CARE zu Jemen-Krieg: Jeder Tag ohne Waffenstillstand ist ein Tag zu viel
Christine Seuss - Vatikanstadt
Bereits seit Jahren ist aufgrund des Krieges die Situation im Jemen katastrophal, doch mittlerweile sind 14 Millionen Menschen durch Hunger und Mangelernährung bedroht, ganz zu schweigen von den unaufhörlichen Kämpfen, die zahlreiche Opfer unter der Zivilbevölkerung fordern. Eine Situation, in der jeder Tag ohne Waffenstillstand ein Tag zu viel ist, meint im Gespräch mit Vatican News Karl-Otto Zentel, der Generalsekretär des humanitären Hilfswerkes Care. Er ist gerade von einer Reise in den Jemen zurückgekehrt. Wir haben ihn gefragt, was er von dem politischen Vorstoß der Vereinigten Staaten hält.
Karl-Otto Zentel: „Ich finde, das ist eine ausgesprochen erfreuliche Entwicklung, die eigentlich schon viel früher hätte erfolgen sollen. Mich wundert der lange Zeitraum, der gegeben wird, denn die Situation im Jemen erlaubt eigentlich keine 30 Tage Zeit mehr, und, was in diesen Forderungen fehlt - zumindest, soweit ich es aus den Medien entnehmen kann – die Vorgabe für freien und ungehinderten humanitären Zugang, die Lieferung von humanitären Hilfsgütern, die Öffnung der Häfen auch für konventionelle Güter wie Grundnahrungsmittel, die die Menschen dringend zum Überleben brauchen. Das muss dringend miteinander verknüpft werden, dann passt das Ganze zusammen.“
Vatican News: Sie waren ja kürzlich selbst im Jemen und haben die humanitäre Notlage mit eigenen Augen gesehen. Können Sie uns kurz beschreiben, was für eine Situation Sie vorgefunden haben?
Karl-Otto Zentel: „Das Land ist deutlich gekennzeichnet durch die drei Jahre Bürgerkrieg. Sie sehen in den Städten, wie die Infrastruktur zusammenbricht, der Müll sich auf den Straßen häuft, die Abwassersysteme nicht mehr funktionieren und die Abwässer an die Oberfläche gedrückt werden, sie sehen Menschen, die auf diesen wilden Müllkippen nach Nahrung suchen und sie sehen zunehmend Flüchtlinge, die durch die Kämpfe um und bei Houdeida [eine wichtige Hafenstadt im Jemen, Anm.] vertrieben worden sind, über das Land verstreut unter den primitivsten und ärmlichsten Bedingungen leben müssen und in unterschiedlichen Stadteilen Unterschlupf suchen.
Ich habe einen Stadtteil in Aden besucht, da lebten bereits in dem Haus zwei Familien und in einem kleinen Innenhof waren weitere zwei Familien, die sich da mit einer Decke einen Teil abgetrennt haben. Diese vier Familien, jede mit vier, fünf Kindern, teilen sich dann eine Latrine, die damit natürlich völlig überfordert ist und die größte Sorge der Mütter war, dass sie nur eine einfache Stoffplane hatten, um damit sozusagen als Decke den Innenhof abzuspannen. Sie hatte vor allem deshalb große Sorgen, weil nachts immer wieder Schießereien in der Gegend sind und herunterfallende Kugeln ihre Kinder verletzten könnten, da die Plane da natürlich keinen Schutz bietet.“
Vatican News: Diese Situation, die Sie da beschreiben, ist natürlich furchtbar, aber sie hat sich ja auch über Jahre so entwickelt und ist bereits seit geraumer Zeit auf einem schlimmen Niveau. Wie kommt es, dass ausgerechnet jetzt die USA diesen Waffenstillstand fordern und die Rückkehr an den Verhandlungstisch?
