Adveniat-Expertin für Nicaragua: Umbrüche als Chance
Christine Seuss - Vatikanstadt
Die Proteste der Bevölkerung entzündeten sich zunächst an Sozialreformen des sandinistischen Präsidenten Daniel Ortega, doch die brutale Niederschlagung der zunächst friedlichen Demonstrationen war für die Menschen „unbegreiflich“ und der Auslöser für immer gewaltigere Massendemonstrationen in dem Land, das seit Jahren deutlich in eine Diktatur schlittert, so die Adveniat-Referentin für Mittelamerika.
„Dass das in dieser gewalttätigen Antwort der Regierung mündet, damit hat keiner gerechnet. Aber generell wird sehr oft betont, dass es ganz neue Bilder sind, in Managua, in Nicaragua wieder Protestzüge zu sehen, die auch größtenteils friedlich sind. Das hat es jahrelang nicht gegeben. Wenn sich kleine Protestbewegungen auf der Straße formierten, dann wurden die ganz schnell niedergeknüppelt.“
Die Menschen und vor allem die Jugend seien durch die jüngsten Ereignisse „aus ihrem Schlaf erwacht“, bringt Klissenbauer die Situation auf den Punkt. Dieses werde weithin auch als große Chance angesehen, denn Dinge, die der Bevölkerung auf den Magen schlugen, habe es in den vergangenen Jahren genug gegeben, erläutert sie uns.
„Ortega hat auch die Verfassung ändern lassen, so dass er sich praktisch immer wieder wählen lassen kann, er hat seine Frau zur Vizepräsidentin wählen lassen –die Wahlen waren nicht sauber, er hat bei den letzten drei Wahlen keine internationale unabhängige Wahlbeobachtung zugelassen und vor allem hat die Bevölkerung dieses Projekt des Kanalbaus in Nicaragua nicht akzeptiert. Da gingen jahrelang vor allem Bauern und Indigene auf die Straße, um dieses Projekt zu verhindern, das hinter verschlossenen Türen mit einem chinesischen Unternehmer verhandelt wurde… Es gibt eben viele Dinge, die hinter verschlossenen Türen passieren und das ganze Land betreffen, wie beispielsweise auch kurz vor den anfänglichen Protesten, als ein großes Naturreservat wochenlang brannte, ohne dass die Regierung sich darum gekümmert hat oder auch ausländische Hilfe zur Brandlöschung akzeptiert hätte. Viele Sachen, die der Bevölkerung auf der Brust lagen und vor allem die Jugend empört haben.“
Drei Wahlen hätten Ortega, der für eine praktisch unbegrenzte Präsidentschaft auch die Verfassung geändert hatte, seit 2005 als Präsident bestätigt, doch die Bischöfe hätten immer wieder darauf hingewiesen, dass die Demokratie im Land ausgehölt und eine Familiendiktatur eingerichtet werde, betont Klisselmann.
„Die Bischöfe haben sich immer sehr distanziert dazu geäußert beziehungsweise auch angeprangert, dass es zu einem zunehmenden Verlust der Freiheitsrechte, des Rechtes auf Demonstration, des Rechts auf Meinungsäußerung kommt… Und so hat die Bischofskonferenz auch mehrfach zu einem Dialog mit der Regierung aufgefordert, dem die Regierung aber praktisch nicht bzw. nur einmal nachgekommen ist – es gab keine darauffolgenden Treffen.“
Ein Dialog also, der nie richtig ins Rollen gekommen war und durch die Bischöfe inzwischen abgebrochen worden ist. Denn die Regierung wies auch durch internationale Beobachter dokumentierte Anschuldigungen darüber zurück, dass die Toten der Proteste vor allem auf ihr Konto gingen – und trotz laufender Verhandlungen kam es zu erneuter Gewalt.
„Am Anfang standen die Forderungen der Kirche und der Protestierenden, dass die Sozialreformen zurückgenommen werden müssten. Das hat die Regierung dann auch ziemlich bald getan. In der Zwischenzeit gab es schon viele Tote und man muss sagen, dass es dieses Ausmaß an Morden, Erschießungen und Gewalt in Nicaragua lange nicht gegeben hat. Es handelt sich ja um eine erschreckend hohe Zahl in weniger als zwei Monaten. Das haben die Menschen überhaupt nicht fassen können, dass die Regierung wirklich scharf schießen würde. Die ersten kleinen und friedlichen Demonstrationen, als die Sozialreform bekannt wurde, wurden mit Schlägertrupps niedergeknüppelt, dann kamen Gummigeschosse und das steigerte sich immer mehr, so dass es für viele Menschen unbegreiflich war, dass es zu dieser Massivität von Tötungen, Folterungen und von unbeschreiblichen Gräueltaten kam.“
Zwar werde in Nicaragua immer wieder betont, dass man keine gewaltsamen Auseinandersetzungen mehr möchte, doch das Verhalten der Regierung sei in diesem Zusammenhang nicht kohärent, betont Klissenbauer. Denn aus Kreisen der Regierung kämen immer wieder versöhnliche Signale, so erst am Dienstag die Aufforderung der Vizepräsidentin, wieder an den Verhandlungstisch zurück zu kehren, doch andererseits leugne sie die Existenz von paramilitärischen Truppen mit Verweis auf Einflussnahme von ausländischen Staaten vehement – auch das eine Konstante in vielen Konfliktherden Lateinamerikas. „Eigentlich setzen alle Seiten auf Verhandlungen, auch die Kirche hat ja gesagt, sie nimmt den Verhandlungsprozess wieder auf, aber die Grundbedingungen wie absolute Gewaltlosigkeit müssen erfüllt sein. Das ist in diesem Moment wohl die Chance, wenn überhaupt.“
Sowohl Papst Franziskus als auch die Bischöfe des Landes haben mehrfach unterstrichen, wie sehr der nationale Dialog in Nicaragua ihnen am Herzen liegt. Auch die Internationale Gemeinschaft, allen voran die Organisation Amerikanischer Staaten OAS, hat die Vorgehensweise des nicaraguanischen Präsidenten deutlich kritisiert. Es bleibe nun abzuwarten, inwieweit der Druck, der von innen und außen auf die Regierung aufgebaut wird, zu einer Lösung aus der verfahrenen Situation führen wird, meint Inés Klissenbauer vom Lateinamerika-Hilfswerk der deutschen Bischöfe Adveniat.
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