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Generalaudienz: Die Katechese im Wortlaut

Vatican News dokumentiert an dieser Stelle die Katechese des Papstes im Wortlaut in einer Arbeitsübersetzung. Wie üblich können Sie diese und alle anderen Ansprachen und Predigten des Papstes in der offiziellen Übersetzung auf www.vatican.va nachlesen.

Liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!

Die Pandemie hat uns gezeigt, wie verwundbar wir sind und wie sehr wir alle einander bedürfen. Wenn wir uns nicht umeinander kümmern und dabei das Wohl der Ärmsten, der am meisten Betroffenen, der gesamten Schöpfung nicht im Blick haben, können wir die Welt nicht heilen.

Lobenswert ist das Engagement so vieler Menschen, die in diesen Monaten trotz der Gefahr für die eigene Gesundheit menschliche und christliche Nächstenliebe gezeigt und sich der Kranken angenommen haben. Das sind wirklich Helden! Das Coronavirus ist aber nicht die einzige Krankheit, die bekämpft werden muss: Die Pandemie hat nämlich noch andere – soziale – Krankheiten ans Licht gebracht. Eine davon ist eine verzerrte Sicht auf den Menschen, die seine Würde und seine relationale Natur ignoriert. Manchmal betrachten wir die anderen als Objekte, die man benutzen und wegwerfen kann. In Wahrheit aber blendet uns diese Sicht und bringt eine individualistische, aggressive Wegwerfkultur hervor, die den Menschen zu einem Konsumgut macht (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 53; Enz. Laudato si', 22). 

Gemeinschaft und Harmonie 

Im Licht des Glaubens wissen wir jedoch, dass Gott Mann und Frau mit einem anderen Blick betrachtet. Er hat uns nicht als Objekte geschaffen, sondern als Personen, die nach seinem Bild, ihm ähnlich (vgl. Gen 1,26), zur Liebe bestimmt sind; dazu, geliebt zu werden und zu lieben. Auf diese Weise hat er uns eine einzigartige Würde verliehen. Eine Würde, die uns einlädt, im Respekt vor der ganzen Schöpfung in Gemeinschaft mit ihm und unseren Brüdern und Schwestern zu leben. In Gemeinschaft und Harmonie, könnte man sagen. Die Schöpfung ist eine Harmonie, in der zu leben wir berufen sind. Und in dieser Gemeinschaft, einer Harmonie, die Gemeinschaft ist, gibt uns Gott die Fähigkeit, uns fortzupflanzen und das Leben auf der Erde zu bewahren (vgl. Gen 1,28-29), den Boden zu bearbeiten und die Erde zu hüten (vgl. Gen 2,15; LS 67). Es ist klar, dass man ohne Harmonie sich nicht fortpflanzen und das Leben bewahren kann. Es wird dann zerstört.

Ein Beispiel für einen individualistischen Blick, der keine Harmonie ist, finden wir in den Evangelien: in der Bitte, die die Mutter der Jünger Jakobus und Johannes an Jesus richtet (vgl. Mt 20,20-28). Sie möchte, dass ihre beiden Söhne rechts und links neben dem neuen König sitzen dürfen. Aber Jesus schlägt eine andere Sicht vor: die des Dienstes und der Hingabe des eigenen Lebens für andere. Und er bestätigt sie, indem er zwei blinden Männern das Augenlicht wiedergibt und sie zu seinen Jüngern macht (vgl. Mt 20,29-34). Im Leben nach oben zu drängeln, größer sein zu wollen als die anderen, zerstört die Harmonie. Es ist die Logik der Herrschaft, der Wunsch, andere zu dominieren. Harmonie ist etwas anderes: sie bedeutet Dienst.
Bitten wir den Herrn daher um einen aufmerksamen Blick für unsere Brüder und Schwestern, besonders für jene, die leiden. Als Jünger Jesu wollen wir nicht gleichgültig und individualistisch sein, zwei hässliche Verhaltensweisen, die sich gegen die Harmonie richtet. Gleichgültigkeit bedeutet: Ich schaue nur von einer bestimmten und individualistischen Seite „nur für mich“, ich achte nur auf meinen eigenen Vorteil. Die von Gott geschaffene Harmonie verlangt von uns, auf die anderen zu blicken, auf ihre Bedürfnisse und Probleme, und in Gemeinschaft mit ihnen zu treten. Wir wollen die Würde eines jeden Menschen anerkennen, unabhängig von seiner Rasse, Sprache oder Position. Die Harmonie lässt dich die menschliche Würde anerkennen, diese von Gott geschaffene Harmonie, nicht wahr? Der Mensch im Mittelpunkt!  

