Suche

In einem Krankenhaus des Roten Kreuzes in der afghanischen Hauptstadt Kabul, Anfang Dezember 2024 In einem Krankenhaus des Roten Kreuzes in der afghanischen Hauptstadt Kabul, Anfang Dezember 2024  (ANSA)

75 Jahre und noch mehr: So entstand das humanitäre Völkerrecht

Im ablaufenden Jahr 2024 war, aus verschiedenen Gründen, immer wieder vom humanitären Völkerrecht die Rede. Das Herzstück dieses humanitären Völkerrechts hat in diesem Jahr 75. Geburtstag gefeiert.

Stefan von Kempis – Vatikanstadt

Die Rede ist von den Genfer Konventionen, einer Reihe von bis heute weltweit gültigen Abkommen, die nicht nur Staaten, sondern Konfliktparteien überhaupt binden. „Und ich denke, 75 Jahre sind auch eine Möglichkeit, dass man sich wieder bewusst wird, dass es diese Konvention gibt. Dass man das Engagement erneuert, diese Konvention auch einhalten zu wollen, und dann auch diese durchsetzt.“

Das sagt die Schweizer Botschafterin beim Heiligen Stuhl, Manuela Leimgruber, in einem Interview. Die studierte Juristin, die auch schon an der schweizerischen Botschaft in Israel tätig war, vertritt die Eidgenossenschaft seit einem Jahr beim Vatikan. „Das humanitäre Völkerrecht ist für die Schweiz eine außenpolitische Priorität…”

Ein Unternehmer auf dem Schlachtfeld

Und das liegt vor allem an der Entstehungsgeschichte der Genfer Konventionen. Noch genauer: an Henry Dunant. „Also zuerst einmal vielleicht Henry Dunant ist sicher ein Kind Genfs. Er wurde geprägt vom christlichen, calvinistischen Genf. Er wurde auch geprägt vom humanistischen Genf und dem sozialen Engagement seiner Eltern. Und er wurde geprägt vom wirtschaftlichen und weltoffenen Genf.”

Die Botschafterin im Jahr 2023 bei Papst Franziskus
Die Botschafterin im Jahr 2023 bei Papst Franziskus

Dunant, geboren 1828, ist Unternehmer. Ein Geschäft in Algerien droht ihn finanziell zu ruinieren; um es zu retten, bemüht er sich um Kontakt zum französischen Kaiser Napoleon III. Dieser ist gerade in Norditalien in kriegerische Auseinandersetzungen mit Österreich verwickelt und besiegt die Österreicher in der Schlacht von Solferino 1859. Henry Dunant reist dem Kaiser hinterher.

„Er kam also als Handelsreisender nach Solferino und hat dieses Gemetzel gesehen; er wurde Zeuge dieser vielen Personen, die im Sterben lagen oder stark verwundet auf diesem Schlachtfeld lagen, und das hat ihn unglaublich geprägt. Also hat er vor Ort noch Hilfe organisiert, hat mit der lokalen Bevölkerung da Hilfe geleistet – und es war immer klar, dass die Hilfe absolut unabhängig von der Nationalität gewährt werden soll. Also dieses Prinzip der Neutralität, der Hilfe: Die Opfer haben in dem Moment keine Nationalität, sondern sie sind Opfer. Und da wurde auch dieser Begriff geprägt ‚Tutti Fratelli‘ - alle Brüder.“

Auf eigene Kosten gedruckt

„Fratelli tutti“ war auch der Titel einer Enzyklika von Papst Franziskus vom Oktober 2020. Auch wenn der Papst sich für den Titel konkret auf ein Zitat des hl. Franz von Assisi bezog, schwingt in dem Text doch die Geschichte von Henry Dunant durchaus mit.

Genf ist Sitz vieler internationaler Organisation - hier ein Blick in den Tagungsraum des UNO-Menschenrechtsrats
Genf ist Sitz vieler internationaler Organisation - hier ein Blick in den Tagungsraum des UNO-Menschenrechtsrats

„Und diese Erfahrungen von Solferino haben ihn dann veranlasst, eine eigene Schrift zu verfassen: ‚Souvenir de Solferino‘, ‚Eine Erinnerung an Solferino‘. Darin hat er vorgeschlagen, dass nationale Institutionen geschaffen werden. Heute haben wir diese; sie heißen bei uns Rotes Kreuz. Deutschland hat ein Rotes Kreuz, die Schweiz hat ein Rotes Kreuz… Also, dass Gesellschaften in den verschiedenen Staaten geschaffen werden, um Verwundete zu pflegen.“

Dunant lässt seine Schrift über Solferino 1862 auf eigene Kosten drucken; sie erfährt sofort ein starkes internationales Echo; Victor Hugo und Charles Dickens sind unter den Befürwortern. Ein Komitee, dem Dunant angehört, beruft für den Oktober 1863 eine internationale Konferenz nach Genf ein, zu der Vertreter von 16 Staaten anreisen. „Dieses Komitee ist die Geburtsstunde des humanitären Völkerrechts und des IKRK, also des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes. Die Schweiz hat anschließend, gestützt auch auf die Arbeiten dieses Komitees, eine diplomatische Konferenz organisiert.“

Ein Interview unseres Partnersenders ktv mit Frau Leimgruber
Zur Entstehung des humanitären Völkerrechts: Die schweizerische Botschafterin Leimgruber im Gespräch mit Radio Vatikan

