Judenverfolgung in Italien: „Noch heute leiden Juden am damaligen Schweigen der Kirche“
Vatican News: „Ricordiamo insieme“ heißt „Erinnern wir uns gemeinsam“. An was erinnern wir uns in diesen Tagen?
Tobias Wallbrecher: Heute ist der 16. Oktober. An diesem Tag wurde vor 76 Jahren in ganz Rom eine „Razzia“ durchgeführt, eine Gefangennahme von 1259 Juden, die dann in ein Militärkolleg in der Nähe des Vatikans gebracht wurden. Dort wurden sie zwei Tage gefangen gehalten, davon waren ein Drittel Kinder unter 14 Jahren. Und am 18. Oktober wurden sie nach Auschwitz transportiert, wobei 1020 die Reise antreten mussten, die anderen kamen frei. Am 23. Oktober kamen sie in Auschwitz an und 800 davon wurden noch am selben Tag umgebracht im Gas. Die Größen der SS hatten sich feingemacht, um die „Juden des Papstes“ zu empfangen.
An diesem Tag, dem 23. Oktober, treffen wir uns seit 2017 auf dem Petersplatz und erinnern an diesen Moment. Dieses Jahr wird der Rektor des Germanikums, Pater Dartmann, zu diesem Thema sprechen. Außerdem spricht Nando Tagliacozzo, der seine Schwester, seine Großmutter und seinen Onkel an diesem 23. Oktober verloren hat. Und wir als Ricordiamo Insieme dürfen eröffnen und an den über 2.000-jährigen Antisemitismus und Antijudaismus der katholischen Kirche erinnern. Bevor wir 2017 auf den Petersplatz gegangen sind, haben wir die Veranstaltung vor zehn Jahren mit drei jüdischen Schwestern im kleinen Kreis begonnen. Schon seitdem ist es auch unser Anliegen, dass einmal ein Papst sich auf den Weg macht und in dieses Militärkolleg geht.
Die Veranstaltung am 23. Oktober umfasst die „Mille Passi“, also „tausend Schritte“. Was hat es damit auf sich?
Friederike Wallbrecher: „Mille Passi“ bedeutet die Bewegung vom symbolischen Herzen der katholischen Kirche – was für viele der Petersplatz ist und der zentrale Obelisk dort – zu diesem ehemaligen Militärkolleg. Und die Veranstaltung beginnt mit den „Mille Passi“, den tausend Schritten, die wir selber abgemessen haben. Es sind tatsächlich nur tausend Schritte. Und wenn man heute fragt: „Wo waren denn diese jüdischen Bürger gefangen diese zwei Tage lang?“, dann weiß das eigentlich niemand so genau. Die Leute denken: „Ach, irgendein Militärkolleg in Trastevere oder irgendwo vielleicht etwas außerhalb von Rom.“ Und uns lag am Herzen, darauf hinzuweisen, dass es eine sehr schmerzhafte Nähe ist zu diesem symbolischen Herzen der katholischen Kirche.
Und ein großer Teil der jüdischen Gemeinde leidet heute noch an dem Schweigen des Heiligen Vaters damals. Wir wissen, dass er sehr viel getan hat, sehr viele Personen versteckt hat, die Klostertüren geöffnet hat. Wir wissen aber auch, dass es 700 Konvente gab in Rom, von denen 300 die Türen aufgemacht haben, 400 aber nicht. Und da gibt es noch viel zu forschen: nicht Schuld zu verteilen, sondern Fragen zu stellen. Und unser Anliegen ist, die Wunde gemeinsam mit der jüdischen Gemeinde anzuschauen, gemeinsam mit ihnen zu trauern, gemeinsam mit ihnen Fragen zu stellen und nicht zu verurteilen oder zu beurteilen, sondern zusammen diesen Weg zu gehen.
Ihre Veranstaltung hat Aufmerksamkeit erregt. Auch bekannte Personen waren schon dabei…
Tobias Wallbrecher: Bei der ersten Versammlung auf dem Petersplatz vor zwei Jahren kam Kardinal Kasper hinzu. Seitdem kommt auch der Militärbischof Italiens, Erzbischof Santo Marcianò, dazu und macht diesen Marsch mit. Dieses Jahr kommt der deutsche Botschafter beim Heiligen Stuhl, Michael Koch, und die Vizebotschafterin der österreichischen Botschaft beim Quirinal und sie werden gemeinsam mit dem Bischof und einem Vertreter der jüdischen Gemeinde Kerzen entzünden, die aus Auschwitz gebracht wurden. Sie werden diese Kerzen in der Hand halten während sie diese eintausend Schritte gehen.
Sie haben schon angesprochen, dass Sie einen bestimmten Wunsch haben: Sie wollen, dass der Papst daran teilnimmt. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Friederike Wallbrecher: Wir denken, dass die Wunde dieser Verfolgung und dieses Mordes so groß ist, dass wir als Katholiken das Äußerste tun sollten, um diese Schmerzen zu lindern. In diesem Atem wäre das gedacht, dass der Heilige Vater, der Papst selbst, diesen Weg geht, diese Wunde anschaut. Darum denken wir, wären diese Schritte von Seiten eines Papstes für die jüdische Gemeinde, nicht nur in Rom, sondern weltweit, ein großes Zeichen.
Es stellt sich auch die Frage: Wie erinnert man richtig an solche Ereignisse? Muss man da den Finger nochmal in die Wunde legen oder was ist da der richtige Weg?
Tobias Wallbrecher: Als Arzt kann ich sagen, dass Wunden nicht heilen, wenn sie nicht ausgeschnitten werden und man das nicht in der Tiefe freilegt. Wenn da noch Eiter ist, heilt es nicht. Wir sind hier in Rom seit 23 Jahren und haben gemerkt, wieviel Eiter da noch ist, wieviel Seelenqual in der jüdischen Gemeinde noch vorhanden ist. Von daher ist es einerseits dringend nötig, dass man da noch Dinge freilegt, andererseits gibt es bei Wunden oft Ursachen, die nicht nur in der Wunde sind. Und so glauben wir, dass zur Heilung auch die Betrachtung der Schuld des Antisemitismus in der Kirche dazugehört. Und darum wollen wir an diesem Tag anregen, dass auf dem Petersplatz eine Gedenkstätte des Antisemitismus der katholischen Kirche erstellt werden möge. Bis dahin, dass eventuell vor jeder Kathedrale, in jeder Diözese, in jeder Pfarrei ein Ort des Gedenkens entstehen möge, ähnlich wie die Stolpersteine, die in ganz Europa entstanden sind.
Das Interview führte Tobias Gayer.
Die christlich-jüdische Erinnerungsveranstaltung beginnt am 23. Oktober um 15:30 Uhr beim Obelisken auf dem Petersplatz. Da schon so viele Anmeldungen vorliegen, können keine weiteren Personen in das Militärkolleg hinein, an den „Mille Passi“ kann sich jedoch jeder beteiligen. Weitere Informationen zum Programm und dem Verein gibt es auf der Webseite von Ricordiamo Insieme.
(vatican news)
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