Der Mensch ist ein soziales Wesen

Das Zweite Vatikanische Konzil betont, dass diese Würde unveräußerlich ist, weil sie „nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde“ (Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, 12). Sie ist die Grundlage allen sozialen Lebens und bestimmt dessen Funktionsprinzipien. In der modernen Kultur kommt das Prinzip der unveräußerlichen Würde der Person am deutlichsten in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ zum Ausdruck, die der heilige Johannes Paul II. als „Meilenstein auf dem langen und schwierigen Weg der Menschheit“ (Ansprache an die UN-Vollversammlung, 2. Oktober 1979, Nr. 7), und als „eine der höchsten Ausdrucksformen des menschlichen Gewissens“ bezeichnet hat (Ansprache an die UN-Vollversammlung, 5. Oktober 1995, Nr. 2). Rechte sind nicht nur individueller, sondern auch sozialer Art, sie betreffen Völker und Nationen (vgl. Kompendium der Soziallehre der Kirche, Nr. 157). Der Mensch ist in seiner persönlichen Würde nämlich ein soziales Wesen, geschaffen nach dem Bild des dreieinigen Gottes. Wir sind auf Gemeinschaft angelegt, wir müssen in dieser gemeinschaftlichen Harmonie leben, aber wenn Egoismus herrscht, schauen wir nicht auf die anderen, auf die Gemeinschaft, sondern wir bleiben bei uns selbst. Das macht uns zu hässlichen, bösen, egoistischen Menschen. Es zerstört die Harmonie.

Dieses erneuerte Bewusstsein für die Würde eines jeden Menschen hat konkrete soziale, wirtschaftliche und politische Auswirkungen. Wenn man seinen Nächsten und die ganze Schöpfung als etwas betrachtet, das man als Liebesgeschenk des Vaters erhalten hat, dann löst dies Aufmerksamkeit, Fürsorge und Staunen aus. Der Gläubige, der seinen Nächsten als Bruder und nicht als Fremden sieht, bringt ihm Mitgefühl und Einfühlungsvermögen entgegen, und nicht Verachtung oder Feindschaft. Und wenn er die Welt im Licht des Glaubens betrachtet, dann wird er – mit Hilfe der Gnade – darum bemüht sein, seine Kreativität und seinen Enthusiasmus dafür einzusetzen, die Dramen der Geschichte zu lösen. Und dann begreift er seine Fähigkeiten als Verantwortung, die seinem Glauben erwachsen (ebd.); als Gaben Gottes, die in den Dienst der Menschheit und der Schöpfung gestellt werden müssen. 

Gegen die Gleichgültigkeit

Während wir alle daran arbeiten, einen Virus zu besiegen, der unterschiedslos jeden befällt, drängt uns der Glaube dazu, der Gleichgültigkeit entgegenzutreten, mit der Verletzungen der Menschenwürde oft bedacht werden. Die Kultur der Gleichgültigkeit, die die Wegwerfkultur begleitet. Der Glaube verlangt immer, dass wir uns von unserem Individualismus – sowohl persönlicher als auch kollektiver Art – heilen und bekehren lassen, einem einseitigen Individualismus beispielsweise.

Möge uns der Herr „das Augenlicht wiedergeben“, damit wir wiederentdecken, was es bedeutet, Teil der Menschheitsfamilie zu sein. Und möge sich dieser Blick in konkrete Taten des Mitgefühls und des Respekts für jeden Menschen umsetzen und uns Sorge tragen lassen für unser gemeinsames Haus.

(vaticannews - Übersetzung: S. Kritzenberger)
 

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12. August 2020, 11:15