„Das können wir nur mutmaßen. Es ist ja in letzter Zeit mehr und mehr Aufmerksamkeit auf das Verhalten von Saudi-Arabien gelegt worden, das hat vielleicht Nachdenken ausgelöst. Eigentlich wäre es wichtig gewesen, dass der Jemen und die Situation dort schon viel früher zu einer internationalen politischen Reaktion geführt hätten. So sehr ich mich freue, dass nun eine solche Forderung kommt, umso mehr bedauere ich es, dass es erst jetzt kommt und dass es anscheinend aktuelle Ereignisse benötigt hat, um das auszulösen und dass die Menschen so lange alleine gelassen wurden von der internationalen Gemeinschaft.“
Vatican News: Was muss denn jetzt konkret passieren, damit sich die hehre Absicht von Verhandlungen in eine Situation von Frieden überträgt?
Karl-Otto Zentel: „Der konkrete Frieden ist glaube ich noch ein weiter Weg, den das Land vor sich hat. Wir haben inzwischen nach diesen drei Jahren mehr als nur zwei Konfliktparteien. Wir haben eine starke Fragmentierung des Landes, zum einen mit den Huthi-Rebellen, aber zum anderen auch mit der anerkannten Regierung und Splittergruppen, dann die internationale Koalition – und das ist ein weiter Weg. Was es jetzt sofort braucht, ist konkrete Hilfe für die Menschen dort. Das heißt, wie ich eingangs sagte, Zugang für humanitäre Hilfsgüter und umgehender Zugang zu den Menschen auch in den entlegensten Gebieten. Das muss von allen Parteien, die da beteiligt sind, akzeptiert und zugelassen werden und es braucht natürlich auch kommerzielle Lieferungen im großen Umfang, also die Häfen im Jemen müssen geöffnet werden und es darf nicht an langwierigen Genehmigungsverfahren scheitern, dass Hilfsgüter das Land erreichen, denn die werden jetzt dringend benötigt.“
Vatican News: Wir haben auch aus den Medien entnommen, dass der Jemen kurz vor der Ausrufung einer großen Hungersnot steht. Inwieweit müssen wir uns darauf einstellen, dass tatsächlich diese Hungersnot ausgerufen wird?
Karl-Otto Zentel: „Als ich im September im Jemen war, gab es konkrete Berichte aus einzelnen Distrikten, dass Menschen dort verhungern. Das heißt, sie sterben also nicht durch Krankheiten, sondern wirklich aufgrund von Mangelernährung. Auch das, was die internationale Gemeinschaft an Hilfslieferungen leisten konnte, war ja nur das Notwendigste. Damit kann man sich nicht gut ernähren, sondern das ist etwas, was die Menschen auch auf Dauer auszehrt. Was wir jetzt noch im Jemen sehen werden… Es wird hier von einer Hungersnot gesprochen, die 14 Millionen Menschen, also 50 Prozent der Bevölkerung des Landes betreffen würde. Voraussetzung für einen solchen Schritt ist ja, dass zwanzig Prozent der Familien nicht wissen, wo sie ihre nächste Mahlzeit hernehmen und dass aus 10.000 Menschen mehr als zwei am Tag verhungern. Das sind die Bedingungen, die vorliegen müssen, damit solch ein dramatischer Schritt vorgenommen wird. Sie können sich also vorstellen, wie entgleist die Situation ist. Wir werden auf jeden Fall Hungertote im Jemen haben, wir haben sie ja heute schon. Wie viele das sein werden, das wird ganz entscheidend davon abhängen, wie schnell es möglich sein wird, die Hilfe an diese Menschen zu bringen.“
Vatican News: Da bleibt nur nur hoffen, dass die Verhandlungen schnell zu greifbaren Ergebnissen führen werden...
Karl-Otto Zentel: „Die Forderungen der USA beziehen sich ja vor allem auf einen Waffenstillstand. Die Friedensgespräche stehen da erst einmal in weiter Ferne. Es ist also der erste wichtige sofortige Schritt, um Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Hilfe geleistet werden kann für die Menschen, die vom Hungertod betroffen sind. Wir müssen auch realisieren, es sterben bereits jeden Tag Menschen im Jemen, gerade Kinder, an Unterernährung an Hunger und jeder Tag, den das länger dauert, bis der Waffenstillstand in Kraft tritt und sich die Zugangswege öffnen in das Land, wird weitere Menschenleben kosten. Deshalb ist wirklich jeder Tag ein Tag zu viel.“
(vatican news)
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