Pater Hans Zollner SJ Pater Hans Zollner SJ 

Missbrauch: „Kirche muss sich diesem Thema stellen“

Die Studie zu Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche Deutschlands, die am Dienstag in Fulda veröffentlicht wurde, hat viele Menschen aufgewühlt. Auch den deutschen Jesuiten Hans Zollner, der in Rom arbeitet, lässt das Thema Missbrauch nicht los.

„Weil es nichts Kostbareres gibt als das Leben von jungen Menschen und weil uns unser Herrgott aufgetragen hat, wie wir im Evangelium lesen können, dass wir alles tun müssen, damit diese Kinder behütet, beschützt aufwachsen können. Er sagt ja selber: Lasst die Kinder zu mir kommen.“

Pater Zollner ist akademischer Vizerektor an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Zugleich leitet er das Psychologie-Institut der Gregoriana und das Zentrum für Kinderschutz. Und er gehört zur päpstlichen Kinderschutz-Kommission. Die Kirche muss, so sagte der 51-Jährige Mitte des Monats bei einem Deutschlandbesuch, „alles in ihrer Macht Stehende tun“, damit Kinder in ihrem Zuständigkeitsbereich geschützt sind.

„Kirchenleitung hat nicht in den Spiegel geschaut“

Warum hat sie sich denn dann so lange schwergetan mit der Prävention von Missbrauch? „Gut, schwergetan hat sie sich vor allem im Bereich Aufarbeitung und Aufklärung. Die Prävention ist tatsächlich jetzt keine Priorität gewesen, aber sie war immer auch schon da. Nicht so effizient und nicht so flächendeckend, wie sie jetzt da ist.“

Zum Nachhören

Nein, das eigentliche Problem ist für Zollner ein anderes: „Vor allem hat die Kirchenleitung in manchen Bereichen und in einigen Ländern davor zurückgeschreckt, in den Spiegel zu schauen. In den Spiegel, der vorgehalten wurde durch die Opfer von Missbrauch durch Priester, Diakone und kirchliche Angestellte, weil wir als Christen und dann noch dazu als diejenigen, die Verantwortung tragen für und in der Kirche, natürlich uns schwertun, wenn wir erkennen müssen, dass es unter uns Menschen gibt, die nicht das tun, was sie versprechen, sondern das Gegenteil. Nicht Kinder schützen, nicht die Armen wirklich mit der Sorge, die sie brauchen, umsorgen, sondern die Leben zerstört haben, die auch die Beziehung zu Gott in Kindern und Jugendlichen zerstört haben.“

„Nichts Menschliches, das nicht auch in der Kirche vorkäme“

Das Thema Missbrauch hat spätestens mit den Vorwürfen des früheren Nuntius Viganò gegen den Papst auch die Kirchenspitze erreicht. Mehrere Kardinäle stehen im Zwielicht.

„Mich überrascht das nicht. In dem Sinne, dass ich sowohl von meiner eigenen Erfahrung als auch von meiner Ausbildung als Psychologe und Psychotherapeut her glaube, dass es nichts Menschliches gibt, das auch in der Kirche nicht vorkäme. Und wenn wir in die Kirchengeschichte schauen, wissen wir, dass auch sehr hochstehende Menschen in der Kirche immer auch in der Gefahr waren, eben auch Schlimmes zu tun. Und das ist heute nicht anders.“ Allerdings: Auch im Fall von Kardinälen, die sich wegen Vertuschung von Missbrauchsfällen oder gar als Täter vor Gericht verantworten müssen, darf es keine Vorab-Verurteilung geben. „Also, auch hier gilt die Unschuldsvermutung, und wir müssen erst einmal warten, was das Gericht dann feststellen wird. Wenn sie bestraft werden, wird das sicherlich auch kirchenrechtliche Konsequenzen haben.“

Das Entscheidende: Den Betroffenen zuhören

Wie kann man Menschen helfen, die als Kinder oder Jugendliche Gewalt und Übergriffe erlebt haben? Für Pater Zollner ist die Antwort klar: Zuhören. Das sagten ihm Betroffene aus den verschiedensten Ländern und Kulturkreisen. Zuhören und die Betroffenen ernstnehmen.

