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Ein Archiv-Foto: Jesiden fliehen im August 2014 vor dem vorrückenden Islamischen Staat in der Shingal-Region im Norden Iraks in Richtung Syrien Ein Archiv-Foto: Jesiden fliehen im August 2014 vor dem vorrückenden Islamischen Staat in der Shingal-Region im Norden Iraks in Richtung Syrien 

Jesidische IS-Opfer im Irak: „Für Versöhnung braucht es Gerechtigkeit“

Das Schicksal der Jesiden ist mittlerweile zum Synonym für die Brutalität geworden, mit der die IS-Terroristen während ihrer Schreckensherrschaft auf syrischem und irakischen Territorium gegen „Ungläubige“ vorgingen. Die deutsche Journalistin Düzen Tekkal kämpft seit langem für eine Anerkennung der Tatsache, dass an den Jesiden ein gezielter Völkermord begangen wurde.

Unvorstellbare Gräueltaten wurden durch den IS an jesidischen Männern, Frauen und Kindern begangen, Tausende Menschen werden nach wie vor vermisst, während ein Massengrab nach dem anderen langsam zum Vorschein kommt und eine der ältesten Glaubensgemeinschaften im Nahen Osten sich mit der fast vollständigen Vernichtung ihrer angestammten Lebens- und Glaubensorte konfrontiert sieht. Die deutsche Journalistin Düzen Tekkal kämpft seit langem für eine Anerkennung der Tatsache, dass an den Jesiden ein gezielter Völkermord begangen wurde. Erst vor Kurzem war sie wieder im Irak, um sich ein Bild von der aktuellen Lage zu machen. Wir haben sie um ein Gespräch gebeten.

Zum Nachhören

Vatican News: Sie sind gerade von einer Reise in den Irak zurückgekommen, haben vom Islamischen Staat verwüstete Dörfer gesehen und Überlebende getroffen. Können Sie uns erzählen, was Sie erlebt haben?

Tekkal: „Ich war schon viele Male im Irak, aber diesmal war es eigentlich am härtesten, und zwar weil das Ausmaß der Zerstörung des IS so immens war, dass es mich geschockt hat. Ich bin auf zehnjährige Jesiden getroffen, die ihr halbes Leben in IS-Gefangenschaft waren, fast fünf Jahre indoktriniert worden sind, die als Kindersoldaten eingesetzt worden sind, die dabei zusehen mussten, wie die Menschen, die sie lieben, umgebracht worden sind. Ich bin auf junge Mädchen getroffen, die vergewaltigt, missbraucht, auf den Sklavenmärkten verkauft worden sind. Das, was der IS dem jesidischen Volk angetan hat, wird jetzt erst richtig sichtbar.“

„Die Indoktrinierung hat teilweise leider auch funktioniert“

Vatican News: Warum sind denn die Jesiden so besonders betroffen von der Brutalität des Islamischen Staats?

Tekkal: „Die Jesiden sind in den Augen der Islamisten Teufelsanbeter. Sie werden als Ungläubige bezeichnet, die vom wahren Glauben abgefallen sind. Das ist auch das, was mir all die Gefangenen berichtet haben. Sie haben gesagt, dass eine regelrechte Obsession auf die Religion stattgefunden hat, dass ihnen eingeredet worden ist, dass sie Ungläubige sind, und zwar so lange, bis sie es irgendwann selber gedacht haben. Wir wissen von Fällen, wo Kinder sich gegen die eigenen Eltern aufgelehnt haben und gesagt haben: Ihr seid Ungläubige. Das heißt, die Indoktrinierung hat leider teilweise auch funktioniert.“

„Wie schaffen wir es, den nächsten Völkermord zu verhindern?“

Vatican News: In Syrien ist nun die letzte Enklave des IS eingenommen worden. Was bedeutet es, dass der IS territorial im Prinzip besiegt ist? Heißt das, dass damit auch der IS besiegt ist?

