Chiara Lubich: 10. Todesjahr
Sonntag, 29. Juli 2018
Eine Sendung von Aldo Parmeggiani
Chiara Lubich wird als zweites von vier Kindern der Eheleute Luigia und Luigi Lubich geboren. Schon früh fühlt sie sich der Nachfolge Jesu berufen, findet aber in keinem der klassischen Wege ein Zuhause. Im Rahmen der franziskanischen Laienorganisation beginnt die junge Volksschullehrerin mit einigen Freundinnen, ihr Leben ganz am Evangelium auszurichten. Diese jungen Frauen sind vor allem von jenen Sätzen fasziniert, die von der Liebe handeln; von der Liebe zum Nächsten, von der Feindesliebe und von der gegenseitigen Liebe, die sogar bereit ist, für den anderen auch das Leben zu geben.
Große Worte! Aber was die jungen Frauen im Evangelium lesen, versuchen sie sofort in die Tat umzusetzen. Im kriegsgeschädigten Trier entsteht ein Netzwerk von privaten Hilfeleistungen. Die Wärme und das Feuer, das von der Gruppe ausgehen, bringen ihr im Volksmund den Namen „Fokolare“; das heißt „Feuerstelle“ ein. Vergessen wir nicht: Vor dem dramatischen Hintergrund des Zweiten Weltkrieges bekommen die Worte des Evangeliums eine neue Bedeutung. Während alles zusammenbricht, erscheint den jungen Frauen Gott, der die Liebe ist, als einziges Lebensideal, das Bestand hat.
Das Gebet Jesu „Alle sollen eins sein" wird zur zentralen Richtschnur ihres Handelns; nämlich überall dort zur Einheit beizutragen, wo es Spaltungen gibt. Eine auf Gemeinschaft ausgerichtete Spiritualität. die den Geist des Zweiten Vatikanums gewissermaßen vorwegnimmt. Die Spiritualität der Einheit. Es entsteht eine geistliche Erneuerungsbewegung, die in gut 50 Jahren mehr als zwei Millionen Menschen aller Altersstufen, Rassen von jeder kulturelle Herkunft erfasst. In 196 Ländern gehören neben Katholiken auch Christen aus 300 weiteren Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften zur Fokolarbewegung; außerdem Gläubige anderer Religionen und Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen. Das Herz der Fokolarbewegung befindet sich in Rocca di Papa; keine 30 Kilometer von Rom entfernt in den so genannten Castelli Romani.
„Auf dem Weg zu einer Spiritualität der Einheit“ - so könnte man auch den Lebensweg von Chiara Lubich bezeichnen. Sie selbst fasst diesen Weg in zehn Schwerpunkten zusammen. Hören wir sie uns aufmerksam an.
„1943 wütete der Zweite Weltkrieg. Bomben, Trümmer, Tote. Auch in Trient, in Norditalien, der Heimat einiger jungen Frauen, deren Geschichte ich jetzt erzählen möchte. Auch ihre kleinen oder großen Träume wurden durch den Krieg zunichte, wie zum Beispiel der Plan, eine Familie zu gründen sich ein schönes Haus einzurichten, das Studium fortzusetzen. Denn der Verlobte kehrte nicht mehr von der Front zurück. Das Haus wurde zerstört und der Besuch der Universität war nicht mehr möglich. Fast gleichzeitig jedoch stieg eine Frage in mir auf: „Gibt es einen Sinn im Leben? Einen Traum, der nicht vergeht? Ein Ideal, dem wir uns mit Haut und Haar verschreiben könnten und das keine Bombe zerstören kann?“ Die Antwort war klar: „Ja, das gibt es. Es ist Gott.”
Unersättlich an Gott glauben, ihn als Lebensideal wählen, das ist der erste Schwerpunkt der Einheit - für jeden, der sie sich zu eigen machen möchte.
Sie, Chiara und ihre jungen Freundinnen, hatten ihn also gefunden, für den sie leben wollten: Gott, der Liebe ist. Aber wie sollte ihre Haltung sein? Wie konnten sie diesem neuen Ideal entsprechend leben? Sofort war klar: Sie mussten diese Liebe erwidern. Aber wie? Diese Frage führte zum zweiten Schwerpunkt der Spiritualität der Einheit:
„Wir wussten, dass Jesus gesagt hatte: 'Nicht jeder, der zu mir sagt, Herr, Herr, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt.’
Also, den Willen Gottes tun. Das war der Weg, Gott zu lieben. Doch wer konnte uns den Willen Gottes aufzeigen? Wir suchten seinen Willen vor allem in seinem Wort zu erkennen. Wir schlugen das Neue Testament auf und die Worte, die wir so gut kannten, erhellten sich; sie erschienen uns neu - wohl aufgrund des vom Heiligen Geist geschenkten Charismas. Es war, als würde Licht hinter ihnen aufgeblendet. Sie erschienen uns plötzlich einzigartig und für alle geschrieben, universal und für jede Zeit geeignet; hochaktuell also!“
Bald wurde der kleinen Gruppe klar, dass das Evangelium hält, was es verspricht: „Bittet, dann wird Euch gegeben werden.“ Sie baten und erhielten tatsächlich, mitten im Krieg, die unglaublichsten Dinge: Decken, Äpfel, Medikamente. Sie gaben und erhielten jedes Mal das Doppelte dafür. Diese Episoden weckten Staunen und Begeisterung und viele folgten ihrem Beispiel.