„Also, das ist bei Weitem für die allermeisten Opfer von Missbrauch das Entscheidende, dass ihnen ein Vertreter der Kirche entweder selber zuhört oder, wenn sie das nicht wollen, weil manche auch keine kirchlichen Leute mehr sehen können, eine Mittelsperson dann zuhört und dass ihnen geglaubt wird. Viele Betroffene vom Missbrauch wollen tatsächlich einem Bischof, einem Provinzial, dem Leiter einer katholischen Schule dort, wo sie missbraucht worden sind, begegnen, wollen ihm erzählen, was geschehen ist, und wollen, dass ihnen tief und emphatisch zugehört wird – ohne Zeitlimit, ohne Verteidigungsmechanismen oder ohne gerichtliche oder anwaltschaftliche Bedingungen.“

Zweimal verwundet, zweimal bestraft

Das sei den „allermeisten Betroffenen“ viel wichtiger als Geld oder therapeutische Maßnahmen. Einem „Kirchenverantwortlichen oder –repräsentanten“ gegenüber endlich einmal alle Wut, alle Trauer, alle Bitterkeit herauslassen. „Wenn unsere Kirchenverantwortlichen das über die Jahrzehnte stärker begriffen hätten, wäre es nicht zu den sehr vielen schlimmen Situationen für die Betroffenen gekommen, die sich ja zweimal ausgegrenzt fühlen und zweimal bestraft und zweimal verwundet. Einmal durch den Missbrauch selbst, aber dann auch, wenn ihnen nicht das Gehör geschenkt wird. Und wenn sie sich dann ihre Gerechtigkeit erstreiten müssen und wenn sie die Türen einrennen müssen, weil sie sich nicht von selber öffnen, einfach weil ihnen nicht zugehört wird…“

Müsste die Kirche in vielen Ländern, darunter auch Deutschland, jetzt nicht versuchen, die dunklen Vorkommnisse der Vergangenheit lückenlos aufzuarbeiten? Naja, sagt Zollner: „Ich bin, ehrlich gesagt, nicht der Meinung, dass wir das jemals lückenlos aufklären könnten. Dazu gibt es leider menschliche Grenzen. Zum Beispiel wurden vor 30 bis 40 Jahren keine Akten angelegt, jedenfalls nicht so, wie sie heute angelegt werden. Da kann man bestimmte Fälle, bestimmte Vorgänge nicht mehr nachverfolgen aus einer streng rechtlichen Perspektive.“ Die deutsche Missbrauchsstudie, die n a c h diesem Gespräch mit Pater Zollner veröffentlicht wurde, hat das mit den Akten jetzt bestätigt.

Kirche wird nicht mehr alles aufklären und aufarbeiten können

„Ich glaube, dass es auch schwierig sein wird, dass Menschen, die vor 30 bis 40 Jahren missbraucht wurden, jene Gerechtigkeit finden, sozusagen jene Aufarbeitung auch ihres Leides, dass sie fühlen mussten über 30 bis 40 Jahre, ohne darüber sprechen zu können, ohne angehört zu werden, ohne auch einen inneren Frieden einigermaßen mit sich selber und mit der Situation zu finden. Ich glaube, dass wir da menschlich gesehen an Grenzen kommen.“

Die Kirche komme wohl nicht drumherum, sich einzugestehen, dass sie nicht alles werde aufklären und aufarbeiten können. „Es wird so nicht gehen. Aber wir müssen es wenigstens dann anerkennen, was nicht mehr möglich sein wird. Und wir müssen vor allem jenen, die mit diesen Verwundungen leben und ein ganzes Leben zugebracht haben, die Möglichkeit geben, dass sie in unseren Pfarreien, in unseren Institutionen, in unseren Diözesen, in unseren Ordensgemeinschaften einen Raum bekommen, in dem sie das aussprechen können. Und ich kenne Betroffenen vom Missbrauch, denen es ein großes Anliegen ist, dass sie das mitteilen und dass sie ihre menschliche und ihre geistliche Erfahrung im Umgang mit dem Leid, das ihnen widerfahren ist, mitteilen können.“