Tekkal: „Nur weil der IS vermeintlich militärisch besiegt ist, heißt das nicht, dass wir den IS besiegt haben, denn es geht um die Ideologie. Das ist auch die große Sorge vieler Jesiden, der Überlebenden und Angehörigen. Sie sagen: Wie schaffen wir es, den nächsten Völkermord zu verhindern? Die Angst ist berechtigt groß, denn es geht ja nicht nur um die IS-Kämpfer, sondern teilweise um ganze Dörfer, die sich dem IS angeschlossen haben, um Nachbarn, mit denen man aufgewachsen ist, mit denen man gegessen hat, mit denen man befreundet war, die sich dann an unseren Frauen vergangen haben, als der IS eingefallen ist und aus Nachbarn Feinde, Täter und Verbrecher gemacht hat.“

„Versöhnung kann erst stattfinden, wenn Gerechtigkeit besteht“

Vatican News: Was ist jetzt nötig für einen seelischen Wiederaufbau und Versöhnung?

Tekkal: „Versöhnung kann erst stattfinden, wenn Gerechtigkeit besteht. Das ist das, was mir alle Überlebenden berichten. Sie sagen: Wir sind nicht krank im Kopf, wir brauchen keine Tabletten. Wir wollen Gerechtigkeit. Wir wollen, dass die Täter vor den internationalen Strafgerichtshof gestellt werden. Es gibt ein sehr ausgeprägtes Gedankenkonstrukt darüber, was Gerechtigkeit bedeutet. Jeder dort vor Ort kennt das Wort „genocide“. Das ist letztlich das, worum es geht; dass die Täter für das, was sie getan haben, vom Internationalen Strafgerichtshof bestraft werden. Es geht um Weltgerichtsbarkeit und darum, die nächsten Völkermorde zu verhindern. Dafür brauchen diese Täter das richtige Strafmaß.“

„Haben IS-Täter eine zweite Chance verdient?“

Vatican News: Momentan ist in Deutschland die Debatte zum Thema Rückkehrer, also deutsche Staatsbürger, die sich in Syrien und im Irak dem IS angeschlossen haben, sehr heiß. Wie kann und muss der deutsche Staat hier Ihrer Meinung nach reagieren?

Tekkal: „Der deutsche Staat muss in aller Konsequenz reagieren, vor allem auch mit den nötigen Mitteln. Die Frage, die ich hier stellen will ist: Sind wir darauf vorbereitet? Wenn ich daran denke, wie beispielsweise die zentrale Stelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen ausgestattet ist, dann wird mir flau im Magen. Wir haben eine Generalbundesanwaltschaft, die intensiv darum bemüht ist und beeindruckende Arbeit leistet, aber wir müssen diese Kollegen besser ausstatten, mit Personal und entsprechenden finanziellen Mitteln, wenn wir dieser IS-Täter habhaft werden wollen. Wir brauchen eine europäische Antwort darauf, wie wir damit umgehen. Für diejenigen, die nach einer zweiten Chance für IS-Täter fragen, möchte ich eine Gegenfrage stellen: Wie würden Sie reagieren, wenn ihre sechs-,sieben-,achtjährigen Töchter vergewaltigt werden, vaginal, oral, anal? Ich weiß, das klingt drastisch, aber das ist leider die Lebenswirklichkeit vieler Jesidinnen gewesen.“

„Ein Leben für die Jesiden gegenwärtig im Irak ist unmöglich“

Vatican News: Ist unter diesen Umständen Versöhnung überhaupt möglich?

Tekkal: „Versöhnung ist erst dann möglich, wenn Gerechtigkeit für das jesidische Volk hergestellt wird und ein Weiterleben gewährleistet wird. Ein Leben für die Jesiden gegenwärtig im Irak ist unmöglich. [Die einstige jesidische Hauptsiedlung und –region im Norden des Irak, Anm.] Shingal ist besetzt von allen, nur nicht von den Jesiden. Sie haben noch nicht einmal die Möglichkeit, dort hineinzukommen. Es geht darum, dass wir an den Jesiden hoffentlich in Zukunft ein positives Exempel statuieren, wie wir mit Kriegsverbrechen umgehen, denn wir verhandeln in dieser Frage auch die europäischen Werte.“

Die kurdisch-stämmige Düzen Tekkal ist selbst Jesidin und Vorsitzende des von ihr gegründeten Vereins „Hawar – Help“. Sie setzt sich dafür ein, die gezielten Gräueltaten der IS-Schergen an ihrer Glaubensgemeinschaft bekannt zu machen und in der westlichen Welt ein Bewusstsein für die Situation der Jesiden und den an ihnen verübten Völkermord zu fördern. Das Gespräch führte Christine Seuss.

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27. März 2019, 15:29