Vatikan: Vor 95 Jahren kamen die ersten Akademikerinnen
Gudrun Sailer - Vatikanstadt
Es begann mit einer Amerika-Reise 1927. Fast drei Monate lang zog Eugène Tisserant durch die wichtigsten Bibliotheken der Vereinigten Staaten. Nicht zum Lesen, obwohl es ihn sehr gereizt hätte. Der französische Priester und Orientalist, Hausgelehrter („Skriptor“) an der Vatikan-Bibliothek und gesegnet mit einem wachen Interesse an Innovationen, sollte die gewaltigen Neuerungen im Bibliothekswesen sichten, die in Nordamerika Fuß gefasst hatten.
Zurück kam Tisserant mit dem Plan, auch die altehrwürdige Vatikanbibliothek nutzerorientiert auszurichten: Katalog, Auskunftsdienst, flotter Bestellvorgang, gutgeordnetes Magazin, großzügiger Lesesaal. Eine sichere Verwahranstalt für seltene Bücher und Handschriften und Zugang für Gelehrte wie bisher - das auch. Und zugleich mehr. Tisserant wollte für die „Vaticana“ Nutzbarkeit, den Quantensprung in die Moderne einer jeden Bibliothek.
Frauen als Bibliothekarinnen: Avantgarde USA
Was der hochgebildete Priester in Amerikas Bibliotheken ebenfalls registriert hatte, waren Frauen. Studierte Frauen, die als Bibliothekarinnen arbeiteten. So etwas kannte man im Vatikan nicht. Doch 1929 war das Jahr der Innovationen im Vatikan. Die Lateranverträge garantierten dem Papst die territoriale Unabhängigkeit von Italien und sorgten für einen Bauboom und einen Innovationsschub, wie man ihn im Vatikan zuletzt in der Renaissance gesehen hatte. Neuerungen ganz nach dem Geschmack des Gelehrtenpapstes Pius XI.; Achille Ratti war in jüngeren Jahren selbst Präfekt der Vatikanbibliothek gewesen. Jetzt sagte er „Ja“ zu all den Änderungen und „Ja“ zu den ersten „signorine“ – so wurden sie genannt – an seiner sich modernisierenden Bibliothek. Die erste Akademikerin, die im Vatikan andockte, war die französische Mediävistin Jeanne Odier am 1. Oktober 1929.
„Alles in allem kommen wir auf 24 Frauen“, resümiert Raffaella Vincenti, seit 2012 erster weiblicher Sekretär der Vatikan-Bibliothek. „Sie wurden im Lauf der Jahre engagiert und arbeiteten am Handschriftenkatalog. Wir wissen, dass die meisten an der römischen Sapienza-Universität ihre Abschlüsse gemacht hatten, einige auch an der vatikanischen Schule für Paläografie." Eine Institution, die Papst Leo XIII. im Jahr 1884 eröffnet hatte, damals zur Ausbildung junger Priester.
Die Stiftung aus den USA half
Aus den Vereinigten Staaten kam auch der Sponsor, der schon für Tisserants Übersee-Reise maßgeblich gewesen war. Die heute noch operierende Denkfabrik „Carnegie Endowment for International Peace“, gegründet 1910 von dem Stahl-Magnaten Andrew Carnegie, half beim Wiederaufbau in Europa nach dem Ersten Weltkrieg. „Die Stiftung unterstützte gezielt kulturelle Aktivitäten, denn diese galten als Dreh- und Angelpunkte für den Wiederaufbau“, erklärt Raffaella Vincenti. Besonderes Potential sahen die Amerikaner in der Modernisierung der „Vaticana“ mit ihrer Ausstrahlung auf Europas Gelehrtenwelt. Dass Bibliothekarinnen in den Staaten keine Seltenheit mehr waren, mag mit ein Grund dafür gewesen sein, dass die amerikanischen Stiftungsgelder in der Bibliothek der Päpste nun erstmals auch qualifizierten Frauen zugute kamen. Sie hatten die Ausbildung, sie leisteten solide Arbeit.
„Ausgewählt wurden sie, weil sie Expertinnen auf dem Gebiet der Handschriften und der Paläographie waren“, unterstreicht Raffaella Vincenti. „Die Aufgabe dieser Frauen war es, die Handschriften zu beschreiben und zu katalogisieren. Darüber hinaus erstellten sie ein Regelwerk, das die Einheitlichkeit der Erfassung gewährleisten sollte.“ Das war anspruchsvolle Bibliotheksarbeit. In den Händen der Frauen lag immerhin die bibliothekarische Erschließung der größten Handschriftensammlung der Welt.