„Ich kenne Betroffene, die uns eine tiefe Botschaft mitteilen können“

Das ist aus der Sicht des Jesuiten etwas, „das wir als Kirche noch bei Weitem nicht begriffen haben“. „Sowohl die Tiefe des spirituellen Traumas, das Menschen erleiden, die sexuell oder körperlich missbraucht oder misshandelt wurden, aber auch manchmal einen Heilungsweg für sich machen konnten, entdecken konnten, auf ihn geführt wurden auch mit Hilfe von Therapeutinnen oder Therapeuten oder anderen Freunden und Begleitern, der wirklich exemplarisch ist. Ich kenne einige Betroffene von Missbrauch, die auch uns, die wir sozusagen in unseren kirchlichen Ämtern sind, etwas sehr Wichtiges mitteilen könnten, eine tiefe Botschaft mitteilen können und auch wollen.“

Ab und zu begegneten ihm solche Menschen, erzählt Pater Zollner. Und nur wenn sich die Kirche diesen Leidens- und Lebensgeschichten stelle, könnten auch „Mechanismen wie Reue, wie Buße, wie Schuldbekenntnis, wie Sühne einen Sinn haben“. „Und dann kann neues Leben entstehen für die Betroffenen. Und auch dort, wo dieses Leid geschehen ist, auch drumherum in den Familien, in den Schulen, in den Kommunitäten, in den Pfarreien – überall dort, wo dann der Geist Jesu Christi wirken kann, wenn er die Versöhnungsmacht, die Kreuzesmacht Jesu dort lebendig machen kann.“

„Das Thema Missbrauch wird uns noch viele Jahre beschäftigen“

War nicht früher irgendwie alles besser, als die Welt und die Kirche noch heil waren und Themen wie sexueller Missbrauch noch nicht einen so dunklen Schatten über die Kirche geworfen haben? Nein, so darf man nicht denken, findet Pater Zollner. Es gibt für ihn kein Zurück mehr in eine vermeintlich unbefleckte Kirche. „Die Kirche muss sich diesem Thema stellen. Sie kann es nicht mehr vermeiden. Sie sollte es aktiv angehen! Das geschieht mehr und mehr in einigen Ländern, auch in Afrika, in Asien oder in Lateinamerika – wo man nicht wartet, bis der große Skandal ausbricht, sondern wo man sich schon jetzt sowohl um die Opfer als auch um die Prävention kümmert.“

Das sei ausgesprochen wichtig: dass die einzelnen Ortskirchen das Thema Missbrauch von sich aus aktiv angehen. „Überall, wo dies geschieht, ist es auch möglich, dass den Opfern schon vorher Hilfe zugewandt wird und alles getan wird, damit unsere Schulen, unsere Einrichtungen so sicher sind wie möglich. Da gibt es keine Alternative. Die Päpste Benedikt XVI. und Franziskus haben das auf die Tagesordnung der Kirche gesetzt, und es wird dort bleiben. Und es wird uns noch viele Jahre beschäftigen – im Guten, aber auch im Schlechten.“

„Wir haben es nicht in der Hand“

Er sei „nicht so naiv, zu denken, dass das heute oder morgen oder übermorgen alles vorbei wäre mit Vertuschen“ oder mit Missbrauchsfällen – ob alten oder auch neuen, heutigen Fällen. „Wir haben das nicht in der Hand. Unter anderem auch mit Blick darauf, was die neuen Möglichkeiten von online-Missbrauch angeht, also von internetgestützten sozialen Medien und anderen Instrumenten, die den Missbrauch heute auf eine andere Art und Weise möglich machen, leider...“

(Quelle: Dieter Waldraff, Kommunikationsreferat des Erzbistums Freiburg im Breisgau – sk)
 

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27. September 2018, 09:15