Eine Idee, deren Zeit gekommen ist

Bei dieser Konferenz in Genf sind zwölf Staaten vertreten; die Vorschläge Dunants haben sehr schnell Kreise gezogen. Vielleicht, weil es eine Epoche vieler kriegerischer Auseinandersetzungen ist und sich die Frage des Umgangs mit Verwundeten deshalb besonders drängend stellt. „Die erste Genfer Konvention wurde 1864 verabschiedet, also vor 160 Jahren. Da ging es um die Verwundeten, und es ging um das Emblem des Internationalen Roten Kreuzes. Also, Genf und das IKRK und auch die Neutralität: Das ist mit der Schweiz verbunden – und somit auch das humanitäre Völkerrecht.“

Dunant gerät in finanzielle Turbulenzen, wird bei den Initiativen, die auf seine Ideen zurückgehen, immer mehr ins Abseits gedrängt und lebt schließlich in Armut – bis er 1901 den zum ersten Mal überhaupt verliehenen Friedensnobelpreis erhält. Erbin seines Engagements ist heute vor allem die Schweiz. 

„Die Neutralität hilft der Schweiz, ein glaubwürdiger Partner zu sein, und gibt der Schweiz die Möglichkeit, zum Beispiel diplomatische Konferenzen zu organisieren, wie das schon im 19. Jahrhundert gemacht wurde. Außerdem hat das IKRK den Sitz in Genf; das Emblem des IKRK ist eigentlich die Umkehrung der Schweizer Flagge. Und die Schweiz ist Depositarstaat der Genfer Konventionen, auch jener aus dem 19. Jahrhundert. Die Originalschriften mit den Originalunterschriften werden bei uns im Bundesarchiv aufbewahrt.“

In der DNA der Schweizer

Die Botschafterin ist stolz auf die besondere Verbindung ihres Landes zum humanitären Völkerrecht. „Ja, ich glaube, das ist wirklich etwas, was in unserer DNA ist!“ Es hat auch etwas mit diesem humanitären Völkerrecht zu tun, dass im 20. Jahrhundert die frostigen Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Heiligen Stuhl allmählich aufgetaut sind. Es ging um Verwundete im Ersten Weltkrieg.

Schützengraben im Ersten Weltkrieg
Schützengraben im Ersten Weltkrieg

„Das waren stark verwundete Gefangene; vor allem deutsche und französische Staatsbürger. Die Schweiz hat sich seit 1914 dafür eingesetzt, dass sie Hilfe bekommen, und hat mit Deutschland und Frankreich zusammen verhandelt - ohne Erfolg. Der Heilige Stuhl hat sich dann angeschlossen, und mit vereinten Kräften ist es schließlich gelungen, dass erste Transporte von der Schweiz organisiert werden konnten, um diesen schwerstverwundeten Gefangenen Hilfe anzubieten… Für diese Verwundeten gab es dann Regeln, und die haben sich natürlich sehr stark an die erste Genfer Konvention angelehnt.“

Wie sich die Schweiz und der Vatikan wieder näherkamen

Die Verhandlungen gingen allerdings weiter, wobei die Schweiz und der Vatikan mal gemeinsam auftraten, mal getrennt voneinander. Es ging vor allem um die Frage, was man für Kriegsgefangene tun konnte, die an Tuberkulose erkrankt waren.
„Diese Personen kamen dann in die Schweiz und wurden vor allem in den Bergregionen stationär behandelt, weil das gut für Tuberkulosekranke ist. Und diese gemeinsame Arbeit hat die Schweiz und den Heiligen Stuhl auch wieder einander nähergebracht.“

1920 eröffnet der Heilige Stuhl seine Nuntiatur in Bern. Für Rom ist das eine Gelegenheit, das Entstehen und Wachsen des humanitären Völkerrechts aus der Nähe mitzuverfolgen. „Die Genfer Konventionen waren ja am Anfang nur für Verwundete. 1929 wurde die zweite Genfer Konvention verabschiedet, und da ging es dann auch um andere Aspekte, insbesondere um die Gefangenen. Ich kann mir vorstellen, dass die Arbeiten der Beiden während des Ersten Weltkrieges, die ganzen Verhandlungen und die Ergebnisse dieser Verhandlungen, da auch eingeflossen sind.“

1949, also nach dem Zweiten Weltkrieg, werden die bisherigen Genfer Konventionen überarbeitet, ergänzt, in eine neue Fassung gebracht. In dieser Form sind sie heute noch gültig - darum die 75-Jahr-Feier, auch wenn das humanitäre Völkerrecht und die Genfer Konventionen, wie wir gesehen haben, eigentlich viel älteren Datums sind.

Manuela Leimgruber lobt die Art und Weise, wie sich der Vatikan heute zum Erbe des Henry Dunant stellt. „Papst Franziskus ruft regelmäßig zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts auf, und zwar alle Kriegsparteien. Der Heilige Stuhl ist auch sehr aktiv; seine Vertretung in Genf setzt sich stark für das humanitäre Völkerrecht ein und hat auch viel Knowhow in diesem Bereich.“

Das Gespräch mit der Schweizer Botschafterin Manuela Leimgruber führte Claudia Kaminski.

(vatican news – sk)
 

Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.

19. Dezember 2024, 13:22