Arbeitende Frauen im faschistischen Italien
Im umgebenden Italien hatten Akademikerinnen erst zögerlich den Weg in die Berufswelt gefunden. Die meisten promovierten Frauen in den geisteswissenschaftlichen Fächern wurden Lehrerinnen, fast nie gelang einer Frau in den faschistischen 20er- und 30-er Jahren eine Laufbahn als Universitätsprofessorin. Obwohl der Faschismus ein konservatives Frauenbild propagierte – Mussolini bezeichnete in einer berüchtigten Streitschrift 1934 die berufstätige Frau und die Maschine als die beiden größten Bedrohungen italienischer Männer -, setzte sich in den Familien langsam der Gedanke durch, dass eine Tochter mit Universitätsabschluss besser versorgt wäre, falls sie unverheiratet bliebe. So stieg die Zahl der Studentinnen an Universitäten im Faschismus rasant, in absoluten wie in relativen Zahlen. Und hie und da fand eine Frau mit Doktortitel in Italien eine Stelle in einer Antiken-Aufsichtsbehörde, einem Archiv oder einer Bibliothek. Akademikerinnen in der benachbarten „Vaticana“ waren deshalb eine Innovation, aber keine Revolution - in bewährter kirchlicher Manier.
Eine neue Generation von Frauen im kirchlichen Dienst
Eine Anstellung erhielten die zwei Dutzend „signorine“ an der Vatikanbibliothek nicht, sie arbeiteten auf Stundenbasis. Sie waren auch nicht „die ersten Frauen im Vatikan“: Dieser Primat gebührt nach allem, was die vatikanischen Akten hergeben, der Näherin Anna Pezzoli 1915, und bekannt ist auch, dass Ordensschwestern im Vatikan seit den 1920er-Jahren die Teppichrestaurierungswerkstatt der Museen betrieben. Doch Jeanne Odier und ihre Kolleginnen waren die ersten Akademikerinnen im Papststaat. Sie standen für eine neue Generation von Frauen im kirchlichen Dienst, und ihr Beispiel machte rasch Schule. Fünf Jahre später nahm an den Vatikanischen Museen die deutsch-jüdische Archäologin Hermine Speier ihren Dienst als Fotothekarin auf, auch sie zunächst trotz aller Qualifikation nur als „feste freie Mitarbeiterin“. Im Gegensatz zu den Kolleginnen in der Bibliothek blieb Hermine Speier aber lange genug, um 1964 als mutmaßlich erste Frau im Vatikan eine Festanstellung einschließlich Pensionsanspruch zu erringen.
Die Epoche der ersten Akademikerinnen an der „Vaticana“ lief 1941 aus. Schon 1939 mit dem Wechsel von Pius XI. zu Pius XII. deutet sich ein Umschwung an. Adriana Marucchi, die 1934 bis 1939 zur Gruppe der 24 gehörte, gab zu Protokoll, der Pacelli-Papst habe die Vorstellung, dass Frauen an der Vatikanbibliothek arbeiteten, weniger geschätzt. Eine Rolle spielte in jedem Fall die Kriegserklärung Italiens und Deutschlands an die USA von 1941, so Raffaella Vincenti. Die Kommunikation brach ab, und Prioritäten im Vatikan wie auch in der amerikanischen Stiftung änderten sich.
Heute hat die Vatikan-Bibliothek knapp 100 Angestellte, „davon mehr als die Hälfte Frauen, und auch die meisten unserer Abteilungen haben Frauen an der Spitze“, so die Führungskraft. Archivar und Bibliothekar der Heiligen Römischen Kirche, Präfekt und Vizepräfekt sind Männer, aber die Abteilungen für Handschriften, für Druckwerke, für Restaurierung, für Reproduktionen, für EDV und eben auch das Sekretariat, in dem alle Fäden zusammenlaufen, liegen in Frauenhand. „Dies ist sicherlich darauf zurückzuführen“, sagt Raffaella Vincenti, „dass Frauen in den Geisteswissenschaften stärker vertreten sind und dies daher eine objektive Situation widerspiegelt.“ Die Berufung der ersten Akademikerinnen im Vatikan im Schwung der Modernisierung der Bibliothek vor 95 Jahren war nur der Anfang.
(vatican news – gs)
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