„Ein Wort des Evangeliums nach dem anderen in Leben umsetzen, um so ständig das eigene Denken, Wollen und Lieben am Evangelium auszurichten und einander zur gegenseitigen Hilfe an den Erfahrungen mit dem erlebten Wort teilhaben lassen. Das ist der dritte Schwerpunkt der Spiritualität der Einheit.“
Und wie lautet der vierte Schwerpunkt?
„Alle Worte des Evangeliums waren uns kostbar, doch der Heilige Geist lenkte unser Augenmerk besonders auf jene, die die Nächstenliebe betreffen; eine immer neue Liebe, die konkret sein muss und in jedem Nächsten Jesus erkennt. Die Verwirklichung einer solchen Liebe, wie sie das Evangelium fordert, ist der vierte grundlegende Punkt der ökumenischen Spiritualität der Einheit.“
Die gegenseitige Liebe unter Christen; sogar bis zur Hingabe des eigenen Lebens: Das bezeichnet Chiara Lubich als den fünften Schwerpunkt. Wer die Spiritualität der Einheit leben will, kann nicht von ihm absehen.
„Bald entdeckten wir im Evangelium jenes Gebot, das Jesus ‘Seines’ nennt: Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.' Tief beeindruckt von der Schönheit, vom Anspruch und von der Radikalität dieser Worte sahen wir einander an und erklärten, ganz bestimmt aufgrund einer besonderen Gnade: 'Ich bin bereit, das Leben für Dich zu geben.' 'Und ich für dich.'”
Durch diese gegenseitige Liebesbezeugung erfuhr das Innenleben der Gruppe um Chiara Lubich sozusagen einen Qualitätssprung. Sie spürten eine neue Sicherheit, eine stärkere Willenskraft, Freude und Freunde wie nie zuvor. Wieso? Das wurde ihnen sofort klar, als sie das Wort Jesu lasen: “Wo zwei oder drei in meinem Leben versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.”
„Stillschweigend war Jesus als unsichtbarer Bruder zu unserer Gruppe gestoßen. Mit ihm war die Quelle der Liebe und des Lichts in unserer Mitte. Wir ahnten den ungeheuren Wert dieser Präsenz und wollten sie nie mehr verlieren.”
Jesus, der unter den Seinigen präsent ist, das wäre der sechste Schwerpunkt der Spiritualität der Einheit.
Eines Tags befanden sich Chiara und ihre Leute wieder im dunklen Luftschutzkeller. Sie nahmen das Evangelium zur Hand, schlugen es auf und stießen auf die Stelle: „Vater, alle sollen eins sein.” Es ist das Gebet Jesu vor seinem Tod. Schwierige und starke Worte.
„Ja, wir kamen zur Überzeugung, dass wir für diese Stelle, die zur Magna Charta der Fokolarini wurde, geboren waren. Wir sollten beitragen zur Einheit der Menschen mit Gott und untereinander und so mithelfen, dass sich der Plan Gottes mit der Menschheit erfüllt. Die Einheit ist der siebte Schwerpunkt unserer Spiritualität; einer der beiden typischen. Der andere ist der gekreuzigte und verlassene Jesus, auf den ich noch zu sprechen kommen werde.“
In der Folge wurde die Gruppe von Chiara Lubich von einem weiteren Wort des Evangelium getroffen: „Wer Euch hört, der hört mich.“ Das bedeutete für sie, auf ihren Bischof zu hören. Sie setzen es sofort in die Praxis um und stellten sich dem Bischof von Trient, Carlo di Ferrari, vor. Dieser erteilte ihnen seine Approbation.
„Diese erste Anerkennung von Seiten der kirchlichen Autorität hatte eine doppelte Wirkung auf uns: Zunächst war sie die Gewähr, dass das Licht, dem wir folgten, authentisches Christentum war. Zum anderen beschleunigte sie unseren Lauf. Später erfolgte dann die Anerkennung von Seiten Roms durch die verschiedenen Päpste. Die aufrichtige, tiefe Einheit mit der kirchlichen Autorität, die Christus vertritt, ist der achte Schwerpunkt unserer Spiritualität.”
Chiara Lubich kommt jetzt zum neunten Schwerpunkt der Spiritualität der Gemeinschaft. Es ist zusammen mit der Einheit zugleich er Bedeutendste: Das Evangelium lässt die Liebe in Fülle erfahren, doch es verlangt auch alles. Wie heißt es da? „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein. Wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht.“ Die Verkörperung dieses Wortes ist der gekreuzigte Jesus. Und die Frucht - die Erlösung der Menschheit.
„Zum Abschluss dieses kurzen Überblicks über die Grundzüge der Spiritualität unserer Bewegung noch etwas darüber, was Maria für uns ist: Sie, die Mutter Gottes, wie sie vom Konzil von Ephesus proklamiert wurde; sie, die erste Christin sehen wir als Modell, als Leitbild des Christen. Sie ist wahrhaftig ganz vom Wort Gottes bekleidet. Wir könne sie nachleben, indem wir uns an ihre Worte halten: 'Was er Euch sagt, das tut.' Dies also ist die Spiritualität der Einheit mit ihren zehn Hauptschwerpunkten. Gott, der Liebe ist, zum Lebensideal wählen, seinen Willen tun, die Worte des Evangeliums leben, besonders die Liebe hervorheben, das neue Gebot Jesu verwirklichen, die Voraussetzung für die Gegenwart Jesu in unserer Mitte schaffen, die Einheit unter uns leben, die Einheit mit den kirchlichen Verantwortlichen bewahren, nach dem Vorbild des gekreuzigten und verlassenen Jesus leben, den Heiligen Geist lieben und wie Maria leben.”
(vatican news)
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