nach der Öffnung der vatikanischen Archive wohl nichts spektakulär Neues finden lassen, es ergibt sich aber die Chance, ein breites Bild der Positionen nicht nur des Papstes, sondern auch des Vatikans zu vielen Themen zu erforschen. Das sagt im Gespräch mit uns Martin Baumeister, der Leiter des Deutschen Historischen Instituts in Rom.

Gudrun Sailer - Vatikanstadt

Am Montag hatte Papst Franziskus angekündigt, in einem Jahr alle vatikanischen Archive für den Zeitabschnitt des Pontifikats Pius XII. (1939-1958) für die Forschung freizugegeben.

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Martin Baumeister: „Das ist eine sehr gute Nachricht für die Historiker und Historikerinnen, die allerdings schon lange darauf gewartet haben. Zum Teil waren die Bestände meiner Kenntnis nach durchaus schon vor einiger Zeit bereit, der Forschung zugänglich gemacht zu werden. Was ich für besonders positiv erachte, ist, dass jetzt nicht nur die Bestände des Geheimarchivs zugänglich gemacht werden, auf die sich die Aufmerksamkeit in der Regel ganz massiv konzentriert, sondern die Bestände verschiedener vatikanischer Behörden, Staatssekretariat, Propaganda Fide etc. Und hier ergibt sich die Möglichkeit, ein breites Bild der Position nicht nur des Papstes, sondern auch des Vatikans in bestimmten Kontexten zu gewinnen.”

„Als Historiker bin ich nicht daran interessiert, Heiligsprechungsverfahren zu bedienen“

Vatican News: Bisher konzentriert sich die historische Forschung zu Pius XII. auf seine Rolle im Zweiten Weltkrieg. Die große Polemik lautet, der Papst habe zum Holocaust geschwiegen; zugleich hat er Tausende Juden und andere Verfolgte in aller Stille geschützt. Gibt es heute, Stand 2019, aus Ihrer Sicht so etwas wie eine ausgewogene Forschung zu Pius XII. in dieser Frage?

Martin Baumeister: „Es gibt immer den Versuch, am Papst sozusagen als Symbolfigur das Versagen der christlichen Kirchen in der Situation der Judenverfolgung und –vernichtung zu personifizieren. Dafür gibt Pius sicher manches her; allerdings, würde ich sagen, ist das eine auch enorme Überschätzung und birgt die Gefahr der ausschließlichen Fokussierung. Der Papst ... wird sozusagen überlastet. Als Historiker bin ich nicht daran interessiert, Heiligsprechungsverfahren zu bedienen. Ich bin als Historiker auch nicht daran interessiert, das Gegenteil zu machen, also zu denunzieren, sondern ich möchte erklären. Das ist tatsächlich ein sehr komplexes Feld, und Pius macht da insgesamt nach den vorliegenden Befunden keine strahlende Figur, das ist überhaupt keine Frage.

Es ist sicher eine Möglichkeit der Versachlichung geboten, noch mal ins Archiv zu gehen - und dabei nicht im Sinne der Suche nach Sensationsdokumenten, sondern der Überprüfung von altvertrauten Thesen vorzugehen. Doch ich glaube, in der Frage der Einstellung von Pius zur Judenverfolgung, zum Holocaust wird man nichts spektakulär Neues finden. Es geht eher darum, nochmals den Kontext auszuleuchten. Es geht eher darum, die katholische Kirche in ihrer Widersprüchlichkeit und auch in ihren unterschiedlichen Positionen, die eben nicht nur über den Papst allein abgebildet werden, in den Blick zu nehmen, und dazu bietet ja die Öffnung der Archivbestände jenseits des vatikanischen Geheimarchivs (also den Akten des jeweiligen Papstes) eine gute Möglichkeit.“

„Haltung des Vatikans in der frühen Nachkriegszeit bisher kaum erforscht“

Vatican News: Was kann man sich nun konkret an neuen Forschungsergebnissen über diese Dokumente erwarten, die auch die Zeit des Zweiten Weltkriegs abdecken? Ist nicht durch die elfbändige Sammlung „Actes es documents du Saint Siège“ schon alles Wichtige veröffentlicht worden?

Martin Baumeister: „Nein, das ist sicher eine sehr gute Quellenauswahl, die für bestimmte Fragen Auskunft gibt, aber natürlich nie die Breite der Aktivitäten und Nuancen auch von Entscheidungsprozessen, von Kommunikation, von politischen Weichenstellungen, die über den Vatikan liefen, erfassen kann. Das konnte die Kommission, die diese Edition erstellt hat, gar nicht leisten, und man darf sich zunächst auch keine großen Sensationen erwarten. Meine Meinung ist ohnehin, dass die Öffnung vor allen Dingen besonders interessant ist für die Epoche, die meiner Kenntnis nach bisher kaum Interesse hervorgerufen hat: für die Zeit des Übergangs vom totalen Krieg, vom Zweiten Weltkrieg, in die Nachkriegsordnung, in die Zeit des Kalten Krieges. Da hat der Vatikan bekanntermaßen noch einmal eine ganz neue, auch internationale politische Aufwertung erfahren, in der der Vatikan eine besondere Rolle einnimmt, gerade auch gegenüber dem dann entstehenden Ostblock.“

Vatican News: Und für die Zeit des Zweiten Weltkrieges?

Martin Baumeister: „Für die Zeit des Zweiten Weltkrieges gibt es meiner Kenntnis nach durchaus noch Perspektiven, etwa in der Wahrnehmung, in der Beobachtung, in den Aktivitäten von päpstlicher Seite, von Vatikanseite gegenüber der Sowjetunion, gegenüber den nichtkatholischen, also den orthodoxen Kirchen. Da sind meines Erachtens noch viele Fragen zu beantworten, und die vatikanischen Dokumente erlauben hier sicherlich neue Erkenntnisse.“

Info

Das „Deutsche Historische Institut“ (DHI) in Rom ist 1888 gegründet worden. Den Impuls dazu lieferte die Öffnung des vatikanischen Geheimarchivs 1881 durch Papst Leo XIII., ein Akt, der die historische Forschung europäischer Nationen umgehend in eine Art Goldrausch versetzte. Das Privatarchiv der Päpste („Geheimarchiv“) gilt als bedeutendstes Archiv der Welt. Zeitgleich mit dem DHI entstand in der Papststadt auch das Römische Institut der Görresgesellschaft als katholisch inspirierte Forschungseinrichtung und Gegenstück zum evangelisch geprägten DHI. Etwas früher hatten bereits Österreich und Frankreich ihre nationalen historischen Institute in Rom gegründet. 

(vatican news)

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05. März 2019, 13:25